Wiederkehr des Grauens

Kinder in Syrien wachsen als "Generation Trauma" auf: Viele kennen nichts anderes als den Bürgerkrieg. Es sei extrem schwierig, solche Erlebnisse zu verarbeiten, erzählt Psychologin Elise Bittenbinder im Gespräch mit Jeannette Cwienk.

Von Jeannette Cwienk

Frau Bittenbinder, rund drei Millionen Kinder in Syrien kennen nichts anderes als Krieg, Tod und Zerstörung. Was macht das mit ihnen?

Elise Bittenbinder: Alle Menschen haben schon einmal kleinere oder größere Traumata erlebt. Normalerweise verarbeiten wir diese Ängste, und dann werden sie nicht chronisch. Wir gehen zum normalen Leben zurück und integrieren dieses Erlebnis in unserer Vergangenheit. Kinder aus Kriegsgebieten haben großes Leid und große Verluste erlitten: Den Tod der Eltern oder der Freunde, aber auch den Verlust der Schule oder der Heimat, wenn sie fliehen mussten. Manche entwickeln dann bestimmte Traumata, als Symptome, die bleiben, wenn sie nicht behandelt werden. Beispiele sind Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Bettnässen. Oder eben auch das, was man auch als Flash-Backs bezeichnet, dass sie also nicht wissen, ob sie sich in der Gegenwart oder in der Vergangenheit befinden oder sie das gerade wieder erleben. Das ist eine krankhafte Angst, die auch bestehen bleibt, wenn das Erlebte schon lange zurückliegt.

Ein 11-jähriger Junge beschrieb das sehr gut. Er sagte, "ich bin ständig müde, ich muss ständig an bestimmte Bilder denken, die mir viel Angst machen. Deshalb kann ich mich in der Schule nicht konzentrieren. Dann habe ich Angst, dass meinen Eltern etwas passiert und mir tut alles weh. Ich kann auch nichts essen."

Haben denn kriegstraumatisierte Kinder überhaupt eine Chance auf ein normales Leben?

Elise Bittenbinder, Vorsitzende der "Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V." (BAfF); Quelle: BAfF
Elise Bittenbinder ist Vorsitzende der "Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V." (BAfF). Die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin arbeitet seit mehr als 25 Jahren mit schwer traumatisierten Menschen, Kriegsopfern und Kindersoldaten aus Krisengebieten.

Bittenbinder: Wenn wir mit traumatisierten Kindern oder Erwachsenen aus Kriegsgebieten über das Erlebte reden, dann sagen sie oft, dass sie die schlimmen Erlebnisse am liebsten vergessen würden und ein ganz normales Leben haben möchten. Und wenn wir dann sagen, dass das nicht geht, stimmen viele zu. Sie scheinen also zu wissen, dass die Ereignisse sie immer begleiten werden. Was aber gelingen kann, ist, dass andere Lebensinhalte wieder wichtig werden und in den Vordergrund rücken. Und dass die schlimmen Erlebnisse in den Hintergrund geraten und das Leben nicht mehr so sehr dominieren.

Wie kann das konkret gelingen?

Bittenbinder: Es kommt darauf an, was für Lebensmöglichkeiten und Chancen sich nach so einem traumatischen Ereignis ergeben. Wichtig ist, dass die Kinder Zuversicht, eine Lebensperspektive und Erlebnisse haben, bei denen sie sich als selbstbewusst und kreativ und eben nicht nur als verletzt erleben können. Das können Sporterlebnisse sein, eine Gemeinschaft, ein funktionierender Familienverband. Aber das kann bei manchen Kindern auch die Tatsache sein, dass sie verstehen, warum das Erlebte solche starken Auswirkungen auf sie hat und warum sie es nicht vergessen können.

Was geschieht, wenn die Kinder keine Hilfe erhalten?

Bittenbinder:  Wenn Kinder, die sehr starke traumatische Symptome haben, keine Hilfe erhalten, dann kann sich das chronifizieren. Wir wissen auch, dass das ein Leben lang anhalten und zum Teil sogar in die nächste Generation weitergegeben werden kann. Es gibt auch Hinweise darauf, dass, wenn Menschen das nicht irgendwie positiv verarbeiten können, aus der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit dann Aggression und Wut entsteht. Wenn man keine Möglichkeit hat, das auszudrücken, kann daraus letztendlich auch Gewalt resultieren.

Syrische "Weißhelme" bergen Kind aus den Trümmern von Aleppo; Foto: Getty Images/AFP
Die Folgen von Konflikten, Gewalt und Zerstörung: "Den Tod der Eltern oder der Freunde, aber auch den Verlust der Schule oder der Heimat, wenn sie fliehen mussten. Manche entwickeln dann bestimmte Traumata, als Symptome, die bleiben, wenn sie nicht behandelt werden", berichtet Elise Bittenbinder.

Eine Studie der Organisation "Save The Children" spricht von mehreren Millionen syrischer Kinder und Jugendlicher, die sich selbst verletzen oder zu Alkohol oder Drogen greifen, um den ständigen Stress des Krieges abzubauen. Was bedeutet denn diese enorme Zahl an traumatisierten Kindern für die Zukunft eines Landes?

Bittenbinder: Wenn wir überlegen, was in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist – zu jener Zeit waren ja auch sehr viele Menschen traumatisiert, Erwachsene und Kinder gleichermaßen. Was da geholfen hat, war das gemeinsame Gefühl: Wir bauen das Land jetzt wieder auf. Und der folgende wirtschaftliche Aufschwung hat dazu beigetragen, dass die Menschen sich auf Neues konzentrieren konnten. Ein gegenteiliges Beispiel ist Kosovo. Ein großes Problem ist, dass es dort im Augenblick keine Möglichkeiten für junge Menschen gibt, weil es dort wirtschaftlich nicht gut läuft.

Das heißt, Kriegstrauma und wirtschaftlicher Niedergang führen zusammen zu welchen Konsequenzen?

Bittenbinder: Das führt dann nicht nur zu persönlicher Perspektivlosigkeit. Also ich habe da etwas ganz Schreckliches erlebt, mit dem ich nicht umgehen kann und ich kann auch kein neues Leben aufbauen, weil einfach wirtschaftlich nichts existiert. Wenn es viele Menschen in solchen Situationen gibt, dann heißt das natürlich, dass das ein ganzes Land beeinflusst und sich eine allgemeine depressive Stimmung ausbreiten kann.

Das Gespräch führte Jeannette Cwienk.

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