Moderne und Religion

Kurz vor dem fünften Jahrestag des 11. September legt das Institut für Auslandsbeziehungen eine interkulturelle Studie zum Thema Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart vor. Mona Naggar stellt die Studie vor.

Kurz vor dem fünften Jahrestag des 11. September legt das Institut für Auslandsbeziehungen eine interkulturelle Studie zum Thema Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart vor. Sie soll als Grundlage für den Dialog zwischen Intellektuellen aus westlichen und islamisch geprägten Ländern dienen. Mona Naggar stellt die Studie vor.

Terror in Scharm el Scheich in 2005; Foto: dpa
Gewalttaten wie die Terrorattentate in der Touristenhochburg Scharm el Scheich, Ägypten, in 2005 nehmen weltweit zu

​​Die kritische Auseinandersetzung mit der Moderne und ihr Verhältnis zur Gewalt setzt der Politikwissenschaftler Jochen Hippler in den Mittelpunkt seines Dialogangebots an die islamisch geprägte Welt. Seit der Aufklärung gab es immer wieder die Hoffnung, dass Gesellschaften und Staaten ihre Konflikte mit einem Minimum an Gewalt lösen könnten.

Die westliche Welt hat tatsächlich in den letzten Jahrhunderten eine Verminderung innerstaatlicher Gewalt erlebt. Das hängt vor allem mit der Entwicklung staatlicher Ordnungen, funktionierender Justizsysteme und interner Mechanismen zur Gewaltregulierung zusammen.

​​Aber der Modernisierungsprozess hat auch Gewaltphänomene unvorstellbaren Ausmaßes hervorgebracht, wie den Kolonialismus, den Stalinismus oder den deutschen Faschismus. Auch nicht-westliche Gesellschaften erleben auf dem Weg der Modernisierung Völkermord und Kriege unterschiedlichen Ausmaßes, wie beispielsweise den Völkermord an den Armeniern zu Begin des 20. Jahrhunderts oder die Spaltung Pakistans in den 70er Jahren.

Laut Jochen Hippler müsse man zur Kenntnis nehmen, dass der Zivilisationsprozess weder eine positive noch eine negative Auswirkung auf die Gewaltbereitschaft habe, denn solange man mit Gewalt etwas erreichen könne, werde es weiter Gewalt geben.

"Wir haben gleichzeitig über die Vereinten Nationen, über das Völkerrecht, über die Menschenrechte erste Instanzen entwickelt, um Regeln zu bilden, aber bisher unbefriedigend", so Hippler.

Mangelnde Selbstkritik

Die selbstkritische Auseinandersetzung der westlichen und der islamischen Seite mit den eigenen Verbrechen ist ein unerlässlicher Teil jeder Dialoginitiative zum Thema Gewalt.

Auf arabischer Seite fehlt nach Meinung des Politologen Amr Hamzawy allerdings die Bereitschaft, sich mit den selbstverschuldeten Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu beschäftigen. Hamzawy vermisst bei den Arabern die Fähigkeit, sich mit dem Scheitern der Demokratisierungsversuche der letzten Jahrzehnte auseinander zu setzen und Lehren daraus zu ziehen.

Amr Hamzawy; Foto: www. carnegieendowment.org
Prof. Dr. Amr Hamzawy ist Senior Associate an der Carnegie-Stiftung für den Internationalen Frieden, Washington D.C.

​​Die fehlende Selbstkritik wird besonders bei islamisch geprägten Legitimierungen der Gewalt sichtbar: "Sobald über den Islam gesprochen wird, herrscht eine Blockadehaltung".

Auch Jochen Hippler kritisiert die bisherige Aufarbeitung der Verbrechen, die vom Westen ausgegangen sind: "Das interessante ist, dass die Aufarbeitung unserer eigenen Verbrechen sehr punktuell passiert ist und nicht in allen Ländern gleich.

"Außerdem glaube ich, dass unsere Aufarbeitung interessanterweise sehr eurozentrisch gewesen ist. Wir haben unsere Gewaltverbrechen im Zweiten Weltkrieg, im Holocaust primär bezogen auf jüdische Europäer, vielleicht noch auf polnische, aber auf russische kaum noch. Wir beziehen es auf unsere Gesellschaft, auf unsere europäischen Bürgerkriegsexzesse, während wir ganz selten diese Verbrechen im interkulturellen Vergleich zur Geltung bringen."

Seit den Attentaten vom 11.9. und den terroristischen Anschlägen mit islamistischem Hintergrund in Europa beobachtet Hippler zudem, dass europäische Gesellschaften dazu neigen, vor eigenen Entwicklungen, die in Gewalt münden, die Augen zu verschließen. Das wird besonders deutlich, wenn man die gerade laufende Diskussion um islamistische Gewalt mit dem Diskurs um den linksradikalen Terrorismus der 70er und 80er Jahre vergleicht:

"Wir haben eine Tätergruppe, die teilweise in Europa geboren wurde, teilweise sind es Leute, die im Libanon geboren sind. Da gelingt es teilweise die gleiche Form von abstoßender Gewalt nicht als unser Problem zu behandeln, sondern nach außen zu projizieren. Jetzt ist es nicht die deutsche Gesellschaft, die die Gewalt hervorgebracht hat, sondern Muslime, Araber, Perser, wer auch immer."

Religiöse oder politische Gewalt?

Für Jochen Hippler stellt die Religion keine Quelle der Gewalt dar. Lediglich der Missbrauch durch die Menschen und vor allem politische und sozio-ökonomische Rahmenbedingungen verleihen der Religion mobilisierenden und gewalttätigen Charakter.

Usama Bin Laden hülle zwar seine Botschaften in religiöse Begriffe, aber der Kern seiner Forderungen bleibe politischer Natur, so die Interpretation von Hippler.

Dieser Analyse widersprechen die beiden arabischen Kommentatoren der Studie. Amr Hamzawy meint, dass es unzulässig sei, das Gewaltphänomen losgelöst von seinem Milieu zu behandeln. Für den Politologen kann man das Phänomen des islamistischen Terrorismus im arabischen Raum nur verstehen, wenn man den Umgang mit Religion in den jeweiligen Gesellschaften untersucht und sich eingehend mit dem zeitgenössischen arabischen Denken und Diskurs beschäftigt:

"Das Gewaltphänomen der djihadistischen Strömungen wuchs, formte sich und gewann steigende Zahlen von Anhängern und Sympathisanten im Schatten einer kulturellen Umgebung, die die Auserwähltheit und Einzigartigkeit betonte und die Abspaltung der arabischen Gesellschaften vom Narrativ des demokratischen Zeitalters aufgrund eingebildeter Besonderheiten rechtfertigte".

Nasr Hamid Abu Zaid; Foto: Ikhlas Abbis
Prof. Dr. Nasr Abu Zaid ist Professor an den Universitäten Utrecht und Leiden

​​Der ägyptische Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid ist davon überzeugt, dass nach den Regeln der klassischen Koraninterpretation es nicht möglich sei, Terrorismus zu verurteilen: "Die Unfähigkeit den religiösen Text als einen historischen Text zu sehen, ist das Kernproblem der Koranwissenschaften in der islamischen Welt heute. Mit dieser Unfähigkeit kann man dem Terrorismus nicht entgegentreten."

Abu Zaid fordert, dass von muslimischer Seite endlich alternative Interpretationen vorgelegt werden: "Wenn wir diesen historischen Kontext nicht in das Bewusstsein rufen, hat Dialog keinen Sinn. Die Menschen, die den Terrorismus mit religiösen Texten rechtfertigen, werden es weiter tun und diejenigen, die dem Terrorismus die religiöse Grundlage entziehen wollen, können die Texte nicht in ihren historischen Kontext stellen."

Mona Naggar

© Qantara.de 2006

Qantara.de

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Auf der Website des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) können Sie die Studie als pdf-Datei herunterladen