Zwang führt zu Scheinheiligkeit

Wer dem Koran Argumente für Intoleranz und Krieg entnehmen will, wird fündig – wenn er sich plump an den Buchstaben hält und den historischen Kontext vergisst. Man sollte ihn nicht als Buch, sondern als Diskurs lesen, meint Halis Albayrak, Leiter des Instituts für Koranexegese der Islamisch-Theologischen Fakultät der Universität Ankara.

Von Halis Albayrak

Wenn es um den Islam geht, ist der maßgebliche Text der Koran. Sein Kontext besteht darin, welche Erfahrungen Mohammed im Zeitraum in den Jahren von 610 bis 632 nach Christus machte, was währenddessen geschah und aus welchen Elementen die arabische Kultur schöpfte, seien sie geographischer, politischer, historischer, kultureller, religiöser, moralischer oder wirtschaftlicher Art. All die Zusammenhänge haben ihren Anteil an der Entstehung der Koranverse.

Wenn wir also über Religionsfreiheit sprechen, dann stehen wir vor der logischen Notwendigkeit, ihren historischen Zusammenhang in unsere Lektüre und Interpretation miteinzubeziehen. Wenn wir jeden Vers so, das heißt: in seinem eigenen Kontext und in seinem existentiellen Bezugsrahmen lesen, können wir auch das Ziel des Wortes nachvollziehen.

Lesen wir den Koran aber mit der Unmethode der Buchstabentreue, dann beginnen wir, dem Text unsere eigenen Absichten aufzuzwingen. Das hat zur Folge, dass wir Gott, dem Urheber des Wortes, nicht gerecht werden. Daher bin ich der Meinung, dass die Methode, den Koran nicht wie ein Buch, sondern wie einen Diskurs zu lesen, die richtige ist.

Der Kontext ihrer Zeit

Leider stößt sie nicht auf das Interesse bei muslimischen Intellektuellen. Ich plädiere dennoch für einen Paradigmenwechsel, der uns prinzipiell nicht neu ist. Es gab ihn, in Ansätzen, schon in der islamischen Tradition: Kalif Omar hielt es nicht für vernünftig, Koranverse mit sozialpolitischem oder sozialwirtschaftlichem Inhalt eins zu eins auf den Kontext ihrer Zeit anzuwenden. Dieser Ansatz spiegelt sich in seiner Koranrezeption wider. Wir sollten daran anknüpfen.

Im Koran stoßen wir auf zahlreiche Themenfelder, die auf unterschiedliche und diskursive Art das Leben der Menschen betreffen: auf religiöse und moralische, rechtliche und wirtschaftliche, strategische und taktische, politische und militärische, sozialpsychologische und kulturelle Art.

Einzug des zweiten Kalifen Omar in Jerusalem im Jahr 638 n. Chr.; Quelle: Foto: picture-alliance / maxppp/picture-alliance / ©Selva/Leemag
"Der Kalif Omar hielt es nicht für vernünftig, Koranverse mit sozialpolitischem oder sozialwirtschaftlichem Inhalt eins zu eins auf den Kontext ihrer Zeit anzuwenden. Dieser Ansatz spiegelt sich in seiner Koranrezeption wider. Wir sollten daran anknüpfen", so Halis Albayrak.

Das heißt, dass Religion und damit auch Religionsfreiheit lediglich ein Teilgebiet in der Fülle des Korans sind und als solches auch betrachtet werden müssen. Das hat zur Folge, dass man eine religiöse und eine politische Tatsache nicht als eine Kategorie behandeln kann. Sie sind unterschiedlichen Charakters. Täten wir dies, konstruierten wir eine Identität zweier unterschiedlicher Realitätsbereiche, was eine Verwechslung dieser Bereiche bedeutete.

Versgruppen politischen und religiösen Inhalts

Es können weder die Ziele von Glauben und Politik noch die Mittel, die der Glaube und die Politik einsetzen, als identisch gesehen werden. Beim Glauben steht die freie Entscheidung des Individuums im Vordergrund, in der Politik tun dies die Interessen der Instanzen, beispielsweise der Gesellschaft, der Nation oder des Staates. Wenn wir demnach im Koran eine Versgruppe politischen Inhalts lesen und dabei eine Versgruppe religiösen Inhalts herauszulesen versuchen, dann verwechseln wir grundlegende existentielle Kategorien miteinander.

Aus diesem Koranverständnis ergeben sich Überlegungen in Bezug auf die Religionsfreiheit im Koran in Form von sechs Thesen. Erstens: Der Glaube ist eine Tatsache der Innerlichkeit. Dieser Grundsatz ist rational und philosophisch nicht widerlegbar. Folglich ist Zwang in der Religion nicht statthaft. Durch Zwang können Entscheidungen und Entschlüsse der Menschen in ihrem Inneren gar nicht geändert werden.

Menschen können zwar zur Aussprache irgendeines Glaubensbekenntnisses gebracht werden; doch damit ist noch kein Glaube verwirklicht, denn die innere Entscheidung dazu fehlt. Zwang führt zu Scheinheiligkeit. Das arabische Wort "munafiq" bezeichnet diejenigen, die sich verbal zum islamischen Glauben bekennen, doch in Wahrheit, nämlich im Inneren, gar nicht glauben. "Munafiq", also ein religiöser Heuchler zu sein, ist eine der Haltungen, die im Koran am häufigsten kritisiert werden.

Nicht zum Glauben zwingen

Zweitens: Hinzu kommt, dass Zwang einer Missachtung der Menschenwürde, ja, einem Angriff auf sie gleichkommt. Der Koran nennt die unabdingbare Notwendigkeit, dass der Glaube ein innerer Zustand ist, und gibt dementsprechend Mohammed die Anweisung, dass er sein Gegenüber nicht zum Glauben zwingen dürfe, wenn es ihn ablehnt: "Siehe, auf dich sandten wir das Buch herab, für die Menschen, mit der Wahrheit. Wer sich führen lässt, tut es zu seinem Gunste, und wer vom Weg abweicht, tut es zu seinem Schaden. Du bist nicht verantwortlich für sie." (Sure 39,41) Und: "Hätte dein Herr gewollt, so würden alle auf Erden gläubig werden, insgesamt. Willst du die Menschen etwa zwingen, dass sie gläubig werden?" (Sure 10,99)

Schließlich: "Kein Zwang ist in der Religion. Der rechte Weg ist klargeworden gegenüber dem Irrweg. Wer nicht an die Götzen glaubt, sondern an Gott, der hat den stärksten Halt ergriffen, der nicht reißt. Gott ist hörend, wissend." (Sure 2,256)

Ein Vers, der die Ungültigkeit einer erzwungenen Abschwörung des Glaubens betont, befindet sich in der Sure An-Nahl: "Wer nicht mehr an Gott glaubt, nachdem er gläubig war – außer, wer gezwungen wurde, jedoch im Herzen weiter gläubig ist –, wer aber seine Brust dem Unglauben öffnet, über den kommt Gottes Zorn, und den erwartet eine harte Strafe." (Sure 16,106) Die Verantwortung zu glauben ist im Koran also der freien Entscheidung des Menschen überlassen.

Koranschule in Tripoli, Libyen; Foto: AFP/Getty Images
Gegen eine buchstabengetreue Auslegung des Koran: "Der Koran hebt hervor, dass die Menschen auf der Erde keine homogene Gesellschaft bilden, die an eine einzige Religion glaubt und eine einzige Weltanschauung ihr Eigen nennt. Verschiedenartigkeit ist gottgewollt!", meint Halis Albayrak.

Wer will, glaubt an die Botschaft Mohammeds; wer nicht will, glaubt nicht daran oder glaubt an eine andere Religion. Zwei Verse diesbezüglich lauten: "Sprich: 'Die Wahrheit kommt von eurem Herrn. Wer will, der glaube, und wer da will, der bleibe ohne Glauben!'" (Sure 18,29) und "Sprich: 'Gehorcht Gott, und gehorcht dem Gesandten! Wenn ihr euch abwendet, dann obliegt ihm, was ihm aufgebürdet ist, und obliegt euch, was euch aufgebürdet ist. Dem Gesandten ist nichts anderes aufgetragen als die klare Botschaft.'" (Sure 24,54)

Individuelle Verantwortung

Diese Verse besagen, dass Kultur und Tradition nicht dafür instrumentalisiert werden können, sich von der individuellen Verantwortung zum Glauben befreit zu sehen; dazu gehört auch der Wechsel des Glaubens. Verantwortung äußert sich in den Entscheidungen des Individuums.

Drittens: Religiöser Pluralismus ist das Gesetz des gesellschaftlichen Lebens beziehungsweise der Geschichte. Der Koran hebt hervor, dass die Menschen auf der Erde keine homogene Gesellschaft bilden, die an eine einzige Religion glaubt und eine einzige Weltanschauung ihr Eigen nennt. Verschiedenartigkeit ist gottgewollt! Sie rührt vom Dasein des Menschen her, von seiner existentiellen Wahrheit: "Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht – doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab. Wetteifert darum um das Gute! Euer aller Rückkehr ist zu Gott, er wird euch dann kundtun, worin ihr immer wieder uneins wart." (Sure 5,48)

Keine Aussagen über juristische Maßnahmen

Viertens: Es gibt Freiheit bei der Wahl des Glaubens. Der ausdrucksstärkste Vers ist: "Siehe, wir leiten ihn auf den Weg, ob dankbar oder undankbar." (Sure 76,3) Dazu: "'Es sind doch augenfällige Beweise zu euch gekommen von eurem Herrn. Wer sieht, tut es zu seinem Wohl, und wer blind bleibt, tut es zu seinem Schaden. Ich bin nicht Hüter über euch.'" (Sure 6,104)

Fünftens: Im Koran finden wir keine Aussage, die eine juristische Maßnahme gegen diejenigen vorsieht, die den Islam verlassen, um einen anderen Glauben oder gar keinen Glauben anzunehmen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Abtrünnigen etwa getötet oder gefangen gesetzt werden sollen. Die unterschiedlichen Meinungen in der Scharia, dem islamischen Recht, bezüglich der Todesstrafe stützen sich nicht auf Koranverse, sondern auf "Hadithe", uns bis heute überlieferte Worte Mohammeds.

Der rechte Weg

Der Koran spricht lediglich von einer Bestrafung der Abtrünnigen im Jenseits: "Wer dem Gesandten zuwiderhandelt, nachdem die Rechtleitung ihm klargeworden war, und einem anderen Weg folgt als dem der Gläubigen, den lassen wir sich dorthin wenden, wohin er sich gewendet hat, und lassen ihn in der Hölle brennen: Welch schlimmes Schicksal!" (Sure 4,115) Und: "Siehe, die glauben, dann aber ungläubig werden und wieder glauben und wieder ungläubig werden, denen kann Gott nicht vergeben und sie nicht auf den rechten Weg leiten." (Sure 4,137)

Symbolbild Christentum Judentum Islam; Foto: picture alliance /Godong/Robert Harding
Tolearnz gegenüber anderen Buchreligionen: "Parallel zu seinem Wahrheitsanspruch begründet der Koran die Daseinsberechtigung der soziologisch und historisch fortbestehenden Religionen im Willen Gottes und lässt eine offene Tür für die Wahrheitsansprüche anderer Glaubenssysteme", sagt Halis Albayrak.

Sechstens: Im Koran haben Beziehungen zu andersreligiösen Gruppen einen theologischen und einen sozialpolitischen Aspekt. Der Koran steht anderen Religionen und Weltanschauungen kritisch gegenüber, da er, theologisch gesehen, einen absoluten Wahrheitsanspruch erhebt. Solchen Annahmen, die Muslimen und Angehörigen anderer Religionen gemeinsam sind, auch theologischer Art, stimmt er dagegen völlig zu; doch ruft er die Angehörigen anderer Religionen, besonders die der Buchreligionen wie Christentum und Judentum, dazu auf, seine Wahrheit anzuerkennen. Diese theologische Haltung gegenüber den anderen religiösen Gruppen ist jedoch kein Anlass zu gewalttätigem Konflikt. Es handelt sich dabei lediglich um rational geführte Diskussionen aufgrund des Wahrheitsanspruchs.

Im Willen Gottes begründet

Der Koran führt die Existenz unterschiedlicher Religionen auf von Gott geschaffene Gesetze zurück und ruft die Angehörigen aller Glaubenstraditionen zu einem Wettbewerb auf, der schließlich der Menschheit von Nutzen sein und zugutekommen soll. Parallel zu seinem Wahrheitsanspruch begründet er also die Daseinsberechtigung der soziologisch und historisch fortbestehenden Religionen im Willen Gottes und lässt, theologisch gesehen, eine offene Tür für die Wahrheitsansprüche anderer Glaubenssysteme, den Polytheismus ausgenommen.

Auf der anderen Seite enthält der Koran auch Verse, die von Konflikten mit anderen Glaubensgemeinschaften handeln. Das sind Verse politischen Inhalts, die uns von den politischen Konflikten jener Zeit erzählen. Der Grund, weshalb diese Verse Teil des Korans geworden sind, liegt bei Mohammed selbst. Er ist in Medina nicht nur Prophet Gottes, sondern auch Staatsvorsitzender. Diese Verse sollten zu einer krisengeschüttelten Zeit als eine für ihn herabgesandte Unterstützung Gottes an Wissen und Strategie gelesen werden. Hier findet eine Verschiebung von Theologie hin zur Politik statt. Es ist eine Zeit, in der religiöse Gruppen mit anderen als politische und soziale Entitäten zusammengerieten.

Dass diese Gruppen auf ihre Religion bezogene Namen trugen, zeigt keinesfalls, dass es sich dabei um rein religiöse Gemeinschaften handelt. Dass Koranverse, die mitten im Kriegsgeschehen herabgesandt wurden, einen kämpferischen Charakter besitzen, ist da nur logisch. Die Existenz politischer Autoritäten machte von Zeit zu Zeit kriegerische Auseinandersetzungen offenbar unvermeidlich. Das ist eine menschliche Tatsache. Im späteren Verlauf fanden die Kriege zwischen politischen Gruppen und Staaten statt, wie es auch heute der Fall ist. Gründe dafür liegen in Herrschafts- und in Interessenskonflikten.

Auch Mohammed und seinen Gefährten ging es in Medinensischer Zeit nicht anders. Die prozesshafte Entstehung von Religion durch Menschenhand bringt das Potential von Kontroversen jeglicher Art mit sich. Auch die junge muslimische Glaubensgemeinschaft, die damals um ihr Dasein kämpfte und sich unter den dort herrschenden Verhältnissen um ein Leben in Sicherheit bemühte, hatte ein Recht auf politischen Kampf.

Und Koranauszüge zeigen uns, dass Mohammed, während er dieses Recht in Anspruch nahm, von Gott mit Weisheit und Wissen unterstützt wurde. Sie beziehen sich auf die konfliktreiche Zeit der Geschichte des siebten Jahrhunderts. Diese Verse wie Verse religiösen Inhalts zu lesen wäre fatal. Es gibt somit keinen Grund dafür, diese Verse, die im Kontext akuter Kriegsgeschehen offenbart wurden, als Befehle zum Angriff auf die Religionsfreiheit zu lesen. Laut Koran als einer Quelle muslimischer Theologie lassen sich keine Anhaltspunkte finden, die der Religionsfreiheit entgegenstehen.

Halis Albayrak

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015

Halis Albayrak leitet das Institut für Koranexegese der Islamisch-Theologischen Fakultät der Universität Ankara und ist Mitherausgeber des "Lexikons des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam" (Herder, 2013). Der hier gedruckte Artikel ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den Halis Albayrak unlängst in Tübingen zum Thema "Islam in Europa. Religionsfreiheit und christlich-islamischer Dialog" gehalten hat.