Graswurzeln und Fußball-Diplomaten

Armeniens Konflikt mit Aserbaidschan um die Enklave Karabach gehört zu den zähesten im Kaukasus – dennoch blickt das Land nach Westen, wie Sonja Zekri aus Eriwan informiert.

Armeniens Präsident Sersch Sarkisjan; Foto: dpa
Glaubt, dass über die Zukunft der armenischen Enklave nur durch eine Volksabstimmung entschieden werden könne: Armeniens Präsident Sersch Sarkisjan

​​Unten sind sie mal wieder weiter als oben. Unten, das ist der Markt in Wanadsor. Oben, das ist die Politik. Wanadsor liegt im Norden Armeniens, im Grenzgebiet zu Georgien, einem der wenigen Freunde Armeniens; aber auch im Grenzgebiet zu Aserbaidschan und zur Türkei.

Letztere sind Armeniens größte Feinde, in diese Richtungen sind die Grenzen geschlossen, dabei stammt 80 Prozent von allem, was in Wanadsor gehandelt wird - Brautmoden, Bettwäsche, Badezimmerarmaturen - aus der Türkei, die den osmanischen Genozid an den Armeniern nicht anerkennt. Das meiste andere kommt aus Aserbaidschan, mit dem Armenien im Streit um die armenische Enklave Berg-Karabach liegt.

Wie handelt man mit dem politischen Gegner? Eigentlich sehr leicht. Jedenfalls sitzt Anuschawan Martirosjan sehr entspannt vor seinem Stand mit Jeans und Unterhosen aus der Türkei. Fünf- bis sechsmal pro Jahr fährt er mit dem Bus über Georgien nach Istanbul, sagt er, da ist die Ware billiger als europäische Textilien und hochwertiger als der China-Ramsch.

Ob er moralische Skrupel habe, weil Istanbul über den Genozid nicht mal sprechen will? "Die Türkei wird ihn schon anerkennen, eines Tages", sagt er.

Wandel durch Handel?

Noch heikler ist der Handel mit Aserbaidschan: Ein Unternehmer aus Wanadsor, der seinen Namen nicht veröffentlichen will, braucht für den Straßenbau Bitumen aus Baku. Die dortige Regierung aber verbietet jeden offiziellen Kontakt.

Fiele auf, dass die Bitumen-Container im Feindesland waren, käme der aserbaidschanische Verkäufer in größte Schwierigkeiten. Also transportiert er das Material nach Georgien, wo ein Mittelsmann es kauft, an den Armenier weiterverkauft, es umlädt und über die Grenze bringt. Handel mit Aserbaidschan? Wo im Krieg um Karabach 30.000 Menschen starben? Der Krieg ist lange her, sagt der Händler: Wir haben mit den Aserbaidschanern vorher gelebt, wieso sollen wir jetzt Feinde sein?

Der Bürgermeister Samwel Darbinjan hat sich sogar an die Spitze eines ehrgeizigen Graswurzelprojektes gesetzt, Eurokawkas, eine Kooperation von Kommunen der vier Anrainer für Projekte aus Tourismus, Handel und Sport nach dem Euregio-Modell.

Noch ist das meiste nur eine Idee, aber das Interesse ist so groß wie die Ambitionen. "Erst verbessern wir das zwischenmenschliche Miteinander, dann lösen wir die politischen Probleme", sagt Darbinjan: "Die Menschen wollen endlich normal leben."

Ein Schritt vor, zwei zurück

Da brauchen er und seine Kollegen im Vierländereck einen langen Atem, denn Armeniens Konflikte gehören zu den zähesten im Kaukasus. Auf einen Schritt nach vorn folgen zwei zurück - wie aktuell.

Der türkische Präsident Gül und der armenische Präsident Sarkissjan in Eriwan; Foto: dpa
Aufbruch zu neuen diplomatischen Ufern oder nur ein kurzes Zwischenspiel? Der türkische Präsident Gül und der armenische Präsident Sarkisjan unterzeichneten zwar 2009 zwei Protokolle über die Öffnung der Grenzen. Der Prozess geriet jedoch kurz darauf ins Stocken.

​​ Unterstützt durch die Moderation der Schweiz unterzeichneten Armenien und die Türkei im Oktober 2009 zwei Protokolle über die Öffnung der Grenzen. Es war der Höhepunkt einer monatelangen "Fußball-Diplomatie", zu der sich die Staatschefs beider Länder im Stadion der armenischen Hauptstadt Eriwan und im türkischen Bursa trafen.

Schon ein halbes Jahr später aber geriet der Prozess ins Stocken: Im April setzte Armeniens Präsident Sersch Sarkisjan die Ratifizierung aus, nachdem die Türkei auf Drängen Aserbaidschans erklärt hatte, dass zuvor erst jene Frage gelöst werden müsse, über die in den Protokollen kein Wort steht: Karabach.

Inzwischen ist Sarkisjan eher pessimistisch: "Wenn die Türkei die Lösung der Karabach-Frage zur Vorbedingung macht, warum sollten wir dann irgendwelche positiven Schritte erwarten? In diesem Fall können wir gleich unsere Unterschriften vom Vertrag zurückziehen, bis diese Frage gelöst ist", sagte er.

Zwar hat Armenien die selbsternannte Republik Karabach nie anerkannt, aber der Flecken hängt militärisch und wirtschaftlich am Tropf von Eriwan und seiner finanzstarken Diaspora.

Einzig eine Volksabstimmung könne über die Zukunft der armenischen Enklave entscheiden, so Sarkisjan: "Warum werden solche Fragen in Europa durch ein Referendum gelöst, bei uns aber sollen sie durch ein Maschinengewehr entschieden werden?" Erst danach könne man jene aserbaidschanischen Gebiete außerhalb Karabachs zurückgeben, die Armenien besetzt.

Teurer Konflikt

Karte Aserbaidschans, Berg-Karabachs, Irans und Russlands; &copy DW
Nach einem dreijährigem blutigen Konflikt wurde Berg-Karabach 1994 von Armenien besetzt. Völkerrechtlich gehört die Enklave jedoch zu Aserbaidschan.

​​ Sarkisjan betont, wirtschaftlich werde sich Armenien nicht erpressen lassen. Dabei ist der Preis des Konfliktes hoch. Das Militär ist teuer. Der erzwungene Güter-Transit durch Georgien verschlingt Unsummen und fördert die Oligarchie. Die Krise hat die Wirtschaft um 14 Prozent schrumpfen lassen.

In Deutschland will Sarkisjan nun um Investoren werben. Aber wer investiert in ein Land mit zur Hälfte geschlossenen Grenzen? Gegner, vor allem in der Diaspora, werfen Sarkisjan den Ausverkauf nationaler Interessen vor.

Und sein größter Widersacher, sein Vor-Vorgänger Lewon Ter-Petrosjan, kritisiert in Eriwan, Sarkisjan wolle der internationalen Gemeinschaft gefallen, um über seine unzureichende Legitimität hinwegzutäuschen: "Die Weltgemeinschaft verschließt die Augen davor, dass es politische Gefangene gibt und Demonstrationen verboten werden."

Armenische Beobachter vermuten, dass Eriwan mit der Türkei heimlich weiter verhandelt. Dies käme auch den USA entgegen, die große Hoffnungen auf Armenien setzen - kein anderer Präsident wurde so oft in Washington empfangen wie Sarkisjan.

Eine Öffnung der Grenzen würde Armeniens Abhängigkeit von Russland senken. Zudem steigt Eriwans strategische Bedeutung, je wahrscheinlicher ein US-Konflikt mit dem armenischen Nachbarn Iran wird. Armenien blickt nach Westen.

Zwar hat Eriwan nie eine EU-Mitgliedschaft angestrebt, gehört aber zum neuen EU-Assoziierungsabkommen, der Östlichen Partnerschaft. Und es sucht die Nähe der NATO: Seit ein paar Monaten kämpfen 40 armenische Soldaten im deutschen Kontingent in Afghanistan. Könnten es mehr werden? Sarkisjan zögert. Der Großteil der Truppen sei gebunden - in Karabach.

Sonja Zekri

© Süddeutsche Zeitung 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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