Die Globalisierung macht aus Afrika eine geistige Kolonie

In seiner wütenden Attacke gegen die westliche Kultur wirft Meki Nzewi dem neo-kolonialistischen Kapitalismus vor, der traditionellen afrikanischen Musik ihre Authentizität und spirituelle Integrität geraubt zu haben.

In seiner langen und wütenden Attacke gegen die westliche Kultur wirft Meki Nzewi, Professor für afrikanische Musik an der Universität von Pretoria, dem neo-kolonialistischen Kapitalismus vor, der traditionellen afrikanischen Musik ihre Authentizität und spirituelle Integrität geraubt zu haben.

Foto: University of Pretoria
Afrika ist der geistige Sklave Europas und Amerikas, schreibt Prof. Meki Nzewi aus Südafrika in seinem Kommentar.

​​Die technologische Hypnose, die der obsessive Kapitalismus erst hervorbrachte und nun befördert, hat alle menschlichen Gefühle betäubt. Dies geschah, indem die echte, authentische Musik, die wundervolle "Vermenschlicherin", immer mehr ins Hintertreffen geraten ist.

Die gesellschaftliche Ordnung, die die traditionelle, auf breiten Konsens beruhende Herrschaftsform afrikanischer Völker hervorgebracht hat, vertraute auf die Musik als ein facettenreiches Medium, das gleichermaßen Bewusstsein schafft wie es auch korrigierend wirken kann. Doch dann wurde Afrika verdammt und herabgewürdigt für das, was es so einzigartig erreicht hatte; neue gesellschaftliche Formen wurden ihm aufgezwungen.

Die Realität in Afrika ist heute, dass korrupte Politiker ihre Völker mit Massenvernichtungswaffen zerstören, die die Musik ihres Lebens und der sozialen Gerechtigkeit zum Verstummen gebracht haben.

Die Musik verlieh der Philosophie afrikanischen Zusammenlebens immer eine Form, durchdrang sie und spiegelte die Bedeutung und die Prozesse gemeinschaftlichen Lebens wider.

Innerhalb des Lebens und der Weltanschauung kam der Musik die Rolle zu, Beziehungen zu schaffen, den Ethos gesellschaftlicher Systeme und Institutionen zu beobachten und anzuleiten, menschliche Gefühle zu vermitteln und den Menschen eine spirituelle Führung zu geben.

Musik als Rhythmus des Alltagslebens

Ich möchte einen kurzen Einblick geben, welche rationale wie sinnliche Vitalität die Musik den Menschen in Afrika verleiht, ein Konzept, das kreative Persönlichkeiten anleitet, die Musik als Kraftquelle der Eigeninitiative zu nutzen.

Der Klang der Musik vermag es noch immer, dem täglichen Leben einer traditionellen afrikanischen Gemeinschaft einen Rhythmus zu verleihen. Die meisten Darbietungen, einschließlich derer von Kindern, erfüllen bestimmte Funktionen für die öffentlichen wie privaten Bereiche des Gemeinschaftslebens - und das ohne dabei störend in die alltägliche Routine einzugreifen.

Musik ist zur gleichen Zeit eine ernsthafte Beschäftigung, wie sie auch der Unterhaltung dient und fügt sich so ein in die dualistische afrikanische Weltsicht. Die der Musik zugrundeliegende Idee zielt auf zwei unterschiedliche und doch voneinander abhängige Ansätze.

Von der "event-music" lässt sich sagen, dass sie den alltäglichen Dingen des Lebens einen musikalischen Ausdruck verleiht und dabei sowohl Formen wie Verwendung der Musik bestimmt. "Event-music" ist eine selbstständige Versinnbildlichung der Musik als Verschönerin des Lebens, und viele musikalische Formen sind einzig zu diesem Zweck geschaffen worden.

Die Musik gehört immer der sakralen Sphäre an

Doch lässt sich natürlich sagen, dass die Funktion einer ästhetischen Bereicherung jeder Musik eigen ist, sie gleichsam definiert. Musik, die das Leben veredelt, ist schließlich ein integraler Bestandteil des kreativen Prozesses, unabhängig vom Genre, von der Gattung, dem Stil, aber auch unabhängig von gesellschaftlichen Rollen.

Afrikaner unterscheiden zwischen einem sakralen und einem profanen Bereich des Lebens, auch wenn beide Bereiche eng miteinander verknüpft sind.

Alle aktiven, doch abstrakten Kräfte gehören dem Übersinnlichen an und damit der sakralen Sphäre. Sie prägen die spirituelle Verfassung des Menschen und durchdringen die Kunst des Lebens sowohl durch Emanationen wie durch interaktive Erscheinungen.

In Afrika gehört deshalb die Musik, auch wenn sie in einem profanen Kontext erfahren wird, immer zur Sphäre des Sakralen.

Die Integrität der afrikanischen Musik ist eingebettet in eine gesellschaftliche Philosophie, die ihr Menschenbild ebenso formt wie ihre praktische Ausübung. Auf diese Weise reflektieren und kodieren die formalen und strukturellen Eigenheiten der Musik, in gleichem Maße, wie ihre ästhetische Manifestierung, soziale Strukturen und Beziehungen.

Die Globalisierung zerstört Authentizität

Die Globalisierung beraubt der zeitgenössischen musikalischen Praxis all dieser spirituellen, heilenden und vermenschlichenden Funktionen.

Was in umgemodelter Form als afrikanische Musik international verkauft wird, ist nichts als eine blutleere Abstraktion ihrer traditionellen Substanz, ihrer Tugenden und Werte — eine herabgewürdigte Form ihres überlieferten Geistes, geschaffen, um der oberflächlichen Vorstellungskraft der Amerikaner und Europäer zu dienen und der kulturellen Integrität Afrikas gleichzeitig ihren eigenen, westlichen Stempel aufzudrücken.

Der Beutezug, auf dem der Kolonialismus und religiös begründete Missionierungen Afrika seiner Kultur beraubt, trifft auf geistig wie wirtschaftlich verunsicherte und bevormundete Afrikaner und hat so zu einer vollkommenen Verzerrung ihres ursprünglichen kreativen Strebens geführt.

Heilende Kraft afrikanischer Musik

Kapitalistische Wirtschaftsweise, technologische Ausbeutung und verfälschte wissenschaftliche Forschungen haben ebenso dazu beigetragen, dass die afrikanische Musik ihre heilende Kraft und ihre solidarisierende Wirkung verloren hat, und das zu einer Zeit, in der eine geistig notleidende Welt ihrer so dringend bedarf.

In der ursprünglichen afrikanischen Theorie der Kreativität und der Tanz als Elemente der musikalischen Künste verschmolzen Körperästhetik mit einem sozial-psychologischen Ansatz und manifestierten sich als poetische Tänze, die als Metaphern für das Gemeindeleben ebenso gelten können wie für die Inszenierung von Gefühlen (Nzewi 1999).

Das heutige Bild afrikanischer Tanz-Choreographien, umgeformt, um einen europäischen und amerikanischen Exotismus zu bedienen, macht sich nicht nur die geistige und wirtschaftliche Verunsicherung der Afrikaner zunutze, sondern missbraucht zudem den afrikanischen Tanzethos.

Solche abgeschmackten Verfälschungen der originalen afrikanischen Tanzkultur zeugen von der Verachtung, mit dem der wirtschaftlich privilegierte Westen dem Stolz der Afrikaner auf ihre Kultur begegnet. Zugleich zeigt es die anhaltend falsche Wahrnehmung der Bedeutung und ästhetischen Sprache des afrikanischen Tanzpoesie.

Der globale Markt für populäre Musik ist wie eine Versteigerung unter Geiern.

Kapitalistische Vorstellungen oktroyieren der entfremdeten Musik Afrikas ihre entmenschlichte Logik und ihre technologischen Fantasien auf.

Afrikaner verhalten sich wie geistige Sklaven

In seinem Drang nach Anerkennung verpfändet der afrikanische Künstler seinen Stolz wie seine kulturelle Integrität für die paar Brotkrumen, die ihm von feudalistischen Musikproduzenten hingeworfen werden.

Geschützt sind diese Promoter durch die enterbende moderne Waffe des Vertrags, die ihnen das Recht gibt zum kapitalistischen Betrug, zur Erpressung und zu Enteignung.

Überall auf ihrem Kontinent verhalten sich traumatisierte Afrikaner wie die geistigen Sklaven der übermächtigen westlichen Techno-Kultur, indem sie das kulturelle Prestige Afrikas in lächerlicher Weise verfremden und dabei jedem neuen europäisch-amerikanischen Trend hinterher hecheln.

Dabei besitzen die verschiedenen Trommelstile Afrikas intellektuelle Substanz und humanistische Intentionen.

Traditionelle Musik als geistige Therapie

Die musikalische Macht eines Trommelensembles wird zu Strukturen gebündelt, die einer geistigen Therapie gleichkommen, gar einer spirituellen Erhabenheit, die zuweilen transzendentale Züge annimmt und klangliche wie soziale Erfahrungen beinhalten kann.

Der Trommelstil hingegen, der von entfremdeten Afrikanern nach Europa und Amerika exportiert wird und dort von nur um sich selbst kreisenden Musik-Mechanikern als "afrikanisch" verkauft wird, ist nur eines: oberflächlich.

Europa und Amerika verstehen es nicht

Das phantasievoll scheppernde Schlagzeuggewitter mag ja durchaus seinen Reiz haben und passt auch sicher zur europäisch-amerikanischen Vorliebe für Virtuosentum im Showbiz; doch künstlerisch, ästhetisch und menschlich ist es nur eines: abstrus. Es handelt sich um nichts anderes als um eine grobe Verzerrung afrikanischer Kreativität und ihren fachlichen Standards, was die afrikanische Trommelmusik betrifft.

Qualität bemisst sich in der afrikanischen Musik über ihren kontemplativen Gehalt oder ihre Angemessenheit (also ihre Fähigkeit, für eine bestimmte Situation den passenden musikalischen Ausdruck zu finden / Anmerkung des Übersetzers). Emotionaler Gehalt, spirituelle Erhabenheit, therapeutischer Wert, Sozialisierungsfunktion und kreatives Stimulans, das sind die Dinge, die den Kern afrikanischer Musik ausmachen, und das in Theorie und Praxis.

Fremde wie auch viele "desorientierte" Afrikaner nehmen die Trommel nicht richtig wahr, wenn sie sie als bloß perkussives Instrument ansehen.

Im Gegenteil: Die afrikanische Trommel wurde geschaffen und wird verwendet als melorhythmisches (Melodie und Rhythmus verbindendes / Anmerkung des Übersetzers), zart singendes Instrument. Es bringt ein interaktives Erlebnis und eine psychoaktive Energie, die umgewandelt wird in eine inter-personelle Sensorik und gegenseitige Unterstützung.

Initiativen zur Weiterentwicklung und zukünftige Experimente in der afrikanischen Musik müssen deshalb von ihrer ihr eigenen Theorie, also dem menschlichen Kontext und den strukturellen Verdiensten des Originals ausgehen.

Schon ein "einfaches" Frage-und-Antwort-Muster in einer melodischen/melorhythmischen Struktur besitzt eine ganze Reihe menschlicher und sozialer Werte, gibt es doch der Fähigkeit einen Raum, sich empathisch in den Mitmusiker einzufühlen.

Subtile Formen musikalischer Kommunikation

Die Improvisation innerhalb der einfachen Unterabschnitte dieser Frage-und-Antwort-Formen geschieht in der afrikanischen Musik über kaum wahrnehmbare Veränderungen der melodischen/melorhythmischen Elemente; eine Kunst, die eine immense Fähigkeit der Kontemplation voraussetzt, und dies nicht nur in Bezug auf die persönliche Kreativität, sondern auch hinsichtlich der Kommunikation mit den Mitspielern und des empathischen Einfühlens.

Ebendiese empathische Leistung wiederum ist es, die den ästhetischen Ausdruck zwischenmenschlicher Anerkennung ermöglicht.

So schärft die afrikanische Musik immer wieder das Bewusstsein und die Wertschätzung des emotionalen Reichtums, der sich selbst in einfachen Lebenssituationen finden lässt, solange er sich auf dem Prinzip des Teilens als wichtigster Tugend des gemeinschaftlichen Lebens gründet.

Missbrauch der intellektuellen Integrität der Afrikaner

Die schulische Musikerziehung aber missbraucht die intellektuelle Integrität der Afrikaner, indem sie ihren kulturellen Stolz untergräbt und ihren Sinn für ihre eigene Identität aufweicht.

In Geist und Gehalt handelt es sich um eine Verpflanzung europäischer und amerikanischer Modelle auf Afrika; Modelle, die der afrikanischen Seele ihre Orientierung nehmen, und dies in sozialer, mentaler und ökonomischer Hinsicht.

Mit verschwommenen Andeutungen, der afrikanischen Kultur in den Lehrplänen und in der Praxis einen breiteren Raum zu geben, wird die Tatsache verschleiert, dass sie wohl niemals umgesetzt werden oder höchstens in unzureichender Weise.

Und wie sollte es auch anders da, wo doch sowohl die afrikanischen Politiker wie auch viele "Experten" vor Ort kulturell so entfremdet sind, dass sie sich in das traditionelle kulturelle Erbe weder einfühlen können, noch ihm eine intellektuelle Verbundenheit entgegenbringen.

Erneuerung der Tradition

Die Wiederherstellung zuverlässiger indigener Verdienste auf menschlicher wie kultureller Ebene verlangt — vor dem Hintergrund eines fortschreitenden Trends zur Globalisierung — nach einem bewussten, rationalen Ansatz.

Die Erneuerung alter Traditionen wird nur möglich sein, wenn man auf eine Philosophie wie auf ein festes Prinzip behutsamer und kontinuierlicher Entwicklung setzt.

Ein solcher Prozess muss eine Entwicklungs- und Weiterentwicklungsstrategie beinhalten, die fest verwurzelt ist in afrikanischen Kreativitätsgedanken, im indigenen Wissenssystem und errichtet wird auf der Grundlage der humanistischen Tradition des Kontinents.

Doch gibt es zu wenige traditionsbewusste und deshalb ihrer Intellektualität sicheren afrikanische Erneuerer, um diese Mission voranzutreiben, da eine große Zahl der in den letzten Jahren ausgebildeten Afrikaner nichts als Marionetten und Vertreter der geistigen Produkte des Westens sind, die sie zu ihren Fetischen gemacht haben.

Der größte Teil der Werbung wie der politischen Propaganda, die vorgeben, sich der Kunst als Instrument der weltweiten Verständigung verschrieben zu haben, tut nichts anderes, als der immer weitergehenden Hegemonie Europas und Amerikas auf dem afrikanischen Kontinent Vorschub zu leisten und sie zu verfestigen.

Das, was als Geist der modernen afrikanischen Kunst verkauft wird, ist also, schließlich, nichts anderes als ihre Hülle, in die der Körper und die Seele Europas und Amerikas eingenäht wurde — wir sehen Afrika als mentale Kolonie des Westens.

Meki Nzewi

© Meki Nzewi 2004

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Qantara.de
Dossier: Musikwelten
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