Ignoranz auf beiden Seiten

In der gegenwärtigen Krise gefährde Israel seinen demokratischen Charakter, meint der israelische Autor Assaf Gavron. Gleichzeitig verleugne ein Teil der westlichen Presse die Gefahr, die von der Hamas ausgeht.

Yonit Livi; Foto: Issac Benjamin Babcock
Im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik in Israel: Fernsehmoderatorin Yonit Livi. Grund: Sie hatte am zweiten Tag des Krieges gesagt, dass es für Israel immer schwerer würde, einen Krieg zu rechtfertigen.

​​ Yonit Levy ist Moderatorin der Nachrichtensendung von Kanal 2, der meistgesehenen in Israel. Sie ist hübsch und ernst, eine Art "Eis-Königin", die beim nachrichtenhungrigen israelischen Publikum sehr beliebt war.

Zumindest bis vorletzte Woche. Dann wurde eine Petition auf eine Website gestellt, in der Levy aufgefordert wurde, ihre Arbeit zu beenden. Ihr Vergehen?

Nun, sie hatte gesagt, dass es - am zweiten Tag der Militäroperation in Gaza - immer schwerer für Israel würde, einen Krieg zu rechtfertigen, in dem auf der einen Seite bereits 350 Palästinenser, jedoch nur ein einziger Israeli getötet wurden (Inzwischen sind es mehr als 1.000 Palästinenser gegenüber weniger als 10 Israelis) - eine recht einfache, objektive und logische Feststellung.

Wüste Beschimpfungen auf dem "neuen Dorfplatz"

Außerdem warfen ihre Kritiker ihr vor, dass ihr Gesichtsausdruck Anteilnahme verriet, als vom Tod palästinensischer Zivilisten berichtet wurde. Nach nur zwei Tagen hatten mehr als 30.000 Menschen die Petition unterschrieben.

Begleitet wurde dies von einer Flut wüster Beschimpfungen gegen Levy - im Radio, in den Zeitungen und vor allem auf dem "neuen Dorfplatz", den Internetforen, wo jeder frei und anonym seine Meinung äußern kann (die meisten aktuellen Nachrichtenmeldungen bringen jeweils Hunderte von Wortmeldungen auf den großen israelischen Websites).

Wenn dies das Schicksal einer beliebten Nachrichtenmoderatorin mit einem traurigen Gesicht ist, können Sie sich vielleicht vorstellen, wie es denen ergeht, die den Krieg tatsächlich in Frage stellen, oder, Gott bewahre, sogar offen gegen ihn argumentieren.

Es gab hier in den letzten drei Wochen sehr viel Ärger und Enttäuschung. Einiges davon erklärt sich angesichts des Kriegszustandes von selbst: Unschuldige Menschen werden getötet und verletzt, Häuser werden bombardiert und zerstört, Gewalt und Feindseligkeit sind auf ihrem Höhepunkt.

Die Menschen sind besorgt und haben Angst. Sie machen "das Böse" auf Seiten des Feindes für alles verantwortlich und beharren auf ihrer eigenen Sichtweise - egal, welche sie vorher hatten - und dies immer unversöhnlicher.

All dies war und ist tragisch genug zu ertragen. Und es ist lediglich eine weitere Runde in dem Zyklus, an den wir und die Palästinenser (und unsere Nachbarn) uns Zeit unseres Lebens gewöhnen mussten.

Israelische Truppen im Gaza-Streifen; Foto: AP
Permanenter Zyklus der Gewalt und Gegengewalt - israelische Truppen im Gaza-Streifen

​​ Doch was ich besonders traurig und beängstigend finde, ist die wachsende Intoleranz auf der israelischen Seite gegenüber Stimmen, die sich dem allgemeinen "Chor der Krieger" nicht unterordnen - gegenüber jenen, die die Operation anzweifeln oder ablehnen, ja sogar eine Diskussion über den Sinn des Krieges nicht zulassen.

Mediale Gehirnwäsche

Das Wort "Gehirnwäsche" ist sicher sehr hart, und doch gibt es kaum ein passenderes Wort dafür, wie der Krieg in den Mainstream-Medien dargestellt wird: Bilder von palästinensischen Toten und Zerstörungen von Gaza werden nicht gezeigt und für die zivilen Opfer auf palästinensischer Seite wird allein die Hamas verantwortlich gemacht.

Alle Experten, die in die Fernsehstudios geladen werden, vertreten eine einheitlich patriotische Sicht und rühmen die Aktionen der israelischen Verteidigungskräfte. Kritische oder abweichende Meinungen werden gar nicht gesendet.

Über Anti-Kriegs-Demonstrationen wird auf den hinteren Zeitungsseiten oder am Ende einer Nachrichtensendung berichtet - wenn man Glück hat. Und auch dann oft nur in herablassender, fast parodierender Art und Weise.

Die Kriegsgegner werden dabei als ein kleiner Haufen verirrter Spinner gezeigt, wobei mehr Sendezeit darauf verwendet wird, Leute zu zeigen, die über die Demonstranten schimpfen (selbst wenn mehr als 10.000 Menschen zu den Demonstrationen kommen).

"Stör uns nicht, wir schießen!"-Atmosphäre

Assaf Gavron; Foto: Moti Kikayon
Assaf Gavron: "Das Wort Gehirnwäsche ist sicher sehr hart, und doch gibt es kaum ein passenderes Wort dafür, wie der Krieg in den Mainstream-Medien dargestellt wird."

​​ Sehr viel mehr Aufmerksamkeit dagegen genießen patriotische Geschichten von Israelis, die den Soldaten Schokolade schicken und über Menschen, die traumatisierten Opfern von Raketenangriffen helfen.

Die Wirkung dieser "Stör uns nicht, wir schießen!"-Atmosphäre ist überwältigend: in einer gerade veröffentlichten Umfrage sagen 78 Prozent der Israelis (was praktisch der Gesamtheit der jüdischen Bevölkerung entspricht), dass die Operation "erfolgreich" sei.

Ich halte es zumindest für seltsam, eine militärische Operation als Erfolg zu betrachten, wenn nach fast drei Wochen der Bombardierungen und nachdem mehr als 1.000 Palästinenser getötet und viele Tausend verletzt wurden, ihre Häuser verloren haben und nun ohne Elektrizität, Wasser und Gas überleben müssen, noch immer täglich Dutzende Raketen auf Israel abgefeuert werden.

Ist es ein Erfolg, wenn unter den Opfern mehr als 300 Kinder sind? Und ist es ein Erfolg, wenn vier israelische Bürger in der ersten Woche der Operation getötet wurden, nachdem es im gesamten Jahr zuvor nur einer war?

Uninformierte Verachtung gegenüber Israel

Wenn es um die weltweiten Proteste gegen Israel geht, sollten wir folgende Sachverhalte berücksichtigen. Ich denke sehr wohl, dass Israel erklären sollte, wie es die Art und die Verhältnismäßigkeit seiner Angriffe rechtfertigen will. Ebenso muss Rechenschaft abgelegt werden, inwieweit die selbstgesteckten Ziele der Operation erreicht werden sollen und worin diese Ziele überhaupt bestehen.

Doch wieder zeigt sich hier eine Intoleranz und Aggression, die nur als niederschmetternd zu bezeichnen ist. Ebenso frustrierend für einen Israeli, der seine Regierung, die Armee des Landes und die Öffentlichkeit kritisiert, ist es jedoch zu verfolgen, welche Kommentare über sein Land abgegeben werden. Hierbei fällt ein großes Maß an uninformierter, einseitiger und teilweise lächerlicher Verachtung gegenüber Israel offen zu Tage.

Nehmen wir als Beispiel den Kommentar in der britischen Tageszeitung "The Guardian" vom 29. Dezember des letzten Jahres, in dem unumwunden von einem Massaker gesprochen wurde, ohne dass auch nur mit einem Wort auf die Gründe für den israelischen Angriff eingegangen wurde.

Ebenso wenig wurde auf die Dummheit der Hamas-Führung - ob verständlich oder nicht - eingegangen, die in entscheidendem Maße zur Eskalation beigetragen hat. Oder ein anderer Kommentar in der gleichen Zeitung: eine renommierte Autorin fordert darin einen Witschaftsboykott gegen Israel, unterschreibt jedoch gleichzeitig einen Vertrag mit einem israelischen Verlagshaus (wie das funktionierten soll, leuchtet mir nicht ein).

Notwendigkeit einer differenzierten Sichtweise

Dieses Schwanken zwischen harscher Kritik gegenüber unseren Taten im eigenen Land und dem Gefühl, von externer, ungerechtfertigter Kritik in die Defensive und zum Patriotismus hin gedrängt zu werden, ist ein Gefühl, das mir nur allzu vertraut ist, wenn ich versuche, zu einer differenzierten Sicht der Dinge zu gelangen.

Heute schlägt das Pendel eher zugunsten meiner Befürchtungen aus. Wenn ich noch einmal an die Yonit Levy-Geschichte denke, dann scheint mir, dass es sehr wohl eine sehr komische Episode hätte sein können, wäre sie nicht so traurig und wäre sie nicht ein solch treffendes Beispiel für die echte Gefahr, die unserer schon fragilen Demokratie droht.

Wenn Menschen keine Geduld mehr aufbringen können, um einander zuzuhören, wenn sie dieses Maß an Aggression erreichen, verbauen wir uns nicht nur den Weg zu Ruhe und Frieden in unserer Region, sondern verlieren auch den Anspruch auf eine zivile, gesunde und demokratische Gesellschaft.

Und ich spreche nicht über eine ferne Zukunft, sondern ich spreche über diese Woche. Denn erst vor ein paar Tagen wurde vom Zentralen Wahlkomitee beschlossen, zwei arabische Parteien, Balad und die zur Vereinigten Arabischen Liste gehörende Ta'al-Partei von der anstehenden Wahl am 10. Februar auszuschließen.

Es ist kein Zufall, dass diese Entscheidung gerade jetzt getroffen wurde, während dieses Krieges, mit der dazu gehörenden Atmosphäre im Hintergrund und nicht etwa in den Jahren zuvor, in denen die Parteien zu mehreren Wahlen antraten und Abgeordnete in das israelische Parlament schicken konnten.

Wir haben uns daran gewöhnt, um unser Leben zu fürchten, aber die Sorge um unsere Demokratie, wie wir sie in den letzten Wochen erleben mussten, ist ein Gefühl, das ich bis jetzt noch nicht kannte.

Assaf Gavron

© Qantara.de 2009

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Assaf Gavron, geboren 1968, wuchs in Jerusalem auf, studierte in London und Vancouver und lebt heute in Tel Aviv. Zu seinen Buchpublikationen zählen "Ein schönes Attentat" sowie zuletzt "Hydromania" (beide im Luchterhand-Literaturverlag).

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