Vergesst Sarrazin!

Klaus J. Bade legt in seinem Buch Kritik und Gewalt eine gründliche Aufarbeitung der Sarrazin-Debatte vor und verfehlt dabei jedoch deren eigentlichen Kern. Von Andreas Pflitsch

Von Andreas Pflitsch

Im August 2010 erschien, begleitet von einem enormen Medienecho, Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab. Auszüge waren vorab im Spiegel und in der Bild-Zeitung abgedruckt worden, große Interviews erschienen in der Berliner Morgenpost und der Welt am Sonntag.

Sarrazin stellte sein Buch in der Bundespressekonferenz vor und trat in den ARD-Sendungen Beckmann und Hart aber fair auf. Autor und Verlag war ein publizistischer Coup gelungen, der mit fünfstelligen Verkaufszahlen schon in den ersten beiden Tagen nach Erscheinen belohnt wurde. Mittlerweile gehört Deutschland schafft sich ab zu den meistverkauften Sachbüchern seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland.

Sarrazins Thesen fielen offenbar auf fruchtbaren Boden. Der Autor verstand es, sich mit seiner Fundamentalkritik an der Einwanderung nach Deutschland als jemand zu inszenieren, der eine Wahrheit ausspricht, die sonst dem Diktat der political correctness zum Opfer fällt.

Kritisches Echo der politischen Parteien

Dem enormen Verkaufs- und Aufmerksamkeitsserfolg stand von Anfang an die deutliche Kritik des gesamten politischen Spektrums gegenüber. Vom damaligen hessische Ministerpräsident Roland Koch ("unerträglich"), über CSU-Generalsekretär Alexander Dobrinth ("Der Typ hat einen Knall") und Kanzlerin Angela Merkel ("dumm und nicht weiterführend") waren sich auch Konservative in ihrer Ablehnung einig.

Buchcover Kritik und Gewalt von Klaus J. Bade im Wochenschau-Verlag
"Gegen Sarrazin braucht es keine dicken Bücher, sondern geduldiges Abwarten", schreibt Andreas Pflitsch.

Sozialdemokraten, Grüne und Linke reagierten ohnehin kritisch. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel drängte Sarrazin öffentlich zu einem Parteiaustritt, für die Grünen Volker Beck ("Hasstiraden") und Tarek al-Wazir ("Unsinn ohne jede Kenntnis über die Geschichte der Einwanderung") handelte es sich bei Sarrazins Ausführungen um puren Rassismus.Der Migrationsforscher Klaus J. Bade, bis zu seiner Emeritierung 2007 Professor für Neueste Geschichte in Oldenburg, hat sich in seinem Buch Kritik und Gewalt nun in aller Ausführlichkeit mit dem Fall Sarrazin und seinen Hintergründen beschäftigt.

Zahlengesättigt und faktenreich, in eher ruhigem Ton und nur in seltenen Ausnahmen polemisch, dabei immer engagiert, handelt Bade von der "empörungsstarken Ersatzdebatte für die angstvoll verdrängte Diskussion um eine neue kollektive Identität in der Einwanderungsgesellschaft".

Seit Anfang der 1980er Jahre gehört Bade zu denjenigen, die eine offensive Migrations- und Integrationspolitik fordern und dafür plädieren, Deutschland als Einwanderungsland zu verstehen. Anfang der 1990er Jahre hat er in Osnabrück das "Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien" (IMIS) gegründet und war als langjähriger Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration in der Politikberatung aktiv.

Keine Abrechnung eines Gekränkten

Ihn muss es nachhaltig gekränkt haben, dass seine über Jahrzehnte gewachsene Forschungsleistung von Sarrazins Pauschalisierungen in kürzester Zeit regelrecht überrollt worden war. Aber Bades Buch liest sich nicht als Abrechnung eines Gekränkten. Objektiv, scharfsinnig und gründlich recherchiert zeichnet er die Debatte in den Medien nach, hinterfragt die Motive der Debattenteilnehmer, seziert klug und kritisch ähnlich gelagerte Fälle wie die von Necla Kelek, Ralph Giordano und anderen 'Islamkritikern' und setzt das alles mit der seriösen Migrationsforschung in Beziehung.

Schließlich fragt Bade nach dem Verhältnis von Wortgewalt und Tatgewalt und schlägt den dann doch recht kühnen Bogen zum Massenmord des Anders Breivik in Norwegen und zur NSU-Mordserie in Deutschland. Bade ist damit eine spannende Gegenwartsdiagnose bundesrepublikanischer Befindlichkeiten und ein substanzieller Beitrag zur jüngeren Mentalitätsgeschichte der deutschen Medienlandschaft gelungen, der weit über den eigentlichen Fall Sarrazin hinausweist.

Migrationsforscher Klaus J. Bade; Foto: privat
Der Migrationsforscher, Publizist und Politikberater Klaus J. Bade lehrte bis 2007 Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und lebt seither in Berlin. Er war Fellow/Gastprofessor an den Universitäten Oxford und Harvard, an der Niederländischen Akademie der Wissenschaften und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Bade war u.a. Begründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), des bundesweiten Rates für Migration (RfM) und 2008 - 2012 Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in Berlin.

Trotzdem geht sein Buch am Kern des Problems vorbei. Es gehört zu den Besonderheiten des Phänomens Sarrazin, dass auch die schärfste Kritik und die deutlichste Ablehnung seiner Thesen dem Erfolg seines Buches keinen Abbruch taten. Im Gegenteil: Je heftiger der Gegenwind wurde, desto leichter konnte er sich als Opfer politisch korrekter Denkverbote stilisieren und sich zum Wortführer einer schweigenden Mehrheit aufschwingen.

Unfreiwillig halfen ihm seine Kritiker auf diese Weise, sich zum Märtyrer einer scheinbar unterdrückten Wahrheit zu machen. Jeder Versuch einer Widerlegung seiner Thesen wurde so im Handumdrehen zu einer Bestätigung umgedeutet. Aus diesem Schema war kein Entkommen.

Traurige Vergeblichkeit

Und weil wir es bei dieser speziellen Dialektik nicht mit einem Nebenaspekt der sogenannten Sarrazin-Debatte zu tun haben, sondern mit ihrem Kernstück, ist das durchaus ehrbare Bemühen von Bade zum Scheitern verurteilt. Seine Beobachtungen müssen ins Leere laufen, weil er im ungebrochenen Glauben an die Kraft der Aufklärung die Macht dieser Dialektik mit geradezu anrührender Naivität übersieht.

Der österreichische Philosoph Hubert Schleichert hat in seinem Buch Wie man mit Fundamentalisten diskutiert ohne den Verstand zu verlieren auf die Mechanismen dieser Nicht-Argumentation hingewiesen: "Dass der echte Fanatiker", schreibt er in seiner, so der Untertitel, Anleitung zum subversiven Denken, "durch Argumente welcher Art auch immer nicht zu beeindrucken ist, gehört zu seinen Wesensmerkmalen."

Da Bade diesen Umstand verkennt, verströmt sein Buch eine traurige Vergeblichkeit. Anhänger Sarrazins werden es nicht lesen und wenn sie es tun, werden sie sich bestätigt sehen. Gegner Sarrazins, die es lesen, werden sich ebenfalls bestätigt sehen. So bleibt es bei einem intellektuellen Nullsummenspiel. Gegen Sarrazin braucht es keine dicken Bücher, sondern geduldiges Abwarten. "Ideologien", so noch einmal Schleichert, "werden nicht widerlegt oder besiegt, sondern sie werden obsolet, ignoriert, langweilig, vergessen." Also: vergessen wir's!

Andreas Pflitsch

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Klaus J. Bade: "Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, 'Islamkritik' und Terror in der Einwanderungsgesellschaft", Schwalbach, Wochenschau Verlag 2013, 398 Seiten