Schwierige Verständigung zwischen den Volksgruppen

Kurden, Turkmenen und Araber reklamieren seit dem Fall Saddam Husseins die irakische Stadt Kirkuk für sich. Wie die gegensätzlichen Ansprüche aufgelöst werden sollen, ist noch völlig offen. Volker Perthes besuchte das Zentrum für Dialog und soziale Entwicklung in Kirkuk.

Sunnitische Muslime mit Wahlliste in Kirkuk; Foto: AP
Sunnitische Muslime betrachten während ihrer Sitzung im Rathaus die Wahlliste für die irakische Parlamentswahl

​​Abu Ibrahim hat es sich zur Aufgabe gemacht, zwischen den Gruppen zu vermitteln und deren Anliegen bei den Behörden Gehör zu verschaffen. Seit der Befreiung des Iraks ist Kirkuk ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen Parteien und den meisten anderen wichtigen politischen Kräften im neuen Irak gerückt.

Stadt und Umland sind heute in kurdischer Hand; die Peschmerga, die kurdischen Kämpfer, nicht die Amerikaner haben die Stadt im April 2003 eingenommen und seither unter Kontrolle. Die Schlüsselpositionen in Stadt- und Provinzverwaltung sind umbesetzt worden; alle Volksgruppen und die wichtigsten politischen Gruppen sind repräsentiert, die politische Führung und auch die Mehrheit im neu gewählten Provinzrat liegt eindeutig bei der von den beiden grossen kurdischen Parteien geführten Allianz.

Saddams Hypothek

Die Kurden fordern, dass Kirkuk ein Teil des kurdischen Teilstaates wird; Araber und Turkmenen lehnen das mehrheitlich ab. Die Kurden fordern auch, dass die Arabisierungspolitik des alten Regimes rückgängig gemacht wird. Ein überparteiliches Komitee hat die schwierige Aufgabe, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie dies geschehen kann, ohne dass neues Unrecht geschaffen wird:

Es geht nicht nur um die Rückkehr enteigneter und vertriebener Kurden, sondern möglicherweise auch um die Rücksiedlung mindestens eines Teils derer, die im Zuge der Arabisierungspolitik angesiedelt worden sind.

"Wir sind Teil der Zivilgesellschaft", sagt Abu Ibrahim, als er uns in dem unscheinbaren Einfamilienhaus empfängt, das dem Zentrum als Sitz dient. Eine gut bewaffnete Zivilgesellschaft allerdings: Auf der Mauer, die das Grundstück umfasst, ist ein Ausguck angebracht, von dem aus ein Peschmerga die Strasse überwacht; ein knappes Dutzend Kalaschnikowträger sichern die Einfahrt und das Haus selbst. Versöhnung ist nicht jedermanns Sache; eine Organisation wie die Abu Ibrahims kann leicht zum Ziel von Anschlägen werden.

Abu Ibrahim heisst eigentlich Khudr Akbar Hassan Kussayir Hamdani und ist ein kleiner, flinker Mittvierziger. Er redet leise und eindringlich und schaut dabei seinen Gesprächspartnern ins Gesicht. Er ist eine Art politischer Sozialarbeiter, leitet das nationale Zentrum für Dialog und soziale Entwicklung in Kirkuk.

"Es ist kein Wunder", sagt Abu Ibrahim, "dass die Kurden kein Vertrauen in die Araber haben – schon gar nicht in dieser Stadt." Die Araber wiederum fürchteten, dass die Kurden sich rächen wollten, wisse man auf arabischer Seite doch, dass die Kurden diskriminiert wurden, dass man ihnen unter Saddam Hussein verboten hatte, Grundbesitz in Kirkuk zu erwerben, und dass so mancher in ein Haus oder auf ein Stück Land gezogen ist, das kurdischen Besitzern genommen worden war.

Abu Ibrahim und seine wenigen Mitarbeiter bemühen sich, Araber und Kurden zusammenzubringen. In Kursen an Schulen und im eigenen Zentrum wird Arabern aus der Provinz zum Beispiel erklärt, was Kurdistan ist, und werden kurdische Teilnehmer über den Schiismus aufgeklärt. Abu Ibrahims Haupttätigkeit besteht aber in der Vermittlung: Er schafft Kontakte zwischen arabischen Einwohnern der Provinz und den Behörden, beseitigt Missverständnisse, versucht Interessen auszugleichen, Furcht und Misstrauen zu überwinden.

Abu Ibrahims Beziehungsnetz

Abu Ibrahim glaubt an die Kraft von Kontakten und Kommunikation, und er geniesst das Vertrauen aller Seiten. Die neuen Behörden in Bagdad und Kirkuk hören auf ihn, weil er mit den Führern der heute herrschenden Parteien im Exil war, die Araber und die Kurden, weil er einer der Ihren ist.

Abu Ibrahims Vater ist Araber, seine Mutter Kurdin, drei seiner acht Brüder waren Offiziere in der Republikanischen Garde des alten Regimes; die Anzahl seiner Schwestern kenne ich nicht. 37 Neffen und 43 Nichten habe er, sagt Abu Ibrahim, das helfe, gute Kontakte im Milieu der arabischen Stämme zu haben; irgendwie kenne man so schliesslich jeden. Und jeder kennt zumindest die Familie Abu Ibrahims.

Tatsächlich kämen die Araber, die über Jahrzehnte daran gewöhnt waren, die herrschende Volksgruppe zu sein, erst langsam mit den neuen Verhältnissen zurecht. Bevor sie zu einem kurdischen oder einen turkmenischen Beamten in Kirkuk gingen, kämen sie lieber zu ihm, sagt Abu Ibrahim. "Die sind noch nicht bereit, bei einem Kurden auch nur einen Moment an der Tür zu warten", erklärt Abu Ibrahim, "doch bei mir, da macht ihnen das nichts aus, kränkt es ihre Ehre nicht, auch wenn sie vier Stunden im Vorgarten warten müssen."

Zwei Gruppen sind es, die ich in Abu Ibrahims Zentrum treffe; für beide ist so viel Zeit da wie nötig, auch wenn dann immer andere warten müssen. Zuerst sitzen da fünf Vertreter der Jabur, eines alteingesessenen, grossen Stammes, dessen Siedlungsgebiet auch Teile der Provinz Kirkuk umfasst. Die fünf kommen aus dem Landkreis Zab, der 36 Dörfer mit insgesamt wohl 50.000 Seelen umfasst, wie der Kreisdirektor Abush Ahmad Jaburi erklärt.

Die Lage sei schlecht in den Dörfern. Mit der "Veränderung" – so spricht man hier vom Sturz des alten Systems – und nach der Auflösung der Armee sei die Arbeitslosigkeit hochgeschnellt auf wohl 80 Prozent in den Dörfern. Da müsse man sich nicht wundern, wenn Terroristen kämen und hundert oder zweihundert Dollar für einen Anschlag böten, dass dann auch der eine oder andere bereit sei zuzugreifen.

Widerstehen oder sich arrangieren?

Es sei ja gut, dass die Nationalgarde allmählich grösseren Erfolg über die Terroristen habe, meint der Kreisdirektor, aber es würden immer wieder Leute verhaftet, die unschuldig seien, und dies gerade in den Dörfern seines Landkreises.

"Wissen Sie", ergänzt Jaburi, "wenn die Nationalgarde kommt und eine Hausdurchsuchung macht und – die Garde ist heute ja aus Arabern und Kurden zusammengesetzt – wenn dann ein Soldat kurdisch spricht und vielleicht eine Lampe zerschlägt, dann sagen die Leute: Der Kurde hat unsere Lampe zerschlagen! Und wenn sie die Türen eintreten, die Frauen beleidigen und erwachsene Männer vor ihren Frauen demütigen, dann verlieren wir diese Männer vielleicht – dann stellen sie sich letztlich auch auf die Seite der Terroristen."

Wäre es da nicht besser, wenn die Nationalgarde etwa den Kreisdirektor oder Vertreter der Dörfer fragte, bevor sie eine Hausdurchsuchung machten und jemanden verhafteten, fragt Jaburi. "Wir kennen doch die Leute bei uns! Unter den 50.000 Einwohnern des Kreises gibt es nicht mehr als hundert Terroristen – und die sind uns bekannt."

"Haben wir uns", fragt Abu Ibrahim, als ob er sich selber da einbeziehe, "nicht auch ein bisschen viel Zeit gelassen, um die neue Lage zu akzeptieren und mit dem Staat zusammenzuarbeiten?" Doch der Vermittler zeigt auch Verständnis:

Sicher seien viele noch skeptisch, was die neue Lage anginge, manche fragten sich, warum Saddam Hussein noch nicht abgeurteilt sei, andere glaubten, dass er doch heimlich mit den Amerikanern im Bunde stehe, und viele, die unter der Baath-Partei gross geworden seien, fänden es sicher seltsam, wenn heute Schiiten regierten und Kurden Föderalismus einforderten: "Das hört sich für manche von uns doch an wie ein Projekt zur Spaltung des Irak."

Abu Ibrahims Worte kommen gut an bei den Besuchern vom Stamme der Jabur. Irgendwie waren ja alle in den Partei-, Staats- oder Sicherheitsinstitutionen des alten Regimes beschäftigt. Man hat in der Vergangenheit im Dienste des Regimes gestanden, hat die ersten zwei Jahre nach dem Zusammenbruch dieses Regimes den neuen Verhältnissen eher feindlich, bestenfalls abwartend gegenübergestanden, dem Widerstand gegen die Besatzung zumindest einige Sympathie entgegengebracht.

Auf jeden Fall wurde manches Auge zugedrückt, wenn terroristische Elemente, die Anschläge auf Zivilisten oder auf Institutionen des neuen Systems verübten, in den eigenen Dörfern Zuflucht fanden.

Sich mit der Wirklichkeit abfinden

Die Antwort auf meine Nachfrage, warum Kreisdirektor und Notabeln nicht mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten und diesen die Namen der wenigen Terroristen geben, bleibt flach. Die neuen Sicherheitskräfte, sagt einer, seien ohnehin von den Terroristen unterwandert, heisst es etwa. Und, erklärt ein anderer, auch wenn man die Namen Einzelner kenne, dann müsse man schliesslich auch berücksichtigen, dass man in einer Stammesgesellschaft lebe, wo dieser vielleicht ein Neffe oder der Neffe eines Vetters sei. Und das gehe nicht, dass man so jemand an Fremde ausliefere.

Tatsächlich aber, ergänzt ein weiteres Mitglied der Gruppe, nehme die Bereitschaft seiner Leute, mit den neuen, irakischen Sicherheitsbehörden zusammenzuarbeiten, allmählich zu. Die Parlamentswahlen und die Wahl eines neuen Staatspräsidenten hätten eine Rolle gespielt, und wenn die neuen Machthaber nun endlich darangingen, Saddam Hussein und andere Symbole des alten Regimes abzuurteilen, dann würde das Vertrauen in den neuen Irak sicher wachsen.

Man erkennt also, dass das neue System Fuss gefasst hat und wahrscheinlich bleiben wird – und dass es deshalb besser sein dürfte, sich mit der neuen Wirklichkeit abzufinden und sich auf die Seite der neuen Macht zu stellen.

Ein Vorschlag in Ehren

Die fünf Jaburi haben einen Vorschlag mitgebracht. "Wir haben dreitausend Leute", sagt der Kreisdirektor, "die bereit sind, sofort in die Nationalgarde einzutreten. Lasst uns ein Bataillon bilden, und wenn es nur aus tausend Soldaten besteht. Wir stellen alles, Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere. Und gebt uns eine Polizeidirektion im Kreis. Es gibt genügend Rekruten, das würde zweihundert, dreihundert Leuten aus der Arbeitslosigkeit helfen."

"Aber wer", fragt Abu Ibrahim vorsichtig nach, "sollte ein solches Bataillon denn führen?" Kein Problem, antworten gleich mehrere der Gäste. Zwei, drei Namen werden genannt, der Oberst Muhib oder der Oberst Issa, alles erfahrene Leute. "Gut", sagt Abu Ibrahim, "dann kommt doch nächste Woche wieder und bringt mir eine Liste mit Vorschlägen für den Namen eines Kommandeurs und für die Stabsoffiziere. Wenn die Namen in Ordnung sind, dann gebe ich euch das Bataillon."

Die Sitzung ist beendet. Nein, erklärt Abu Ibrahim mir dann auf meine erstaunte Frage, natürlich könne er den Jaburi nicht die Aufstellung eines Bataillons genehmigen. Dafür sei das Verteidigungsministerium zuständig, aber seine Kontakte seien gut genug, um hier weiterzuhelfen.

Einheiten aus Angehörigen eines Stammes und eines Landkreises gebe es auch andernorts, die Bereitschaft, dieses Experiment auch hier zu machen, sei wohl vorhanden. Nur müsse man eben die Namen derer, die für Kommandopositionen vorgeschlagen werden, genau überprüfen. Man wolle schliesslich nicht, dass Elemente des alten Regimes Teile der Nationalgarde in die Hand bekämen.

Unzureichende Infrastruktur und keine Unterstützung

Die nächste Gruppe, die zu Abu Ibrahim will, sitzt schon seit gut eineinhalb Stunden im Vorgarten. Achtzehn schiitische Notabeln, alle im traditionellen langen Gewand, dem schwarzen Mantel und der doppelt gelegten schwarzen Kordel auf dem Kopftuch. "Wir Araber des Südens", beginnt der Älteste unter ihnen, ein weissbärtiger, grosser Typ, den alle Abu Sadun nennen, "wir sind vor allem Iraker. Und diese Stadt, Kirkuk, ist Teil des Iraks, ist Teil unseres Landes."

Er erklärt, wie seine Leute in den achtziger oder neunziger Jahren aus verschiedenen Gründen hierher gezogen sind, sei es wegen des Krieges mit Iran, der das Leben im Süden schwer gemacht habe, sei es, weil Saddam Hussein die Sümpfe, den Lebensraum eines Teils der schiitischen Bevölkerung im Süden, zerstört habe, sei es auch nur, um ein besseres Auskommen zu finden.

Bevor man nach Kirkuk gekommen sei, sagt Abu Sadun, hätten fast alle in der Landwirtschaft gearbeitet. Manche seien hier Bauern geblieben, die meisten aber seien Beamte geworden oder Militärs. Er selbst, antwortet der Stammesführer auf meine Frage, sei Polizist gewesen und habe auch ein Diplom in Telekommunikation. Jetzt sei er pensioniert und in derselben Lage wie die meisten Pensionäre: Man erhalte gerade einmal 75.000 Dinar im Monat (umgerechnet ungefähr 40 Euro), und wenn einer sieben, acht Kinder habe, dann reiche es eben vorne und hinten nicht.

Die meisten von Abu Saduns Begleitern haben mehr oder weniger das Gleiche zu sagen: Die meisten Leute seien arbeitslos, die staatlichen Dienstleistungen seien unzureichend, auch sie als Zuwanderer lebten in Stadtvierteln ohne ausreichende Beleuchtung und weiterführende Schulen, es gehe ihnen also genauso schlecht wie den eingesessenen Einwohnern Kirkuks.

Einer sagt, er sei der Scheich eines Stammes und Vorstand des Bauernverbandes in der Provinz Kirkuk. Der Staat habe einen damals im so genannten Sicherheitsgürtel angesiedelt, habe Land zugeteilt, beim Hausbau geholfen, Saatgut und Dünger zur Verfügung gestellt und auch ein Handgeld gegeben. Aber all diese Leistungen kämen jetzt nicht mehr, kein Saatgut, keine Düngemittel. Zweitausend Familien seien schon weggegangen, weil sie keine Unterstützung mehr erhielten.

200.000 Leute deportieren?

"Wir fordern von Gott, von Präsident Talabani und von der Regierung, diese Probleme zu lösen", sagt der Scheich. "Wir wollen keine Probleme machen, aber eine gerechte Entschädigung, wenn wir wieder wegziehen sollen, die wollen wir schon haben", spricht der Scheich – und geht. Die Frage eines der Mitarbeiter von Abu Ibrahim, ob Leute wie der "Bruder Landwirt" sich je gefragt hätten, auf wessen Land sie lebten, bleibt unbeantwortet. Wo heute nämlich zweitausend arabische Familien lebten, seien vorher wohl viertausend kurdische vertrieben worden.

Zu der Männerrunde hat sich, mit einigem physischem Abstand, eine Lehrerin gesellt. Sie ist Anfang Vierzig, hat sich in dieser Umgebung der Stammesältesten und Notabeln ein Kopftuch umgebunden, das ihr allerdings immer wieder verrutscht. Auch sie sei im Zuge der Arabisierungspolitik nach Kirkuk gekommen, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Und jetzt solle man wieder vertrieben werden?

Sie persönlich, sagt sie, könne ja vielleicht zurückkehren in den Süden, aber die Tochter, der Sohn? Die seien hier schliesslich aufgewachsen. "Sind wir denn eine Ware, die hin und her transportiert wird?" Jeden Tag fürchte sie, dass man ihr sage: "Hau ab!"

Die Notabeln nicken gefällig und haben selbst noch viel zu sagen. Abu Sadun gibt zu, Saddam Hussein habe viele Fehler gemacht, dazu gehöre die Umsiedlung der Kurden genauso wie die Vertreibung von Schiiten nach Iran. Aber jetzt könne man doch nicht plötzlich 200.000 bis 300.000 Personen deportieren wollen – nicht Fehler mit Fehlern vergelten.

"Wir haben keine Probleme mit Kurden oder Turkmenen", ergänzt er, selbst eine seiner Töchter habe er vor drei Monaten mit einem Kurden verheiratet. "Früher", räumt er dann ein, "vor einem Jahr noch, da hätte ich das vielleicht nicht getan." Aber im neuen Irak, da solle jeder sein Recht bekommen, der Kurde, der Araber, alle. Und die Stadt Kirkuk, die solle ein Beispiel werden für den neuen Irak.

Jeder sieht nur sein Problem

An dieser Stelle hält es meine kurdische Begleiterin nicht mehr aus: "Selbst in den offiziellen Dokumenten Saddam Husseins werdet ihr doch die 'Begünstigten' genannt. Das haben wir doch nicht erfunden. Könnte einer von euch, statt dass ihr euch immer nur als Opfer darstellt, einmal die Tausenden von zerstörten kurdischen Dörfer erwähnen?" Hier sieht aber jeder nur sein eigenes Schicksal und seine eigenen Zukunftsängste.

Abu Sadun versichert, er habe Vertrauen in das Parlament und natürlich in die Marjaiya, das heisst die religiöse Autorität Ayatollah Ali Sistanis: "Wenn Sistani uns sagt, verlasst die Gegend hier, dann gehen wir. Und wenn er uns sagt, stimmt für Kurdistan, dann stimmen wir eben für Kurdistan."

Es ist später Nachmittag geworden, wir wollen Kirkuk verlassen, bevor es dunkel wird. Einer der Notabeln, Scheich Feisal, bemüht sich am Schluss noch einmal, die Hand zu den neuen Machthabern auszustrecken: "Jalal", sagt er und meint damit Jalal Talabani, den neuen Staatspräsidenten, "wird den Hungrigen sicher zu essen geben, wird für sauberes Trinkwasser sorgen und wird uns Gerechtigkeit bringen."

Man hat im Irak jahrzehntelang gelernt, den Präsidenten zu preisen. Opportunismus spielt eine Rolle, gewiss, vor allem aber auch Furcht und Existenzangst. Die gibt es nicht nur in Kirkuk, aber sie bündeln sich hier. Und nur wenn man sie überwindet, könnte Kirkuk zum Symbol eines neuen Irak werden, nicht zum Brennpunkt seiner inneren Konflikte.

Volker Perthes

© Neue Zürcher Zeitung

Volker Perthes ist designierter Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Eine ausführlichere Fassung des hier veröffentlichten Beitrags wird in seinem kommenden Buch "Orientalische Promenaden" veröffentlicht, das im Frühjahr 2006 erscheinen soll.

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