Die richtige Katastrophe kommt erst noch

Im Frühsommer erschrak die Welt über die Pogrome in Kirgistan. Danach geschah das Übliche: Das Land wurde wieder von der Weltöffentlichkeit vergessen. Doch das könnte schwerwiegende Folgen haben, die über die Grenzen Zentralasiens hinaus reichen. Von Louise Arbour

Plünderung der Zentrale der Vaterlandspartei; Foto: AP
Louise Arbour fürchtet eine weitere Eskalation in Kirgistan: "Wenn die Welt hier nicht schnell und mutig reagiert, werden die Folgen verheerend sein."

​​ Es gibt ein Loch in der Landkarte Zentralasiens; früher war dort einmal Kirgistan. Einst galt das Land als Außenposten inmitten instabiler autoritärer Regime, als ein Land, in dem relative Toleranz und Demokratie herrschten. Heute ist das Land zutiefst gespalten, die Staatsgewalt praktisch nicht mehr vorhanden. Wenn die Welt hier nicht schnell und mutig reagiert, werden die Folgen verheerend sein.

In den vergangenen Monaten erlebte Kirgistan einen schwindelerregenden Sturz ins politische Chaos. Nach Jahren des Missmanagements und der Korruption wurde Präsident Kurmanbek Bakijew im April von einer provisorischen Regierung abgelöst, der es aber nicht gelingt, die Autorität über wichtige Teile des Landes zu gewinnen.

Weil die Staatsgewalt so schwach ist, erschütterte im Juni eine Explosion aus Gewalt, Zerstörung und Plünderung den Süden Kirgistans. Kirgisen und die usbekische Minderheit bekämpften einander, Hunderte Menschen, meist Usbeken, starben. 2000 Gebäude wurden zerstört, vor allem Wohnhäuser. Der Graben zwischen den ethnischen Gruppen ist noch tiefer geworden.

Sollte die Zentralverwaltung einst die Kontrolle über den Süden des Landes beansprucht haben - seit diesem Gewaltausbruch hat sie sie verloren.

Neue Anhänger des Extremismus

Melis Myrzkmatow, der umtriebige und resolute junge nationalistische Bürgermeister von Osch, der größten Stadt im Süden, entkam dem Blutvergießen. Er ist politisch mächtig wie nie, sein Extremismus gewinnt immer neue Anhänger – wie viele, das zeigte sich, als Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa ihn zum Rücktritt aufforderte.

Kirgisische Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa; Foto: AP
Schwindelerregender Sturz ins politische Chaos: Die kirgisische Staatsgewalt unter der Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa ist zu schwach, um die Unruhen im Süden des Landes eindämmen zu können.

​​Er sagte schlicht nein und rief der jubelnden Menschenmenge in Osch zu, dass die Zentrale in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek keine Macht über den Süden mehr habe. Er ging sogar noch weiter: Er forderte, dass Osch zur Hauptstadt des Landes erklärt werden sollte.

Nun ist der Kampf zwischen der erniedrigten provisorischen Regierung und dem widerspenstigen Bürgermeister offen ausgebrochen. Das klingt nach einem Provinzkonflikt, doch er stellt ein ernstes Sicherheitsproblem für die ganze Region dar – und weit darüber hinaus.

Solange der Süden Kirgistans außerhalb der Kontrolle der Zentralgewalt ist, wird der Drogenhandel in dem Land weitergehen. Schon jetzt ist er ein wichtiger Macht- und Wirtschaftsfaktor der Region. Das Büro der Vereinten Nationen zur Bekämpfung von Drogen und Kriminalität (UNODC) schätzt, dass jeden Monat insgesamt 95 Tonnen an Betäubungsmitteln Zentralasien in Richtung Russland und Europa passieren. Es nennt die Stadt Osch einen "regionalen Knotenpunkt der Handelsaktivitäten".

Gewaltbereiter Nationalismus

Und so könnte die Region auch bald ein willkommenes Umfeld für islamistische Kämpfer werden. Das politische Vakuum eröffnet ihnen die Gelegenheit, neue Rekruten und Anhänger zu gewinnen.

Die Juni-Pogrome haben gezeigt, dass der nächste Gewaltausbruch zwischen Kirgisen und Usbeken unvermeidbar ist, sollte es nicht gelingen, den extremen Nationalismus auf beiden Seiten zu begrenzen. Kommt die Gewalt zurück, dann wird die unterlegene Bevölkerungsgruppe die islamistischen Radikalen um Hilfe bitten.

Ehemaliger kirgisischer Präsident Kurmanbek Bakijew; Foto: AP
Gestürzt wegen Korruption: Der ehemalige Präsident Kirgistans, Kurmanbek Bakijew, musste im April seinen Posten räumen. Er hinterließ ein instabiles und heruntergewirtschaftetes Land.

​​Der Weg zurück zu Stabilität im Land wird lang und schwierig sein, nicht zuletzt, weil es keine zuverlässige Macht oder wenigstens eine Beobachtertruppe in der betroffenen Gegend gibt. Kirgistan benötigt endlich eine international unterstützte Untersuchung der Pogrome. Das Land braucht eine internationale Polizeitruppe und diplomatische Präsenz, damit sich die Gewalttaten nicht wiederholen. Und schließlich braucht es Hilfe, damit die Städte genauso wie die Zivilgesellschaft wieder aufgebaut werden können.

Appell an die internationale Gemeinschaft

Im Augenblick sind die Aussichten, dass all dies geschieht, nicht sehr vielversprechend. Selbst die viel zu spät entsandten 52 unbewaffneten Polizisten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind zum Ziel des kirgisischen nationalistischen Zorns geworden.

Leider scheuen sowohl die Zentralregierung als auch die OSZE eine Herausforderung. Doch wenn die staatliche Gewalt unwillig oder nicht in der Lage ist, die Situation eines Landes zu stabilisieren, dann muss die internationale Gemeinschaft aktiv werden.

Zerstörungen nach den Unruhen in Osch; Foto: DW
Die Pogrome vom Juni haben den Graben zwischen den Ethnien weiter vertieft. Louise Arbour glaubt, dass der nächste Gewaltausbruch zwischen Kirgisen und Usbeken unvermeidbar ist.

​​Die Welt muss – schon aus Eigeninteresse – die Untersuchung der Ereignisse vom Juni unterstützen. Dabei sollten internationale Organisationen wie das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte und das OSZE-Hochkommissariat für nationale Minderheiten eine zentrale Rolle spielen.

Organisationen wie diese haben den Sachverstand für eine solche Untersuchung. Über sie kann die internationale Gemeinschaft deutlich machen, dass die künftige Hilfe für Kirgistan von einer solchen Untersuchung abhängen wird.

Implosion eines Landes

Die Weltgemeinschaft braucht eine einheitliche Strategie für den Wiederaufbau Süd-Kirgistans. Anhand genauer Beobachtung muss sie gewährleisten, dass kein Geld an extreme Nationalisten oder korrupte Regierungsvertreter verteilt wird.

Die Geldgeber werden vor allem sicherstellen müssen, dass kein Geld die Regionalregierung in Osch erreicht, solange sie eine ausschließlich ethnische Politik betreibt und solange sie die Autorität der Zentralregierung nicht anerkennt.

Karte von Kirgistan; Quelle: DW
Melis Myrzkmatow, Bürgermeister von Osch, nimmt keine Befehle mehr von der Zentralregierung an. Diese Abspaltungstendenzen stellen laut Louise Arbour ein "ernstes Sicherheitsproblem für die ganze Region dar – und weit darüber hinaus."

​​Unglücklicherweise könnte es schon zu spät sein für alle Bemühungen, dem gespaltenen Land die Einheit wiederzugeben. Zu weit sind die Prozesse der Desintegration fortgeschritten, zu viel ist in diesem Jahr geschehen.

Deshalb muss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, deshalb müssen vor allem dessen Mitglieder USA und Russland, eine Krisenintervention planen, damit die Staatengemeinschaft in der Lage ist, kurzfristig und effizient auf alle Wellen der Gewalt und Flüchtlingsströme in der Region zu reagieren.

Die Weltöffentlichkeit hat die Pogrome im Juni nicht wahrgenommen, die Gewalt am Rande Europas hat sie nicht interessiert. Von daher scheint es sehr optimistisch zu sein zu glauben, dass die internationale Gemeinschaft die vorgeschlagenen Schritte unternimmt.

Doch was ist die Alternative? Die Alternative wäre, sich zurückzulehnen und der Implosion eines Landes zuzusehen – eines Landes, dessen Katastrophe Auswirkungen weit über die Grenzen Zentralasiens hinaus haben könnte.

Louise Arbour

© Süddeutsche Zeitung 2010

Die Kanadierin Louise Arbour, 63, ist Präsidentin der International Crisis Group. Bis 2008 war sie Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen. 2008 erhielt sie den Menschenrechtspreis der UN.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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