Im Zeichen der Gewalt

Amal Kashf Al-Ghitta, Leiterin der Islamischen Stiftung für Frauen und Kinder, beschreibt die alltägliche Misere von irakischen Kindern, die heute immer mehr zu Instrumenten der Gewalt reduziert werden.

Amal Kashf Al-Ghitta, Leiterin der Islamischen Stiftung für Frauen und Kinder, beschreibt die alltägliche Misere von irakischen Kindern, die heute immer mehr zu Produktionswerkzeugen und Instrumenten der Gewalt reduziert werden.

Schulkinder im Irak; Foto: AP
Vor allem Kinder werden mit der alltäglichen Gewalt im Nachkriegsirak konfrontiert und müssen häufig die Last der Kriegsfolgen tragen

​​Irakische Kinder haben mehr erlitten als nur aufeinander folgende Kriege und wirtschaftliche Sanktionen. Der Verlust von Eltern und familiären Einnahmen hat Kinderarbeit, Obdachlosigkeit und den Hang zu Gewalt und Rebellion verstärkt.

Viele von ihnen leben jetzt in Heimen, in denen sie sich 25 Personen 40 Quadratmeter Wohnfläche teilen. Sogar intakte Familien aus Eltern mit fünf Kindern leben teilweise zusammen in einem sechs Meter großen Zimmer.

Zunahme von Kinderarbeit

Die vermehrte Kinderarbeit reflektiert die düstere wirtschaftliche Lage der Familien: Kinder sind häufig die einzigen Ernährer einer Familie, und sie arbeiten für wenig Geld. So greifen beispielsweise Subunternehmer städtischer Einrichtungen bevorzugt auf Kinder zurück, um die Kosten zu senken.

In diesem Fall kann ein Kind für landwirtschaftliche Arbeit oder Hausmeistertätigkeiten eingesetzt werden. Viele arbeiten in Müllhaufen, die sie entweder an einen anderen Ort transportieren oder aus denen sie leere Flaschen und Dosen zum Verkaufen heraussammeln. Andere Kinder verladen und transportieren Waren auf den Märkten, wo sie bei Temperaturen von 50 Grad Celsius schwere Karren ziehen und Kisten tragen.

Es ist nicht überraschend, dass die Kinderarbeiter im Irak an einer großen Bandbreite ernster gesundheitlicher Probleme leiden. Kinder, die auf den Müllkippen arbeiten, sind anfällig für Haut- und Atembeschwerden, während diejenigen, die mit Farben arbeiten, irgendwann süchtig nach den Giftstoffen werden, die sie einatmen.

Und alle arbeitenden Kinder sind anfällig für Mangelernährung, da ihrer Nahrung typischerweise die Inhaltsstoffe fehlen, die für den Aufbau von Körpergewebe notwendig sind.

Es gibt auch keine offizielle Behörde zum Schutz der Kinder, die ihre Rechte in Fällen von Arbeitsunfähigkeit oder Krankheit verteidigen würde. Im Gegenteil, wenn Kinder nicht den Tageslohn abliefern, der von ihnen erwartet wird, werden sie oftmals von Familienmitgliedern geschlagen und wenn sie unaufmerksam sind oder ihnen ein Fehler unterläuft, von ihren Chefs.

Gewalt gegen Minderjährige

Irakische Kinder sind ohne Rücksicht auf ihr Alter und aus unzähligen Gründen Schlägen ausgesetzt und wachsen so unsicher, feindselig und gewalttätig heran. Zudem laufen sie Gefahr, von kriminellen Banden gekidnappt, zu Dieben oder Taschendieben ausgebildet oder, schlimmer noch, auf Gedeih und Verderb Terroristen zur Verwendung bei Attentaten ausgeliefert zu werden.

Die Verschlechterung der finanziellen Situation von Familien hat arme Kinder zudem ihrer Ausbildungschancen beraubt. Für viele Kinder, sogar wenn sie eine Schule besuchen, sind der Zusammenbruch der Infrastruktur, das Nicht-Vorhanden-Sein von Strom und Wasser sowie hohe Temperaturen im Sommer dem erfolgreichem Lernen kaum zuträglich.

Die geringe Anzahl der Schulen, der schlechte Zustand der Gebäude und der Zusammenbruch der Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern sind ebenfalls mitschuldig. Ältere Kinder sitzen mit wesentlich jüngeren in Klassenzimmern und werden eher frustriert und gewalttätig als zum Vorbild, dem andere nacheifern könnten.

Die Situation irakischer Mädchen

Irakische Mädchen leiden häufig mehr als Jungen. Am einen Ende des Spektrums der Entbehrungen sind ihre Möglichkeiten eingeschränkter. Wenn die Einnahmen einer Familie nicht ausreichen, um das Schulgeld für jedes Kind zu bezahlen, werden bezeichnenderweise Mädchen die Ausbildung verwehrt, was auf die traditionelle Überzeugung zurückzuführen ist, dass die Bestimmung von Mädchen in ihrer Heirat liegt.

Einerseits müssen sie die Hausarbeit verrichten und oft gewalttätiger Handlungen ausgesetzt, wenn sie den Anweisungen männlicher Familienmitglieder nicht nachkommen. In armen Haushalten ist es zudem wahrscheinlich, dass sie weniger Nahrung bekommen als Jungen, was ihre körperliche Gesundheit und Entwicklung umso stärker gefährdet. Andererseits gehören Vergewaltigung, Ehebruch, frühe Mutterschaft und Abtreibung zum bitteren Alltag im Irak.

Waisen, deren Zahl im Lauf der letzten fünfundzwanzig Jahre aufgrund von Kriegen, Wirtschaftssanktionen und Terrorismus drastisch gestiegen ist, sind besonders anfällig für die brutalste Art körperlicher und psychologischer Gewalt. Ohne ein Zuhause und ohne Eltern schlafen sie in Gassen, verkaufen Zigaretten oder Zeitungen und betteln. Ihre Großeltern sind häufig nicht in der Lage oder gewillt sich um sie zu kümmern, und durch die pathologische Ausbildung, die sie von kriminellen Banden erhalten, liegt es für eine Institution oft nicht im Rahmen des Möglichen, sie zu rehabilitieren.

So werden Kinder im Irak zu Produktionswerkzeugen und Instrumenten der Gewalt reduziert. Im Irak wird somit buchstäblich eine neue Generation der Zerrüttung herangezogen.

Amal Kashf Al-Ghitta

© Project Syndicate 2006

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

Die Autorin ist Mitglied der irakischen Nationalversammlung und Leiterin der Islamischen Stiftung für Frauen und Kinder.

Qantara.de

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