Zusammenprall von Nationalismen und Religionen

Das mehrheitlich von Muslimen bewohnte Kaschmir wurde in den vergangenen Wochen erneut von anti-indische Proteste erschüttert. Yogi Sikand bereiste die Unruheregion und kommt zu dem Ergebnis, dass der jahrzehntelange Konflikt vor allem auf religiöse und nationale Ansprüche Indiens und Pakistans zurückgeht.

Von Yogi Sikand

Reisende in Kaschmir sind oft verwundert ob der Tatsache, dass die Armut, die weite Teile Indiens charakterisiert, in Kaschmir kaum sichtbar ist: Jeder besitzt ein Haus oder zumindest ein wenig Land, und die Leute sehen im Vergleich zu ihren indischen Nachbarn gesünder und wohlgenährter aus. Und das, obwohl die letzten beiden Jahrzehnte von Krieg und zahlreichen Auseinandersetzungen geplagt waren, die die kaschmirische Wirtschaft ins Chaos stürzten. Doch in Srinagar, der Provinzhauptstadt Kaschmirs, wimmelt es nur so vor großen und prächtigen Residenzen, die man selbst in den schmucksten Vierteln Neu Dehlis nicht zu Gesicht bekommt.

Natürlich gibt es auch in Kaschmir arme Menschen, doch die Armut ist nicht so weit verbreitet und offensichtlich wie in weiten Teilen des von den Kaschmiris bewusst abgrenzend bezeichneten "Indien". Unter dem Eindruck dieser Beobachtungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass weder eine großzügige Kreditvergabe, noch reichlich ausgeschüttete Subventionen von Seiten der indischen Regierung die Kaschmiris von ihrem innbrünstigen Wunsch nach Unabhängigkeit abbringen oder gar ihre Herzen gewinnen können.

Auch die Versuche, mit dem Schreckgespenst einer nicht lebensfähigen autonomen kaschmirischen Wirtschaft oder der Versicherung, dass die Wirtschaft Kaschmirs durch eine Angliederung an Pakistan ins Chaos stürzen würde, können den Wunsch nach einem unabhängigen Kaschmir nicht eindämmen. Wenn aber der Wunsch nach Unabhängigkeit weder aufgrund akuter Arbeitslosigkeit noch aus einer weit verbreiteten Armut heraus entsteht, was treibt dann die Kaschmiris an? Was bringt sie dazu, seit Jahren einen Unabhängigkeitskampf gegen eine der stärksten Armeen der Welt zu führen, in dem schon mehr als hunderttausend ihrer Brüdern und Schwestern ihr Leben verloren?

Kaschmirischer Nationalismus

Ich habe den ganzen in seiner Komplexität verwirrenden Kaschmirkonflikt auf zwei ihm ursächliche Faktoren heruntergebrochen: Gegensätzliche Interpretationen nationaler und religiöser Ansprüche. ​​ Nationalismus und Religion sind als Ideologien absolut und können, wie es in Kaschmir und Indien offenkundig der Fall ist, totalitaristische Züge annehmen. Sie werden zu Ideologien, in denen mit den als "Feinde" gekennzeichneten Gegnern keine Kompromisse eingegangen werden können.

Maskierter kaschmirischer Demonstrant; Foto: AP
Zusammenprall der Ideologien: In einer muslimisch dominierten Lesart der Geschichte stellen die Bewohner des Kaschmir-Tales eine eigene, homogene kulturelle und ethnische Gruppe dar, die ihre Identität durch die Schaffung eines unabhängigen Kaschmirs auch politisch ausdrücken muss, schreibt Sikand.

Die "Feinde" dienen vielmehr als Hintergrund, ja als Kontrastfigur, vor dem die eigene nationale oder religiöse Identität erst richtig herausgebildet wird. In einer muslimisch dominierten Lesart der Geschichte stellen die Bewohner des Kaschmir-Tales eine eigene, homogene kulturelle und ethnische Gruppe dar, die ihre Identität durch die Schaffung eines unabhängigen Kaschmirs auch politisch ausdrücken muss. Der Anspruch auf ein unabhängiges Kaschmir resultiert auch aus der kolonialen Vergangenheit dieser Region. In dem Verständnis seiner Einwohner wurde Kaschmir Jahrhunderte lang fremdbestimmt, sei es durch die Moguln, die Pathans, die Sikhs, die indo-arischen Dogras oder wie momentan durch Indien – aber auch durch Pakistan im "Azad" genannten Teil Kaschmirs.

Der Wunsch nach Unabhängigkeit speist sich nicht zuletzt aus den Absprachen, die während der Teilung Britisch-Indiens 1947 zwischen den neu entstandenen Staaten Indien und Pakistan getroffen wurden. Die Kaschmiris weisen regelmäßig darauf hin, dass es niemand geringeres als der erste Premierminister Indiens, Jawaharlal Nehru gewesen war, der feierlich verkündete: Indien wird seinen Verpflichtungen gegenüber den UN nachkommen, indem es die Kaschmiris selbst über ihre politische Zukunft entscheiden lassen wird. Ein Versprechen, das bis heute auf seine Einlösung wartet.

Die indische Lesart des Kaschmirkonflikts verfolgt entsprechend einen anderen Weg. Einem freien und unabhängigen Kaschmir wird dort kein Platz eingeräumt. Es gilt durchzusetzen, wenn nötig auch durch das Mittel der Gewalt, dass die Kaschmiris sich selbst als Inder und ihr Land als integralen und untrennbaren Bestandteil Indiens wahrzunehmen haben. Diese beiden Nationalismen, der indische und der kaschmirische, treffen sich in keinem einzigen Punkt in ihren Ansichten, und keine der beiden Seiten ist dazu bereit, dem Anderen auch nur das geringste Zugeständnis zu machen.

Religiöse Identität

Miteinander konkurrierende Verständnisse von Religion oder auf Religion basierender Identitäten stellen den anderen Grund für den Wunsch der Kaschmiris nach Unabhängigkeit dar. Dabei ist diese religiöse Frage untrennbar mit der Konzeption des religiösen "Anderen" in der islamischen Orthodoxie verbunden. ​​Dem religiösen "Anderen" kann und wurde und wird in der islamischen Tradition durchaus in einer positiven und respektvollen Art und Weise begegnet. Aber das stellt heute doch eher die Herangehensweise einer kleinen Minderheit von muslimischen Exzentrikern dar, die zumeist aus den mystischen oder modernen Strömungen des Islam kommen. Diese Minderheit hält sich weitestgehend am Rande der islamischen Gemeinschaft auf und ihre Anhänger werden nicht selten als Abweichler diffamiert. Die geläufige Vorstellung vom religiösen "Anderen", und zwar auf einer globalen Ebene und nicht nur in Kaschmir, ist dagegen schamlos entwertend und diffamierend.

Jamia-Masjid-Moschee in Srinagar, Kaschmir; Foto: Wikimedia Commons
"Jedes Mal, wenn es zur einer Unterdrückung der Kaschmiris durch den indischen Staat kommt – und Zeitungs- und Fernsehberichte deuten an, dass dies unvermindert geschieht – verfestigt sich das negative Bild, das sich die Kaschmiris von Indien machen", schreibt Sikand.

Ein enger Umgang mit Nichtmuslimen oder auch nur eine vorsichtige Annäherung an deren Verhaltensweisen wird missbilligt und in vielen Fällen streng zurückgewiesen und verurteilt. Dahinter steht die Furcht, dass ein zu enger Kontakt zu den "Anderen" die Muslime vom wahren Islam abbringen könnte. Jedes Mal, wenn es zur einer Unterdrückung der Kaschmiris durch den indischen Staat kommt – und Zeitungs- und Fernsehberichte deuten an, dass dies unvermindert geschieht – verfestigt sich das negative Bild, das sich die Kaschmiris von Indien machen. Unter diesen Umständen liegt ein friedlicher Ausgleich zwischen beiden Parteien noch in weiter Ferne. In diesem Zusammenhang scheint es durchaus vorstellbar, dass ein direktes und energisches Entgegengetreten des indischen Staates gegenüber jedweder anti-muslimischem Aktionismus national-chauvinistischer Hindus, die Kaschmiris dazu bewogen hätte, nicht so negativ über Indien und die Hindus zu denken, wie sie es jetzt tun.

Anti-muslimische Hindus

Um fair zu sein, muss man allerdings auch erwähnen, dass der religiöse Status des "Anderen" in der allgemeinen Auffassung der Hindus nicht weniger problematisch ist. Im Laufe der Jahre musste ich eine Vielzahl an anti-muslimischen Tiraden von Hindus erdulden, die ich im Hindu-dominierten Jammu getroffen habe. Die Hindus aus Jammu, der Winter-Hauptstadt der Provinzen Jammu und Kaschmir, hatten nichts als die erlesensten Schimpfwörter für die Muslime übrig. ​​ Während meiner Studien über die Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen in Doda, dem einzigen Distrikt in Jammu und Kaschmir, in dem Hindus und Muslime paritätisch leben, habe ich viele selbsternannte Hindu-Gelehrte und Bettelmönche getroffen, und bis auf einige Ausnahmen betrachteten sie die Muslime als unreine, Kühe schlachtende Unholde, mit denen ein Hindu sich besser nicht abgeben sollte. Diejenigen Hindus, die schon seit Jahrzehnten herzliche Beziehungen zu den Muslimen pflegten, verurteilten sie aufs schärfste. Das Problem negativer Stereotypen des religiösen "Anderen" in Kaschmir ist also keineswegs ein rein muslimisches.

Ein islamischer Staat Kaschmir

Islamische Ideologen, die ich in Kaschmir getroffen habe, bestanden darauf, dass die Ursachen für den Kaschmirkonflikt nicht in politischen Fragen gründen. Vielmehr – und da stimmen sie sich mit den nationalchauvinistischen Hindus überein – gehe es ausschließlich um Religion, oder wie sie es nennen, um den Jihad.

​​Vor einigen Jahren habe ich ein Interview mit Syed Ali Geelani geführt, dem Hauptideologen der islamistischen Strömungen in Kaschmir und ehemaligen Führer der Jamaat-e Islami. Für die Massen, die in heute in Srinagar gegen Indien demonstrieren, ist sein Wort Gesetz geworden. In jenem Interview erklärte er mir, dass der Kaschmirkonflikt ein Konflikt zwischen dem Islam auf der einen, und den kufr, den Ungläubigen, auf der anderen Seite sei. Der Islam, so führte er weiter aus, fordere von den kaschmirischen Muslimen ihren Kampf um Unabhängigkeit von Indien fortzuführen und einen, wie er es nannte, "Islamischen Staat" zu gründen.

Syed Ali Geelani; Foto: AP
"Es wird einen perfekten Minderheitenschutz geben": Syed Ali Shah Geelani, Verfechter eines "islamischen Staates" in Jammu und Kaschmir.

Als ich ihn darauf hinwies, dass bisher alle weltweiten Versuche einen islamischen Staat zu gründen grandios gescheitert seien, zuckte er bloß mit den Schultern: "Sie mögen nicht erfolgreich gewesen sein, aber immerhin haben sie es versucht. Wir Kaschmiris sind durch unseren Glauben dazu verpflichtet es zumindest auch zu versuchen", erklärte er ganz selbstverständlich. Aber, so fragte ich ihn, wie stehe es dann um die Nichtmuslime in Jammu und Kaschmir, die doch immerhin fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen? Diese sind doch bestimmt keine glühenden Verfechter der Idee eines "Islamischen Staates"? "Natürlich werden sie uns unterstützen", antwortete Geelani wie aus der Pistole geschossen.

"Wir müssen sie nur von der Schönheit eines solchen Staates überzeugen. In einem wahrhaft islamischen Staat, wie wir ihn errichten wollen, werden jeder Gruppe die gleichen Rechte zugestanden und alle werden glücklich sein. Es wird einen perfekten Minderheitenschutz geben. Nicht so wie im Hindu-dominierten Indien, wo die Muslime so viele Benachteiligungen erleiden müssen." Als ich dieselbe Frage Sadullah Tantrey, dem mittlerweile verstorbenen Anführer der Jamaat-e Islami in Jammu stellte, entgegnete er mir markant und wie auswendig gelernt: "Der islamische Staat, für den wir kämpfen, wird ein Segen für die Hindus sein. Es wird sogar so gerecht sein, dass Hindus aus Indien in Scharen nach Kaschmir kommen werden, um sich hier niederzulassen."

Der Status der nichtmuslimischen Minderheiten

Es ist eher unwahrscheinlich, dass Nichtmuslime diese frommen Versicherungen ernst nehmen werden – dafür sind die Schriften und Äußerungen radikal-islamistischer Ideologen gegenüber nichtmuslimischen Minderheiten, die als dhimmis zu Bürgern zweiter Klasse verurteilt werden, zu eindeutig. Auch der Umgang der meisten islamischen Staaten, vor allem derer, die sich als besonders islamisch gerieren – Saudi-Arabien, Pakistan, Iran und Afghanistan unter den Taliban stehen hierfür exemplarisch – mit ihren nichtislamischen Minderheiten sind hinreichend bekannt. Dass Nichtmuslime dazu geneigt sein werden, den Wahrheitsgehalt der Versprechungen Gilanis und Tantrey selbst zu überprüfen, scheint mir eher unwahrscheinlich.

Kaschmir-Karte; Foto: Wikimedia Commons
Gebiestansprüche in Kaschmir: "Der Wunsch nach Unabhängigkeit speist sich nicht zuletzt aus den Absprachen, die während der Teilung Britisch-Indiens 1947 zwischen den neu entstandenen Staaten Indien und Pakistan getroffen wurden", schreibt Sikand.

​​ Wie die Anhänger eines unabhängigen Jammu und Kaschmir trotzt der offensichtlichen Opposition der Hindus aus Jammu und der Buddhisten aus Leh zu ihrer Idee immer wieder behaupten können, dass sie die einzig wahren Vertreter der Kaschmiris seien, verblüfft mich immer wieder auf Neue. Islamistische Führer wie Geelani und Tantrey behaupten immer, dass sie sich dafür einsetzen, dass sich Kaschmir als ganzes, also inklusive des Hindu-dominierten Jammu und des buddhistisch-dominierten Leh, von Indien löst um dann einen unabhängigen "islamischen Staat" zu gründen oder sich an Pakistan anschließen. Entgegen den Darstellungen in einigen indischen Medien ist es keineswegs so, dass die Islamisten um Geelani oder der Lashkar-e Tayyeba eine große Anhängerschaft unter den kaschmirischen Muslimen um sich scharen konnten.

Ich vermute, dass nicht viele Kaschmiris von Leuten wie den Taliban oder der Jamaat-e Islami regiert werden wollen. Ich kenne persönlich zahlreiche tiefgläubige Muslime, die darauf bestehen, dass der radikale Islam mit dem wahren Islam nichts zu tun habe. Doch viele trauen sich nicht, offen die in ihren Namen vertretenen Ansprüche abzulehnen. Es könnte ihnen auch das Leben kosten, wenn sie es täten, so wie es bereits tausendfach passiert es durch die indischen Ansprüche bezüglich Kaschmir. Und so, gefangen zwischen verschiedenen Interpretationen von Nationalismus und Religion, wird sich die Gewalt in Kaschmir wohl noch lange ihr Unwesen treiben – bis vielleicht die Menschen eines Tages in der Lage sein werden, ein weniger ausgrenzendes und toleranteres Verständnis von der Organisation menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln.

Yoginder Sikand

© Qantara.de 2010