Ein Orientalismus sächsischer Lesart

Noch immer erfreuen sich Karl Mays Werke im Westen großer Beliebtheit. Dabei zeugen viele seiner Bücher von Übertreibungen, Klischees und Zerrbildern der orientalischen Völker und Kulturen. Andreas Pflitsch informiert

Buchcover: Karl May

​​Die Neigung der Menschen, Zurückliegendes zu idealisieren, ist bisweilen verblüffend. "Ach, was waren das für schöne Zeiten", schrieb vor ein paar Jahren etwa die Zeitschrift DIE BUNTE, "als die Freundschaft von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar unser Bild vom Islam bestimmte..."

In der Tat prägten die viel gelesenen Abenteuerromane Karl Mays, wie Von Bagdad nach Stambul, Durchs wilde Kurdistan, oder Im Reich des Mahdi das Islam-Bild ganzer Generationen.

Die besserwisserisch-herablassende Attitüde der Europäer gegenüber dem Orient, die das späte 19. Jahrhundert kennzeichnete, kommt in den Werken aber mindestens ebenso deutlich zum Ausdruck, wie die Freundschaft zwischen dem Deutschen und dem Orientalen.

Eine Vita aus 1001 Nacht

May, der 1842 im sächsischen Ernstthal geboren wurde und aus ärmlichen Verhältnissen stammte, schlug als Jugendlicher zunächst eine Karriere als Kleinkrimineller ein, die ihm mehrere Gefängnisaufenthalte einbrachte. Er strickte zeitlebens an seiner Legende als Welt erfahrener Reisender und gab vor, mit seinen Helden identisch zu sein und die in seinen Werken beschriebenen Reisen durch den Orient und den ‘Wilden Westen’ selbst unternommen zu haben.

Er behauptete, vierzig Sprachen schreiben und lesen zu können und bezeichnete sich als "Übersetzer für Arabisch, Türkisch, Kurdisch und Indianerdialekte". In Wirklichkeit entstanden die Erzählungen des "großen Orientalisten und Indianertöters, des Ideals von tausend Gymnasiastenherzen", so die Augsburger Abendzeitung 1909, unter Zuhilfenahme von Konversationslexika, Atlanten, Reiseberichten, und Wörterbüchern im sächsischen Radebeul.

May reiste mit dem Finger auf der Landkarte im Arbeitszimmer seiner ‘Villa Shatterhand’, einer Phantasie-Welt voller Teppiche und Bärenfelle, orientalischer Möbel, Wasserpfeifen und Krummsäbel.

Orient als Phantasiebild

Erst 1899 unternahm der Autor seine einzige Reise in den Orient. Er mied jedoch die Gegenden, die er in seinen Reiseerzählungen so plastisch beschrieben hatte, und zog die Luxushotels vor, aus denen er große Mengen an Postkarten in die Heimat schickte. Abenteuerlich waren diese Reisen nicht.

Buchcover: Mit Kara Ben Nemsi durch den Orient

​​Die überbordende Phantasie des Autors ließ ihn bald an seine eigene Legende glauben. In seinem Reisetagebuch kommentierte er empört, was er in den deutschen Zeitungen lesen musste:

"Das eine Blatt behauptete, dass ich mich nicht etwa im Orient befinde; das sei Schwindel; ich stecke vielmehr in Tölz in Oberbayern, um heimlich in Jod zu baden. Meine Reisen seien überhaupt nur Lügen; ich ersinne alles am Schreibtisch daheim! Das war gehässig, aber lächerlich. Kein vernünftiger Mensch glaubte so etwas."

Die Abenteuer des edelmütigen Kara Ben Nemsi und seines treuherzigen orientalischen Dieners Hadschi Halef Omar entstanden in einer Zeit deutscher Kolonisationsbestrebungen. Die Helden reisen durch den Orient, um Land und Leute kennen zu lernen, die Guten zu belohnen und die Bösen zu strafen.

Die sich ständig wiederholenden Handlungsschemata, die durchschaubare "Schwarz-Weiß Malerei", der Kitsch der Darstellung und die kaum zu übertreffende Selbstverliebtheit des Helden sind augenscheinliche literarische Mängel – die jedoch der Begeisterung bei den Lesern über Generationen keinen Abbruch taten.

Sittenlose, raubsüchtige oder träge Orientalen

Der Orient wird bei May als Bedrohung dargestellt; unüberschaubar erscheinen dem Leser etwa die zahllosen kurdischen Stämme mit fremdklingenden Namen, die sich untereinander ständig bekämpfen und denen man, wie Kara Ben Nemsi nicht müde wird zu betonen, nicht trauen dürfe: "Man weiß hier in den Bergen doch niemals, ob man Freunde oder Feinde vor sich hat."

Die Kurden, Türken, Araber und Perser sprechen bei Karl May mit blumigen Worten und viel Pathos: "Auf seiner Zunge wuchs niemals die Lüge, und aus seiner Hand floss Wohltat über die Zelte, in denen Armut wohnte." Sie sind – der gewählten Ausdrucksweise zum Trotz – schwer von Begriff, bestenfalls nützliche Idioten.

Die Anführer der Stämme sind gerissen, haben fast immer "zornfunkelnde Augen" und sind grundsätzlich zwielichtige oder "dunkle Gestalten". Die Perser sind von "kriechendem Wesen", die Araber von "rauer Ehrlichkeit", Griechen sind "falsch", Armenier "sittenlos", Kurden "raubsüchtig" und Türken "träge".

Der grenzenlos selbstgerechte Eurozentrismus jener Zeit ist in Kara Ben Nemsi idealtypisch verkörpert. Er ist ein Held reinsten Wassers, der alles weiß, alles kennt und alles kann. Seine Überlegenheit ist notorisch, ja pathologisch. Er spricht nicht nur sämtliche Sprachen und Dialekte der Region, er übertrifft auch die Einheimischen in diesen Kenntnissen und muss zwischen Kurden und Arabern dolmetschen.

Selbstverständlich weiß er allein den Koran richtig zu interpretieren und den Muslimen zu deuten. Auch kennt er die Wege durch die Wüste besser als die Nomaden: Er zeigt ihnen, wo es lang geht. Zuletzt lassen sich auch die wildesten Kurden von der westlichen Moral überzeugen: "Effendi, du bist ein Christ. Ich habe die Christen bisher gehasst, heute lerne ich sie besser kennen. Willst du mein Freund und Bruder sein?" Ach, was waren das für schöne Zeiten...!

Andreas Pflitsch

© Qantara.de 2004

​​Andreas Pflitsch ist Autor des Buches "Mythos Orient - Eine Entdeckungsreise", Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2003, 189 Seiten. Lesen Sie dazu die Rezension auf Qantara.de.