Das Warten bestimmt alles

In seinem neuen Dokumentarfilm stellt Regisseur Karim Aïnouz nicht das Leid der Flüchtlinge in den Mittelpunkt. Ihn interessiert vielmehr, wie dort unter widrigen Bedingungen ein selbstorganisiertes Weiter- und Zusammenleben im Wartemodus entsteht. Von René Wildangel

Von René Wildangel

Der Film des brasilianischen Regisseurs Karim Aïnouz, der schon seit sechs Jahren in Berlin lebt, beginnt mit einer Führung über das historische Gelände des Flughafens Tempelhof, der von den Nationalsozialisten in gigantischen Ausmaßen ausgebaut wurde.

Durch die alliierte Luftbrücke nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er ein Wahrzeichen Westberlins, bis der Flugbetrieb 2008 eingestellt wurde. Seitdem ist das ehemalige Flugfeld zu einem der beliebtesten Parks der Stadt geworden. Ein symbolhafter Ort, der in den letzten Jahren wie die ganze Stadt im ständigen Wandel war. Der Einzug von Geflüchteten kam unverhofft und eigentlich als Notlösung.

Bis zu 1.300 Geflüchtete lebten hier seit Ende 2015. Karim Aïnouz begleitete die Bewohner über ein volles Jahr. Aufgrund seiner algerischen Herkunft, meint Aïnouz, war es einfacher für ihn ein Vertrauensverhältnis zu den Bewohnern aufzubauen. Aber es war kompliziert, eine Drehgenehmigungen zu erhalten.

Seines Wissens ist es der einzige Film der hier überhaupt entstehen konnte. Dabei haben wenige Ereignisse mehr Bilder erschaffen, als die Flüchtlingskrise. Im Kontrast zur atemlosen Berichterstattung der Medien bietet das Medium Film die Möglichkeit zu differenzierteren Annäherungen. So wie der italienische Beitrag Fuoccoamare, der 2016 den Goldenen Bären auf der Berlinale gewann und das Drama der Flucht über den Alltag der Bewohner auf der griechischen Insel Lampedusa schildert.

Einseitige Medien

Auch Aïnouz, bisher preisgekrönter Regisseur von Spielfilmen, hat für seinen Film bewusst einen Ansatz gewählt, der sich von den Nachrichtenbildern abgrenzt. "Ich glaube, wir haben genug Bilder von dramatischen Bootsfahrten und dem Elend auf den Fluchtrouten gesehen", sagt Aïnouz. Seit Beginn der Krise hat ihn nicht nur die reale Tragik dieser Bilder aufgewühlt, sondern auch die Einseitigkeit der Medien, die Flüchtlinge entweder auf Mitleid erregende Opfer oder bedrohliche Invasoren reduziert.

Kinoplakat "Zentralflughafen THF" von Karim Aïnouz
Existenzieller Zwischenzustand des Wartens: Ein Jahr lang hat der Filmemacher Karim Aïnouz zwei Flüchtlinge begleitet, den Syrer Ibrahim und den Iraker Qutaiba. Herausgekommen ist ein melancholisches, aber auch verhalten optimistische Doku, die bei der diesjährigen Berlinale läuft. Dem gebürtigen Brasilianer geht es darin um das Porträt einer Stadt in einer Stadt - und zugleich eines von Europa zwischen Utopie und Krise.

Mit seinem Film über die Flüchtlingsunterkunft Tempelhof will er etwas ganz anderes erreichen – abgesehen davon, dass er ursprünglich gar keinen Film über das Thema machen wollte. Aïnouz, von Hause aus Architekt, hatte bereits die Finanzierung für einen Film über die Berliner Flughäfen gesichert: Im Mittelpunkt sollten sowohl der neu zu eröffnende Flughafen BER als auch Tegel stehen, wo ein Ende des Flugbetriebs geplant war.

Aber am skandalumwitterten Neubau zu filmen wurde ihm untersagt und in Tegel der Flugbetrieb weiter fortgesetzt. Blieb noch Tempelhof, und als Aïnouz dort Ende 2015 ankam, zogen gerade die ersten Geflüchteten ein. "Es war kalt, es war unwirtlich, in den riesigen Hangars standen Zelte, es sah absolut nicht so aus als ob hier jemand wohnen könnte", erinnert sich der Regisseur. Der Entschluss, das alles zu dokumentieren, war gefasst.

Weiterleben im Wartemodus

Eigentlich sollten Geflüchtete hier nur für eine begrenzte Zeit untergebracht werden, aber in der überforderten Stadt werden es schließlich Jahre. Sie wissen nicht, wie es weitergeht. Sie wissen nur, dass sie nichts tun können, außer zu warten. Das Warten bestimmt alles.

Das gilt auch für die beiden Hauptprotagonisten des Films: Ibrahim Al-Hussein und Qutaiba Nafea. Ibrahim stammt aus der Nähe von Aleppo. Im Film nimmt er die Rolle des Erzählers ein, dessen Erinnerungen an sein Heimatdorf, an die Obstplantagen, an seine Familie immer wieder in Kontrast zum tristen Alltag in den Hangars stehen.

Ibrahim steckt ebenso in Tempelhof fest wie Qutaiba, der im Irak im Krankenhaus gearbeitet hat, aber einstweilen im Flüchtlingslager dolmetschen muss. Beide wissen noch nicht, ob ihr Asylantrag anerkannt wird, wann sie die Notunterkunft verlassen können und ob sie eine Chance in Deutschland bekommen.

Während die Menschen im Hangar im existenziellen Zwischenzustand des Wartens verharren, zieht draußen das Jahr vorbei. Jeder neue Monat wird im Film als ein neues Kapitel angekündigt, der Wechsel der Jahreszeiten taucht das Tempelhofer Feld in die unterschiedlichsten Stimmungen.

Bizarre Schönheit des Flughafens

Mal sieht das winterliche Flugfeld mit den Rodlern und Spaziergängern aus wie ein Gemälde von Bruegel, mal pulsiert das Partyleben in den lauen Sommernächten. Und als Silvester die Raketen aufsteigen, widerhallt in den Hangars das Echo des Krieges.

Die bizarre Schönheit des halbrunden Flughafengebäudes fängt die Kamera immer wieder mit poetischen Standbildern ein. Nur in den Hangars bleibt das Leben eintönig: zum immer selben Zeitpunkt wird es schlagartig hell und dunkel, wenn die grellen Neonstrahler morgens ein- und abends abgeschaltet werden.

Ein Privatleben gibt es in den containerartigen Strukturen nicht, die in den riesigen Hallen verloren wirken. Hier leben Familien auf engstem Raum, Decken und Fenster fehlen wegen der "Brandschutzbestimmungen". Eins der vielen umständlichen deutschen Wörter, die für die Bewohner nicht selbst erklärend sind.

Getrennte Welten

Was im Film in 90 Minuten vorüberzieht, bedeutet ein langes Jahr im Leben der traumatisierten Geflüchteten. Unfreiwillig ist Tempelhof zu ihrer vorübergehenden Heimat geworden. Ein kleiner Junge kann sich an keinen anderen Ort mehr erinnern. Jenseits des Zauns tobt das Berliner Leben auf dem Feld, aber die Welten bleiben getrennt.

"Ich will hier eigentlich keinen Vorwurf erheben", sagt Aïnouz. Die Trennung der Welten kennt er bestens aus brasilianischen Städten und den an den Rändern liegenden Favelas. Aber seine Empathie gilt den Bewohnern auf der anderen Seite des Zauns.

Er zeigt sie nicht als Opfer, sondern als Individuen. Wenn überhaupt, dann als Opfer der deutschen, der Berliner Bürokratie, die kaum funktioniert. Wie sollen die Menschen, die so isoliert leben müssen, sich "integrieren" in eine Gesellschaft, der sie sich nicht begegnen können? "Ich hasse das Wort Integration", meint Aïnouz, denn es bezeichnet seiner Meinung nach eine Einbahnstraße.

Dennoch hat er keinen aufrüttelnden Film geschaffen, den Aufstieg der AfD und den wachsenden Populismus klammert er aus. Es war eine bewusste Entscheidung, nur am Tempelhofer Flughafen zu drehen.

Herausgekommen ist ein melancholisches, aber auch verhalten optimistisches Porträt. Aïnouz glaubt an die Kraft Berlins als multikulturellen und toleranten Ort. Das spiegeln auch seine Protagonisten wider, die mittlerweile Tempelhof verlassen haben und ihren eigenen Weg gefunden haben.

Auch auf der Berlinale sind sie dabei. Viele Geflüchtete wohnen nicht mehr in den Hangars, die Stadt hat am Flugfeld ein neues Containerdorf errichtet. "Vielleicht entsteht dort ein neuer Film", sagt Aïnouz, denn diese Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt.

René Wildangel

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