Wo Huntington irrte

Der Kampf der Kulturen werde Morgenland und Abendland entzweien. So lautete vor 20 Jahren die These des US-Wissenschaftlers Samuel Huntington. Sein Aufsatz wurde zum Klassiker - und missbraucht, als Hetze gegen Muslime. Heute ist klar, dass die Welt unordentlicher ist, als Huntington sie sich damals überhaupt vorstellen konnte. Ein Kommentar von Nicolas Richter

Von Nicolas Richter

Im Sommer vor 20 Jahren war der Eiserne Vorhang noch nicht lange weg, auf dem Balkan herrschte Krieg, und die Zeitschrift Foreign Affairs druckte den Aufsatz "The Clash of Civilizations?". Der amerikanische Wissenschaftler Samuel Huntington stellte darin eine Prognose auf: Nicht Wirtschaft oder Ideologie würden die Menschheit spalten und ihre nächsten großen Konflikte auslösen, sondern Zivilisation. Eine Zivilisation definiere sich durch ihre Kultur, Tradition, am meisten aber durch Religion, und der Kampf der Kulturen werde vor allem Westen und Islam entzweien.

Der Aufsatz wurde bald zum Klassiker, obwohl viele ihn für abstrus hielten. Nach dem Al-Qaida-Terror 2001 entschuldigten sich manche Kritiker, weil es aussah, als habe Huntington als Einziger in die Zukunft gesehen. Der Applaus war freilich verfehlt: Wer Al-Qaida für die islamische Zivilisation hielt, der war nur ihrer Propaganda aufgesessen. Heute, nach 20 Jahren, sollte man die "Clash"-These endgültig als widerlegt betrachten. Sie beruhte schon 1993 auf zweifelhaften Annahmen und ist inzwischen erst recht überholt.

Quote from "The Clash of Civilizations": "The fundamental problem for the West is not Islamic fundamentalism. It is Islam, a different civilisation whose people are convinced of the superiority of their culture and are obsessed with the inferiority of their power." Today, twenty years after the publication, it is time to recognise that the "Clash" thesis was simply wrong, writes Nicolas Richter

Blockdenken des 20. Jahrhunderts

Huntingtons Idee ist eine des 20. Jahrhunderts, weil sie die Welt in Blöcke teilt: die westliche Zivilisation (Europa, USA), die islamische, die konfuzianische, die lateinamerikanische, und so weiter. Es ist seltsam, dass die Südamerikaner demnach nicht zum Westen gehören und sunnitische und schiitische Muslime eine Einheit bilden. Generell widerspricht dieses Blockdenken der vernetzten Welt von heute, in der selbst Rivalen wie die USA und China stark voneinander abhängen.

Vor allem aber ist der kulturelle "Clash" zwischen Huntingtons Blöcken ausgeblieben. Die blutigsten Konflikte finden innerhalb von Zivilisationen statt, nicht zwischen ihnen. Im Kongo bringen Afrikaner Afrikaner um; in Ägypten ermorden Muslime Muslime, im syrischen Bürgerkrieg sind wohl mehr Menschen gestorben als bei der US-Invasion im Irak.

In den Neunzigern wiederum ist der Westen auf dem Balkan den Muslimen beigesprungen. Am ehesten noch schien Huntington 2001 richtig zu liegen, aber die Al-Qaida-Terroristen sind nie Gesandte des traditionellen Islam gewesen, sondern Entwurzelte, die im Westen einem islamisch gefärbten Nihilismus verfielen.

Falsch gezogene Konfliktlinien

Huntingtons Prognose stimmt insofern, als dass Religion ein Quell geblieben ist von Misstrauen, Hass und Gewalt. Etliche Europäer haben noch immer das Gefühl, dass die Türkei zu "anders" ist, um zur EU zu gehören. Anderswo, besonders in Ländern mit jungen Bevölkerungen, dürfte der Glaube noch lange Gewalt anfachen, und auch der Terror im Namen Gottes wird nicht verschwinden. Wer am Rande der globalen Märkte steht, wer deren Verheißungen nicht erreicht oder sie für dekadent hält, der mag auch künftig auf Gewalt setzen. Diese Gewalt dürfte noch tödlicher werden; Waffen, Gifte oder Viren sind künftig leichter zu haben.

Islamophobie und Rechtspopulismus hoch im Kurs: Zweifelsohne haben Huntingtons Thesen islamfeindliche und populistische Organisationen im Westen in ihren ideologischen Anschauungen bestärkt.

Allerdings hat Huntington die Konfliktlinien falsch gezogen. Osama bin Laden spielte sich zwar immer als Rächer aller Muslime auf, aber er hat die Muslime von Marokko bis Indonesien nie zu einer Einheit, noch weniger zu einer geostrategischen Macht geformt. Die jüngsten Kriege in Afghanistan und im Irak waren keine Kulturkriege. Der erste war Vergeltung für den 11. September, der zweite entsprang der Inkompetenz und Paranoia der Regierung von George W. Bush, der - trotz breiter Missbilligung im Westen - ein Zeichen der Stärke gegen einen weltlichen Diktator setzen wollte.

All dies hat davon abgelenkt, dass die gefährlichsten Gräben längst durch die muslimische Welt selbst verlaufen. Sie trennen Sunniten von Schiiten, weltliche Kräfte von religiösen, militärische von zivilen, Putschisten von Demokraten, Bürokraten von Facebook-Revolutionären. Das gilt für den Nahen Osten, für Pakistan, für die Pariser Banlieue.

Kampf der Kulturen oder Fremdenfeindlichkeit?

Statt dies zur Kenntnis zu nehmen, haben unverantwortliche Politiker in Europa oft so getan, als müsse man das Abendland gegen eine muslimische Invasion verteidigen, sie raunten über Eurabia, die angebliche Gefahr durch Kopftücher und Minarette. Huntingtons These wurde dabei oft als wissenschaftlicher Beleg dafür missbraucht, dass der Islam ein Feind sei. Aber ist all das schon ein Kampf der Kulturen? Oder nur eine Variante uralter Fremdenfeindlichkeit und Missgunst, wie sie auch illegale Latinos in den USA erleben müssen? Spricht gegen den "Clash" nicht allein der Umstand, dass die Türkei - zu Recht - EU-Kandidatin geblieben ist?

Huntington hat die Vorherrschaft von Staaten über Zivilisationen unterschätzt. Regierungen können religiöse Empfindlichkeiten schamlos ausschlachten, aber vielerorts liegt ihr Interesse woanders. Immer mehr Staaten nehmen am Spiel der Globalisierung teil, sie kämpfen um Macht, um Lebensmittel, Wasser, Rohstoffe, Waffen, Investitionen, Zinssätze, Formel-1-Strecken. Staaten ringen um weltliche Dinge - für Gott ist da nur wenig Raum. Im globalen Supermarkt der Güter und Ideen wählt jeder Staat aus, was er mitnimmt.

China hat den Kapitalismus kopiert, Konsum, Hedonismus. Meinungs- und Pressefreiheit hingegen erklärt Peking für subversiv. Das liegt weniger am Kampf des Konfuzianismus mit dem Westen als an der Furcht eines Regimes vor seinen eigenen Bürgern.

"Culture is not a fortress, civilisation no blood brotherhood": After 9/11, the attacks masterminded by Osama bin Laden, the attention has been distracted away from the fact that the most dangerous rifts have long since existed within the Muslim world itself, Richter says

Anders als es Huntington darstellt, muss Kultur nicht durch Religion definiert sein. In den Städten der Welt wächst eine gemäßigt bis gar nicht religiöse Mittelschicht, die sich für Jobs, Bildung und Wohlstand interessiert. Längst steht auf Youtube eine religionsfreie Spaßkultur zur Verfügung, etwa der virale "Gangnam Style", in dem sich die Kultur der USA und Koreas mischen.

Kultur ist keine Festung, Zivilisation keine Blutsbruderschaft, Heimat kann auch eine Community im Netz sein. Die Spannung zwischen Individualismus und Kollektivismus, Glaube und Konsum, Weltbürgertum und Heimatgefühl, sie wächst heute nicht zwischen Kulturblöcken, sondern in jedem Einzelnen. Vor den Bostoner Anschlägen lag sie nicht zwischen Amerika und dem Kaukasus, sondern in der Seele der Brüder Zarnajew, die nach einer Identität suchten.

Die Welt ist unordentlicher, als es Huntington erwartet hat. Nicht "Zivilisationen" werden an Einfluss gewinnen, sondern Netzwerke und Koalitionen. Religiöse Leidenschaft dürfte zwar Konflikte anfachen, aber sie bestimmt kaum das realpolitische Geschäft der Groß- und Mittelmächte. Die Religiösen in Iran wissen: Sollte es zur Konfrontation mit den USA kommen, werden sie allein sein, kein sunnitischer Staat wird in den Krieg ziehen, um die islamische Zivilisation zu retten. Irans Geistliche streben auch deshalb nach der Atombombe, weil sie das längst begriffen haben.

Nicolas Richter

© Süddeutsche Zeitung 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de