Die Ängste der arabisch-islamischen Welt

Der irakische Ökonom Kadhim Habib untersucht die wirtschaftliche Situation der arabischen Länder, in denen die Globalisierung von vielen Menschen als neue Ausbeutung ihrer Ressourcen durch den Westen gesehen wird.

Der irakische Ökonom Kadhim Habib untersucht die wirtschaftliche Situation der arabischen Länder, in denen die Globalisierung von großen Teilen der Bevölkerung als neue Form der Ausbeutung ihrer Ressourcen und der Unterwerfung unter den Westen gesehen wird.

Dr. Kadhim Habib, Foto: Ikhlas Abbis
Dr. Kadhim Habib

​​Die meisten Araber aus dem linken Lager sehen in der Globalisierung einen in sich neutralen Prozess, der eine fortgeschrittene Phase im internationalen kapitalistischen System darstellt.

Dieser Prozess wird ihrer Ansicht nach allerdings von den Ländern angeführt, die eine neoliberale Politik verfolgen und die Errungenschaften der dritten industriellen Revolution – der Informations- und Kommunikationsrevolution – nicht zuletzt für die Ausbeutung und Marginalisierung der Länder der Dritten Welt benutzten.

Chance oder Übergriff?

Darum raten diese Stimmen den arabischen Ländern davon ab, sich am westlich dominierten Globalisierungsprozess zu beteiligen. Der wirtschaftliche und soziale Aufschwung sollte aus eigenen Kräften erreicht werden. Diese Sichtweise geniesst deutliche Zustimmung in breiten Schichten der arabischen Bevölkerung.

Wohlgemerkt hat die arabische Linke keine Schwierigkeiten mit der Globalisierung, wenn es um den Säkularismus oder um die kulturelle und technologische Erneuerung geht. Einige sehen in dem Prozess auch keine Bedrohung für die kulturelle Identität.

Die Kritik konzentriert sich auf die negativen wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung für die arabischen Gesellschaften und auf die Konflikte und Widersprüche, die weltweit daraus entstehen. Manche Vertreter der Linken sehen sogar in der Globalisierung eine willkommene Gelegenheit, den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung zu beschleunigen.

Sie sind überzeugt, dass ihre Länder die Voraussetzungen hätten, die Herausforderung anzunehmen, wenn sie sich gegenseitig um Zusammenarbeit und Koordination bemühen würden. Als Beispiel für eine denkbare Entwicklung in diesem Sinn führen sie die asiatischen Tigerstaaten an.

Die arabisch-nationalistischen Kräfte und die Islamisten dagegen sehen in der Globalisierung eine existenzielle Gefahr für nationale und religiöse Grundsätze, die auf keinen Fall angetastet werden dürfen.

Sie stimmen mit der arabischen Linken überein, wo es um Ausbeutung, Marginalisierung der Gesellschaften in den Entwicklungsländern und ihre Unterwerfung unter die Politik und die Interessen der westlichen Wirtschaftswelt geht. Es sei noch darauf hingewiesen, dass einige arabische Nationalisten durchaus Laizisten sind.

Aus ihrer Sicht und aus derjenigen der Islamisten erscheint die Globalisierung als direkte Verlängerung von Konflikten aus der Vergangenheit – angefangen bei den Kreuzzügen via die direkte oder indirekte kolonialistische Machtausübung über die arabischen Länder im 19. und 20. Jahrhundert bis hin zu der als feindselig wahrgenommenen Politik, welche die westlichen Länder heute – etwa im Falle der Palästinenserfrage oder des Embargos gegen den Irak – gegenüber der arabischen Welt verfolgen.

Ein Grossteil der arabischen Bevölkerung betrachtet die Globalisierung aus diesem Blickwinkel. Für sie handelt es sich nicht um eine neutrale wirtschaftliche Entwicklung, sondern um ein westliches Projekt, das die Konfrontation mit der Welt und dem Wertesystem des Islam und deren Zerstörung sucht.

Die arabische Welt besteht aus 22 Staaten (ohne Palästina), die auf Asien und Afrika verteilt sind. Die meisten der ungefähr 285 Millionen Einwohner gehören dem islamischen Glauben an.

Alle arabischen Länder erlebten verschiedene Formen der europäischen kolonialen Hegemonie; erst in der Zeit zwischen den Weltkriegen oder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlangten sie nach einem mühsamen und opferreichen Kampf die politische Unabhängigkeit.

Kolonialzeit und Befreiungskampf hinterliessen Spuren in der Erinnerung, im Leben und im Denken der Menschen und beeinflussen bis heute ihr Verhältnis zu den Völkern des Westens.

Stagnierende Entwicklung

Trotz den entwicklungspolitischen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte zählen praktisch alle arabischen Länder weiterhin zu den Entwicklungsländern. Die Ökonomien sind rückständig und instabil. Es existieren weiterhin Reste von patriarchalen und feudalistischen Beziehungen, welche die Entwicklung zeitgemässer Produktionsverhältnisse und einer modernen Zivilgesellschaft behindern.

Sie stehen auch dem notwendigen Prozess der Aufklärung im Weg, der in Europa vor Jahrhunderten bereits stattgefunden hat. Während die arabische Welt noch nicht einmal ihre erste industrielle Revolution verwirklicht hat, durchläuft der Westen die dritte Phase der industriellen Revolution.

Das ist ein deutlicher Ausdruck für die zivilisatorische und technologische Kluft, welche die westliche von der arabisch- islamischen Welt trennt. Die nationalen arabischen Ökonomien sind verstümmelt und von überholten Strukturen geprägt, egal, ob es sich um Agrar- oder Erdölwirtschaften handelt. Die Industrien sind unterentwickelt.

Das zeigt sich besonders deutlich in der weitgehenden Abhängigkeit von Importgütern, die nötig sind, um einen Grossteil der eigenen Bedürfnisse zu decken. Hinzu kommen andere Probleme, wie zum Beispiel der Analphabetismus, der auf dem Land und unter Frauen sehr stark verbreitet ist.

Die Kapazitäten dieser Länder werden im besseren Fall von Regierungen kontrolliert, die sich scheindemokratisch geben, wie zum Beispiel in Ägypten, Marokko und Jordanien. Anderswo – etwa im Irak, im Sudan, in Libyen, Saudiarabien, Tunesien oder Algerien – werden Demokratie und Menschenrechte ausser Kraft gesetzt.

Die Tatsache, dass solche Regime für ihre demokratiefeindliche Politik nicht selten die Unterstützung des Westens und des ehemaligen Ostblocks fanden, rief bei der Bevölkerung Misstrauen und eine besondere Feindschaft gegenüber Europa und den USA hervor.

Ausserdem stützte sich der Westen, als es um den Kampf gegen das sozialistische Lager und gegen die kommunistischen Parteien ging, gelegentlich auch auf eben jene rückwärts gewandten und fanatischen religiösen Kräfte, die heute als Exponenten des west-östlichen Kulturkonflikts wahrgenommen werden.

Während die arabischen Länder nur ein sehr niedriges wirtschaftliches Wachstum aufweisen, bleibt das Bevölkerungswachstum hoch; es schwankt zwischen 2,5 und 3,2 Prozent pro Jahr.

Alle Länder sind auch von einer ununterbrochenen Landflucht betroffen – nicht weil es in der Stadt mehr Arbeitsmöglichkeiten gäbe, sondern weil die Menschen dem Elend und der verdeckten Arbeitslosigkeit in den ländlichen Regionen zu entkommen versuchen.

Das führt zu einer Bevölkerungsexplosion in den Städten und zum Anwachsen der semiproletarischen oder marginalisierten Gruppen in den Elendsgürteln um die Städte. Ein weiteres Phänomen ist die Ausdünnung der Mittelschicht. Die Kluft zwischen der reichen Minderheit, die immer reicher wird, und der immer grösser werdenden Zahl der Armen verbreitert sich.

Für all dies gibt die Bevölkerung dieser Länder nicht allein den eigenen Politikern Schuld, sondern auch dem Westen, der die korrupten Regierungen unterstützt und eine Politik betreibt, die gegen die Interessen der sozial Schwächeren gerichtet ist.

Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, dass grosse Teile der arabischen Bevölkerung keine positiven Erwartungen an den Westen haben. In der Globalisierung sehen sie eine neue Form der Ausbeutung ihrer Ressourcen und der Unterwerfung unter den Westen.

Feindliche Übernahme?

Aus solcher Sicht fällt das Urteil über die Globalisierung vorläufig eindeutig negativ aus. Sie praktiziert eine erbarmungslose Einmischung, um die "absolute Freiheit" aufzuzwingen. Diese Freiheit aber ist einseitig.

Sie kommt nur dem Fluss des Kapitals, dem Handelsaustausch, der Aufhebung der Zollschranken und anderen Wirtschaftsreformen zugute, damit die Ökonomien der verschiedenen Länder an die Bedürfnisse der multinationalen Konzerne angepasst werden können, ohne dass auf die Verhältnisse dieser Länder und ihre Probleme Rücksicht genommen werden muss.

Und dieselben Nationen, die von günstigen Wirtschaftsstandorten in der Dritten Welt profitieren, verschliessen ihre Grenzen vor Arbeitsmigranten – sofern es sich nicht gerade um hoch qualifizierte Fachkräfte handelt. Die Globalisierung droht die Aufgaben des Staates zu verändern und ihn in einen reinen Verwaltungsapparat zu verwandeln, dessen Aufgabe sich auf die Sicherung der Grundlagen für die Aktivitäten der Privatwirtschaft und der Gewinne dieses Sektors beschränkt.

Darüber hinaus werden dem Staat weiterhin seine militärische, sicherheitspolitische Rolle und das Gewaltmonopol belassen – auch mit der Option der Unterdrückung, um die Sicherheit und die Stabilität zu gewährleisten, welche für ausländische Investoren unerlässlich sind. Hierin verletzt die Globalisierung die Regeln der Demokratie, auf die sie selber angewiesen ist.

Auch wenn die Globalisierung die Entstehung einer globalen Auffassung von Demokratie und Menschenrechten, vom Umgang mit Umwelt und Ressourcen erlaubt, werden die praktisch vorhandenen Möglichkeiten nur schwerlich zugunsten aller Menschen eingesetzt.

Einige Völker haben die Erfahrung gemacht, dass der Westen die Menschenrechte lediglich als Rechtfertigung für die Einmischung in innere Angelegenheiten anführt, solange dies eigenen Interessen dienlich ist. – Die Globalisierung bietet zweifellos ein modernes Lebensprojekt, das den neuen technologischen Entwicklungen entspricht und sich von der Vergangenheit und gegenwärtigen Zuständen unterscheidet.

Aber sie befindet sich am Anfang ihrer Entwicklung. Das Neue, das sie bringt, ist imstande, Werte, Gewohnheiten und alte Gebräuche, die nicht mit der Zeit mithalten können, zu verdrängen – nicht nur in den arabischen und islamischen Gesellschaften, sondern überall. Aber diese moderne Welt-Kultur wird ihre Besonderheit trotzdem auf dem Boden der Wirklichkeit jedes Landes entfalten müssen.

Kadhim Habib

Aus dem Arabischen von Mona Naggar.

© Neue Zürcher Zeitung (NZZ)

Kadhim Habib, geb. 1935 in Karbala/Irak; Prof. Dr., 1964 Magister (oec) der Hochschule für Ökonomie Berlin; 1968 Doctor (Dr. rer. oec) und 1973 (Dr. rer. oec. habil); 1969 bis 1975 Lehrtätigkeit an der Universität Mustanseria / Baghdad 1979-1981 an der Universität Algier; 1992 bis 1993 als wiss. Mitarbeiter bei der Entwicklungspolitischen Gesellschaft e. V. (EPOG) in Berlin; seit 1994 wiss. Mitarbeiter an der Forschungsstelle für angewandte Konfliktforschung des Vereins für angewandte Konfliktforschung e. V. (VAK) in Berlin; Publikationen zu wirtschaftlichen, sozialen, politischen und ökolgischen Fragen des Irak, anderer arabischer Staaten sowie von Entwicklungsländern.