Was das Recht in Ägypten wert ist

Die zunehmende Anzahl von Hinrichtungen nach unfairen Gerichtsverfahren zerstört das Vertrauen in Ägyptens Rechtswesen. Einzelheiten von Sherif Mohy Eldeen

Von Sherif Mohy Eldeen

Am 7. Juni hat das Kassationsgericht – das höchste Gericht Ägyptens – das Todesurteil über sechs junge Männer aus al-Mansura bestätigt, die seit 2014 in Haft sind. Dieses Urteil reiht sich in eine Vielzahl von Hinrichtungen ein: Von 15 Hinrichtungen im Jahr 2014 und 22 Hinrichtungen im Jahr 2015 stieg die Zahl auf 44 im Jahr 2016. Dagegen gab es in den Jahren 2012 bis 2013 überhaupt keine Hinrichtungen.

Unter dem ehemaligen Staatspräsidenten Hosni Mubarak waren es etwa vier pro Jahr. Unter Mubarak ergingen die meisten Todesurteile aufgrund von Mord oder Drogendelikten. Sie wurden jedoch nur selten vollstreckt. Seit dem Militärputsch im Juli 2013 sind die meisten Verurteilten Demonstranten, denen zur Last gelegt wurde, an der Bildung terroristischer Zellen beteiligt gewesen zu sein und die nationale Sicherheit bedroht zu haben.

Laut Amnesty International handelte es sich zwischen 2014 und 2016 um insgesamt 1.284 Personen. Im Jahr 2013 waren es 109 und unter der Herrschaft des ehemaligen Staatspräsidenten Mubarak etwa 180 pro Jahr. Gemessen an den Umständen und der Schwere der Anschuldigungen unterscheiden sich die einzelnen Fälle signifikant voneinander. Allen gemeinsam ist aber die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren.

Unter Verschluss der Geheimdienste

Die meisten Fälle beruhen auf Ermittlungen der "Behörde für Nationale Sicherheit", also des Inlandsgeheimdienstes, der vor der Revolution im Januar 2011 als Staatssicherheitsbehörde SSIS bekannt und berüchtigt war und der Regierung seit langem als Waffe zur Unterdrückung der politischen Opposition dient. Die von dieser Behörde eingebrachten Fälle beruhen häufig auf vertraulichen Quellen, die von den Geheimdienstmitarbeitern bis zum Schluss des Verfahrens nicht offengelegt werden. Meist werden daher Todesstrafen und lebenslange Haftstrafen unter Bezug auf Quellen verhängt, die nur dem Geheimdienst bekannt sind – nicht einmal den Richtern selbst.

Inhaftierte in Kairo warten auf ihren Prozess; Foto: Reuters
Politisch motivierte und intransparente Prozesse gegen Regimegegner: "Die meisten Fälle beruhen auf Ermittlungen der „Behörde für Nationale Sicherheit“, also des Inlandsgeheimdienstes, der vor der Revolution im Januar 2011 als Staatssicherheitsbehörde SSIS bekannt und berüchtigt war und der Regierung seit langem als Waffe zur Unterdrückung der politischen Opposition dient", kritisiert Sherif Mohy Eldeen.

Der Fall der "Sechs aus Al-Mansura" und die Bestätigung des Todesurteils durch das Kassationsgericht am 7. Juni sind dafür ein treffendes Beispiel. Nach Prüfung der Verfahrensunterlagen stellte das in der Schweiz ansässige "Committee for Justice" in einem entlarvenden Bericht zu diesem Fall acht verschiedene Verstöße fest. Einige Angeklagte gaben an, ohne Haftbefehl festgenommen, gefoltert und zu Geständnissen gezwungen worden zu sein. Umstände und Zeitpunkt der Festnahmen weichen stark von den amtlichen Berichten ab.

Nach ihrer Verlegung aus den Gefängnissen des Geheimdienstes in reguläre Haftanstalten widerriefen die Angeklagten ihre Geständnisse. Hierzu muss man wissen, dass in den Gefängnissen des Geheimdienstes bis heute zahllose Personen ohne Haftbefehl einsitzen. Auch wird dort häufiger gefoltert als etwa in regulären Haftanstalten.

Die mutmaßlich erzwungenen Geständnisse wurden allerdings auf Video aufgenommen und vom Innenministerium noch vor Abschluss der Untersuchungen ausgestrahlt. Die Angeklagten durften sich während der Vernehmungen keinen Rechtsbeistand nehmen. Und die Anklage der Staatsanwaltschaft beruhte auf vertraulichen Quellen, ebenso wie die maßgeblichen Beweise im Strafprozess. Diese Quellen wurden zu keiner Zeit während der Verhandlung offengelegt.

Petition gegen Todesstrafe

Wegen der Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren sammelten Aktivisten in einer Online-Petition über 15.000 Unterschriften gegen die Hinrichtung der Angeklagten und baten den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, sein Recht auf Umwandlung der Todesstrafe wahrzunehmen – jedoch ohne Erfolg. Al-Sisi ernannte stattdessen Magdy Abul Ela zum Präsidenten des Kassationsgerichts. Abul Ela war der Richter, der im Berufungsverfahren gegen das Urteil im Fall Al-Mansura den Vorsitz innegehabt hätte, den diesbezüglichen Antrag der Verteidigung jedoch abwies.

Proteste gegen Militärgerichte in Kairo; Foto: picture-alliance
Proteste gegen Militärgerichte in Ägypten: Nach den Anschlägen auf dem Sinai im Oktober 2014 hatte Präsident Al-Sisi die Befugnisse der Militärgerichte massiv ausgeweitet. Menschenrechtsgruppen wie Human Rights Watch (HRW) beklagen bis heute die umgehend verhängten Urteile und unfairen Strafen durch ägyptische Militärgerichte. Die Urteile seien vielfach intransparent, die verhängten Strafen drakonisch.

Dies allein war bereits ungewöhnlich, da das Kassationsgericht seit Juli 2013 üblicherweise Rechtsmittel gegen Todesurteile zulässt, die offensichtlich aus politischen Gründen verhängt wurden.

Die Verfahrensfehler im Fall Al-Mansura sind bezeichnend für eine gängige Praxis in Hunderten ähnlich gelagerter Fälle seit dem Militärputsch vom 3. Juli 2013. Dies gilt sowohl für Zivil- als auch für Militärgerichte, wobei letztere seit 2014 eine immer größere Bedeutung gewinnen und bereits Tausende von Zivilisten abgeurteilt haben.

Die meisten dieser Verfahren beruhen auf nicht vorgelegten oder unzureichenden Beweismitteln. Beispielhaft dafür ist das Militärverfahren gegen sieben mutmaßliche Attentäter, denen ein Anschlag auf einen Bus einer Militärschule im Stadion von Kafr al-Scheikh zur Last gelegt wird.

Der Oberste Militärgerichtshof für Berufungsverfahren in Kairo bestätigte am 19. Juni das Todesurteil, obwohl die Militärermittler zugaben, dass "die Identität der Täter nicht herausgefunden werden konnte, da es am Tatort keine Überwachungskameras gab und ... da es mit einer angrenzenden Kamera aufgrund der Entfernung und der Sichtachse schwierig war, die Täter zu erkennen."

Einer der zum Tode verurteilten Angeklagten war der Lehrer Fakih Abdel-Latif aus Kafr al-Scheikh. Die ägyptische "Initiative für Persönlichkeitsrechte" legte als unabhängige NGO eine amtliche Erklärung des Provinzschulbezirks vor, aus der hervorging, dass der Angeklagte am 15. April 2015 während der gesamten Zeit an seiner Schule war.

Dies widerspricht der Darstellung des Militärstaatsanwalts, der behauptete, Abdel-Latif sei während des Anschlags am Tatort gewesen. Auch die Angeklagten im Fall Arab Sharkas wurden hingerichtet, obwohl lokale NGOs nachgewiesen hatten, dass mindestens drei der sechs Angeklagten zur mutmaßlichen Tatzeit vom Innenministerium an geheimen Haftorten festgehalten worden waren.

Politisch motivierte Vergeltungsmaßnahmen

Prozess gegen Al-Jazeera-Mitarbeiter am 31.4.2014 in Kairo; Foto: picture-alliance
Freiheit nach 400 Tagen Haft: Der Al-Jazeera-Journalist Peter Greste war im Juni 2014 gemeinsam mit anderen Mitarbeitern des Senders wegen angeblicher Unterstützung der Muslimbruderschaft zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil stieß damals weltweit auf scharfe Kritik. Nach einem Erlass von Präsident Abdel Fattah al-Sisi konnte Greste das Gefängnis verlassen und durfte in seine Heimat Australien ausreisen.

Neben den systematischen Verstößen gegen das Recht auf ein faires Verfahren gibt es zahlreiche weitere Anhaltspunkte dafür, dass Todesurteile und Hinrichtungen politisch motivierte Vergeltungsmaßnahmen sind.

So folgte beispielsweise die Hinrichtung der sechs jungen Angeklagten im Fall Arab Sharkas am 17. Mai 2015 einen Tag nach dem Angriff auf Richter in Al-Arish, einem Ort auf der nördlichen Sinai-Halbinsel. Ohne die Familien vorher zu benachrichtigen, erfolgte die Hinrichtung trotz eines anhängigen Einspruchs gegen das Urteil, wonach ein Verwaltungsgericht gerade dabei war, die Aussetzung der Vollstreckung zu verfügen.

Offenbar ist dem Sisi-Regime im Fall Arab Sharkas aber mehr daran gelegen, hartes Durchgreifen zu demonstrieren. Der Fall Adel Habara weist in die gleiche Richtung: Bei einem Angriff auf der Sinai-Halbinsel am 19. August 2013, der als "zweites Massaker von Rafah" traurige Bekanntheit erlangte, wurden 25 Soldaten getötet.

Adel Habara wurde als mutmaßlicher Kopf des Attentats am 15. Dezember 2016 hingerichtet – vier Tage nach einem Selbstmordattentat auf die Kirche St. Peter und Paul im Herzen Kairos, wo 29 Menschen ums Leben kamen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Untersuchungen über den Hergang und die Urheber des Attentats noch nicht abgeschlossen. So scheint auch diese Hinrichtung eine Vergeltungsaktion des Regimes von el-Sisi zu sein.

Die Missachtung des Rechts auf ein faires Verfahren hat in Tausenden von Fällen zur Verhängung hoher Strafen bis hin zu Todesurteilen geführt. Nicht die Polizei führt die Untersuchungen durch, sondern der Inlandsgeheimdienst. Das lässt den Schluss zu, dass es mehr um Abschreckung und Einschüchterung geht als um Rechtsprechung. Mubarak unterdrückte Ägypten mit harter Hand.

Dennoch konnte sich die Judikative eine gewisse Unabhängigkeit bewahren und genoss daher noch ein gewisses Vertrauen. Heute sind die rechtswidrigen Verfahren, die harten Urteile und die schnellen Hinrichtungen ohne vorherige Benachrichtigungen der Angehörigen dazu angetan, den Rest an Vertrauen, den die Ägypter in ihr Rechtswesen und in ihre Regierung haben, vollends zu zerstören.

Sherif Mohy Eldeen

© Sada/Carnegie Endowment for International Peace 2017

Sherif Mohy Eldeen forscht auf den Gebieten Terrorismusbekämpfung, Sicherheit und politische Soziologie.

Aus dem Englischen von Peter Lammers