Die verlorene Generation

Großbritannien zählt anderthalb Millionen muslimischer Immigranten. Etwa ein Drittel von ihnen hat die Volljährigkeit noch nicht erreicht und kämpft mit Orientierungsproblemen. Von Tahir Abbas

Großbritannien zählt anderthalb Millionen muslimischer Immigranten; ein gutes Drittel dieser Bevölkerungsgruppe hat die Volljährigkeit noch nicht erreicht, kämpft mit Orientierungsproblemen und sieht kaum gesellschaftliche Perspektiven vor sich. Von Tahir Abbas

London, Foto: AP
Straße in London

​​In Grossbritannien sind Muslime schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts präsent, als sich Seeleute und Händler aus dem Mittleren Osten in den grösseren Hafenstädten niederliessen. In grosser Zahl trafen sie jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein; Migranten aus Pakistan, Bangladesh und Indien waren damals als preiswerte Arbeitskräfte in den teilweise bereits auf dem Abstieg befindlichen Industrieregionen gefragt.

Der Grossteil der 1,6 Millionen britischer Muslime, nämlich gut eine Million, stammt aus Südasien; davon sind zwei Drittel pakistanischer, ein Drittel ist bangalischer Herkunft. Die restliche halbe Million setzt sich aus Nordafrikanern sowie Menschen aus Osteuropa und Südostasien zusammen.

Nach wie vor konzentriert sich die muslimische Bevölkerung in den einstigen Industriestädten und -regionen im Südosten, den Midlands und dem Norden Englands.

Proteste gegen "Satanische Verse"

Erst in jüngerer Zeit haben die Muslime in der Immigrationsgeschichte des Landes ihre eigenen Akzente gesetzt. Bis zum Fanal der Rushdie- Affäre im Jahr 1989 galt die südasiatisch-muslimische Gemeinschaft als ruhig, passiv, friedfertig und gesetzestreu, wenn auch eher rückwärts gewandt.

Als die Muslime gegen Rushdies "Satanische Verse" auf die Barrikaden gingen und das Buch öffentlich verbrannten, wurde man erstmals gewahr, dass hier eine ganze Bevölkerungsgruppe mehrheitlich in Armut, Isolation und Perspektivlosigkeit abseits der Zivilgesellschaft lebte - und dass sie sich durch den Roman zutiefst gekränkt und verletzt fühlte.

Die Medien und die intellektuelle Elite beschränkten sich darauf, diese Reaktion als den illiberalen und regressiven Reflex einer schlecht ins westliche Wertesystem eingepassten Gemeinschaft zu brandmarken; man hielt es nicht für der Mühe wert, etwa den Zusammenhängen zwischen sozioökonomischer Benachteiligung und der Neigung zu religiös motiviertem Hass nachzugehen, die sich hinter den Protesten der Muslime abzeichneten.

Diese Erfahrung radikalisierte die ältere und insbesondere auch die jüngere Generation; die Muslime überdachten ihre Rolle in der britischen Gesellschaft, ihre bürgerlichen Rechte und Verantwortlichkeiten, aber auch die Art und Weise, in der Medien und Staat ihre gesellschaftliche Identität formten und beeinflussten.

Transnationale Solidarität

Im Verlauf der neunziger Jahre trug eine ganze Reihe von Ereignissen - der Golfkrieg, der Völkermord in Bosnien-Herzegowina, die Konflikte in Afghanistan, Tschetschenien und Kosovo, die Al-Aksa-Intifada und der amerikanische Einmarsch im Irak - zur Herausbildung einer neuen, transnationalen muslimischen Solidarität bei, zur bewussten Identifikation mit den Glaubensgenossen in aller Welt.

Huntingtons These vom "Zusammenprall der Zivilisationen" mit ihrem unerbittlichen Postulat der Unvereinbarkeit islamischer und westlicher Werte schien beiderseits die Tendenzen zur Abkapselung zu verstärken; und die schiere Tatsache, dass Muslime seit einiger Zeit dauernd im Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, prägt nicht nur die Art und Weise, wie sie von der Allgemeinheit gesehen werden, sondern hat auch einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf ihre Selbstwahrnehmung.

In England und in Westeuropa insgesamt beobachtet man zurzeit, dass zunehmend junge Männer aus der zweiten oder dritten Immigrantengeneration dem radikalen politischen Islam verfallen.

Mangelnde Zukunftschancen und Generationenkonflikt

Die Grundmuster gleichen sich allenthalben: Gemeinschaften muslimischer Migranten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Fuss fassten, stellen fest, dass ihre Jugendlichen in einem marginalisierten und entfremdeten Umfeld aufwachsen, in dem die Bildungsmöglichkeiten für die meisten so beschränkt sind, dass der Zugang zu einer Hochschule oder auch nur zum Arbeitsmarkt schwierig bis unmöglich scheint.

Gleichzeitig stellt sich ein Spannungsverhältnis zwischen den Generationen ein, da die jüngere Generation unweigerlich ein gewisses Mass von der Kultur, Sprache und Lebensweise des Gastlandes absorbiert; wobei dieser Prozess im Fall der Muslime dadurch kompliziert wird, dass manche Aspekte des Lebens in liberalen, säkularisierten Gesellschaften mit Werten und Lebensführung eines "guten Muslims" kollidieren.

Während die islamische Welt insgesamt mit der Herausforderung einer Synthese von Islam und Demokratie konfrontiert ist, haben sich also die muslimischen Immigranten noch einer ganzen Anzahl anderer Konflikte der Identitätsfindung, der religiös-kulturellen Praxis und der sozialen Verantwortlichkeit zu stellen.

Orientierungsprobleme

So finden sich viele junge, in europäischen Ländern geborene Muslime in einer komplexen und brüchigen Lebensrealität. Eine Startposition am unteren Ende der sozialen Leiter und die religiös und kulturell bedingte Isolation erschweren den Eintritt in die Zivilgesellschaft.

Wo in der eigenen Gemeinschaft kulturell bedingte Generationenkonflikte auftreten - etwa bezüglich des Brauchs, innerhalb der weiteren Familiengemeinschaft zu heiraten -, versuchen sich nunmehr viele junge Muslime möglichst unmittelbar an der Religion zu orientieren. Sie suchen nach ihrer eigenen Interpretation des Islam - im Speisesaal der Colleges, in Debattiergesellschaften oder vor dem Bildschirm. Und da beginnen die Probleme.

Die Elterngeneration kann diese Orientierung nicht geben, denn es fehlt ihr an sprachlichen und kulturellen Hintergründen, um gegenüber der jüngeren Generation die nötige Autorität zu behaupten. In den Moscheen wird zwar Wissen vermittelt, aber meist nur auf der Grundstufe - oft sind die Imame der Landessprache nicht mächtig und auch nicht in der Lage, sich den Fragen und Problemen der in einem westlichen Kontext aufgewachsenen Muslime zu stellen.

Radikalen Einflüssen ausgesetzt

So sind die Jugendlichen für ihre Suche auf andere Quellen angewiesen: neue Moscheen, religiöse Vereinigungen oder Internet-Seiten, deren radikal eingefärbte Botschaften in Tat und Wahrheit nichts als Indifferenz, Intoleranz, Ressentiment und die pauschale Zurückweisung alles "Westlichen" predigen.

Dahinter steht ein vom Salafismus geprägtes Denken, das - auf einer sehr selektiven und gelegentlich zweifelhaften Interpretation des Korans basierend - die Gemeinde ins "goldene Zeitalter" der ersten vierhundert Jahre nach der Religionsstiftung zurückführen möchte.

Obwohl dieses Gedankengut durchweg dogmatisch und öfters auch gewaltsam und repressiv ist, sehen es die jungen Muslime paradoxerweise als eine Art Befreiung an - vom scheinbar rückständigen Glaubensverständnis ihrer Gemeinschaft ebenso wie vom System des Gastlandes, von dem sie sich ausgeklammert und unterdrückt fühlen.

Schon während der 1990er Jahre haben radikalislamische Organisationen wie Al-Muhajiroun, Hizb ut-Tahrir und die Supporters of Shariah muslimische Studentenvereinigungen in Grossbritannien erfolgreich unterwandert - noch bevor der 11. September vermehrte Aufmerksamkeit auf derartige Körperschaften lenkte.

Tatsächlich finden sich im Dunstkreis radikalislamischer Aktivitäten immer wieder auch Muslime britisch-südasiatischer Abkunft; am prominentesten unter ihnen sind wohl die acht jungen Männer, die 1999 angeklagt wurden, in Südjemen Anschläge auf westliche Institutionen geplant zu haben, oder die Tipton Three, die in Afghanistan als Verbündete der Taliban aufgegriffen wurden und während zweier Jahre in Guantánamo in Haft sassen.

Diese jungen Männer kamen zum Teil nicht aus armen Familien, einige hatten sogar renommierte Universitäten besucht; durchweg aber stammten sie aus einem wenig respektierten Gesellschaftssegment, hatten sich durch ein Bildungssystem gekämpft, das ihrer Kultur wenig Rechnung trug, und hatten in der Botschaft des radikalen Islamismus endlich ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Identität und eine Aufgabe gefunden, die über die eng gezogenen Grenzen ihres Alltagslebens hinauszugehen schien.

Verschärfung statt Eindämmung

In den letzten drei Jahren wurde diese Tendenz durch genau jene äusseren Faktoren noch verstärkt, die ihr eigentlich entgegenwirken sollten.

Die Verschärfung gesetzlicher Bestimmungen und die anhaltenden Debatten über Muslime und Islam im Zeichen des "Krieges gegen den Terror" haben ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem sich die Muslime mehr denn je exponiert, zum Zerrbild entstellt und unerwünscht fühlen; als "Feind im Inneren", als undifferenzierte Masse "arabischer Terroristen", als gesellschaftlicher Fremdkörper, der unverschämt religiöse und kulturelle Rechte einfordert, ohne sich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren zu wollen.

Solange dieses Gefühl durch die Ereignisse auf welt- wie auf innenpolitischer Ebene eher genährt denn abgebaut wird, werden junge Muslime in verstärktem Mass für die Botschaft des radikalen Islamismus anfällig bleiben - während eine grosse, aber unauffällige Mehrheit hart arbeitender Muslime die Gesetze des Gastlandes respektiert, ohne dabei ihr Selbstverständnis als "gute Muslime" preiszugeben:

Dazu bietet gerade England eigentlich beste Bedingungen. Zu einem Abbau der Spannungen hätten beide Seiten ihr Teil beizutragen: das Gastland dadurch, dass es Anerkennung spüren lässt und Perspektiven schafft, die Muslime durch mehr Selbstvertrauen und eine Wertschätzung für das, was ihnen das Gastland bietet.

Die Geschichte hat erwiesen, dass der Westen in der Regel fähig ist, Minderheiten erfolgreich zu integrieren; es wäre zu hoffen, dass die Muslime bald ihren Platz in den westlichen Nationalstaaten finden, die ihren Bürgern ein friedliches Umfeld und eine solide und fruchtbare Grundlage für Alltagsleben und Arbeit bieten.

Tahir Abbas

Aus dem Englischen von Angela Schader

© Neue Zürcher Zeitung, 7. Februar 2005

Der Soziologe und Wirtschaftswissenschafter Tahir Abbas ist Leiter des Centre for the Study of Ethnicity and Culture an der University of Birmingham. Seine Buchpublikationen und Zeitungsartikel konzentrierten sich in den vergangenen Jahren auf die Situation und die Identitätsfindung britischer Muslime.