Unterschiede als Facetten wahrnehmen

Mit dem Journalistenprogramm "Nahaufnahme" ermöglichte das Goethe-Institut insgesamt sechs Redakteuren aus Deutschland und islamischen Ländern einen Redaktions- und damit Perspektivwechsel. Leonie Kircher sprach mit einigen Teilnehmern über ihre Erfahrungen.

Yacouba Sangaré und Marc Widmann; Foto: Goethe Institut
Zwei der Austauschteilnehmer: Yacouba Sangaré (Le Patriote, Abidjan) und Marc Widmann (SZ) bei der Lektüre der Zeitung im neuen Redaktionsgebäude des Verlags.

​​Phalangisten, Krieg, zerstörte Häuser und eine moderne, pulsierende Stadt voller Widersprüche – diese Bilder prägten bis vor kurzem die Vorstellung Martin Müller-Bialons von Beirut, der Hauptstadt des Libanons. In einem arabischen Land sei er noch nie gewesen: "Bis zu diesem Austausch war ich im Prinzip ein weißes, unbeschriebenes Blatt. Das einzige, was ich im Kopf hatte, waren vage Medienbilder aus der Zeit des Bürgerkrieges."

Gerade deshalb sagte der Redakteur der Frankfurter Rundschau sofort zu, als er vom Goethe-Institut angesprochen wurde, ob er an dem Austauschprojekt "Nahaufnahme" teilnehmen wolle. Einen Monat lang war er als Redakteur des Lokalteils der panarabischen und angesehenen Zeitung "Al-Hayat" tätig und verfasste Beiträge für die Gast- als auch die eigene Zeitung – über seine Eindrücke und Erlebnisse vor Ort.

Die Natur des Libanons und die Gastfreundschaft der Menschen fielen ihm besonders positiv auf; das Verkehrschaos, die Aufdringlichkeit der Taxifahrer und die Umweltverschmutzung dagegen waren die negativen Seiten des Lebens. Zudem erfuhr Martin Müller-Bialon, dass es auf der Ebene der Lokalberichterstattung sensible Themen gab.

Martin Müller-Bialon; Foto: Frankfurter Rundschau
Martin Müller-Bialon ist als Lokalredakteur der Frankfurter Rundschau für die Schwerpunkte Religion, Schule und Bildung zuständig.

​​ Sein Beitrag über "Heirat", erwies sich für ihn als ein solches Thema: "Es gab einen Punkt, wo sich eine mögliche Grenze abgezeichnet hat. Das war bei dem Thema Heiraten, weil die Zeitung 'Al-Hayat' einen islamischen Besitzer hat, nämlich das saudische Königshaus. Und dort sieht man es nicht so gerne, wenn in der Zeitung das Thema Heirat als religiöse Angelegenheit ohne ziviles Recht problematisiert wird. Das war ein Punkt, wo es ein bisschen kritisch geworden ist."

Doch genau diese thematischen Tabuzonen stellen für ihn mehr einen Ausgangspunkt als eine Einschränkung dar: "An diesem Punkt müsste man natürlich weiterarbeiten. Das ist etwas, was ich aus dieser Zeit mitnehme: Diese Themen muss man mehr in Angriff nehmen", sagt Müller-Bialon.

Austausch von Land und Arbeitsplatz

Insgesamt sechs Journalisten aus Deutschland, Afrika und dem Nahen Osten erhielten über das Goethe-Institut die Möglichkeit, einen Monat lang mit ihrem jeweiligen Austauschpartner Arbeitsplatz und -land zu wechseln.

Mitte November reiste Müller-Bialon mit seiner Austauschpartnerin Rana Najjar nach Frankfurt zurück. Auch sie war noch nie im Austauschland gewesen. Als erstes fielen ihr die Ordnungsliebe und das Zeitmanagment der Deutschen auf: "Ich war sehr angetan von der strengen Disziplin und wie heilig die Zeit den Deutschen ist – und dies besonders in Frankfurt."

Bild Rana Najjar; Foto: privat
Deutschland habe sie vor allem mit Kultur und dabei insbesondere mit Goethes "Faust" verbunden, so Rana Najjar, Redakteurin der al-Hayat.

​​Besonders schön fand sie, dass sich öffentliche Plätze an Feiertagen zu Plätzen der Freude und des Zusammenkommens verwandeln. München mit seiner Architektur sei phantastisch. Kritisch betrachtete sie hingegen den demographischen Wandel in Deutschland: "Was mich an Deutschland gestört hat, ist, dass es sehr viele alte Menschen gibt. Ich glaube, dass dies langfristig für die Entwicklung Deutschlands nicht gut ist", so Najjar.

Das Thema Alter sowie Leben im Alter griff sie auch in einem ihrer Artikel auf; im Libanon, wo das Durchschnittsalter bei 28 Jahren liegt, prägen junge Menschen das Straßenbild.

Außenansicht als Anregung

Ungewohntes, das den Blick fesselt und zum genaueren Hinschauen führt – auf dieser Idee baut das Projekt "Nahaufnahme" auf. Es möchte Offenheit und Dialog fördern. Man stelle dafür, so Projektleiter Enzio Wetzel, die Plattform, die Möglichkeit beziehungsweise die Werkzeuge zur Verfügung. Die Vermittlung einer Außenansicht auf die eigene Gesellschaft wird als Anregung zum Nachdenken über eigene Sichtweisen angesehen.

Enzio Wetzel; Foto: Goethe Institut
Enzio Wetzel, Leiter der Programmlinie "Entwicklung und Kultur", möchte das Projekt, auf Grund der positiven Resonanz, auf zusätzliche Länder erweitern.

​​"Statt auf der Oberfläche miteinander zu parlieren, setzt das betont unpolitisch gehaltene Projekt auf Blickhöhe an", betont Wetzel. "'Nahaufnahme' steht für genauer hinschauen. Es stellt eine Art Rückbesinnung auf kulturelle Wirklichkeiten dar." Kulturelle Unterschiede sollen dabei als Facetten und nicht als Gegensätze verstanden werden.

Sowohl Rana Najjar als auch Martin Müller-Bialon können sich vorstellen, wieder in die Gastländer zu reisen. Sie haben auch Kollegen aus diesen Ländern zu Besuch eingeladen. Die Süddeutsche Zeitung hat bereits Interesse an einer erneuten Teilnahme bekundet und Martin Müller-Bialon resümiert: "Ich bin noch lange, lange nicht so weit, dass ich sagen könnte: Ich wäre ein Libanon- oder Nahostexperte. Aber es ist ein aufregendes Land. Es lohnt sich, sich damit weiter auseinanderzusetzen."

Leonie Kircher

© Qantara 2009

„Nahaufnahme“ ist ein Pilotprogramm des Projekts „Kultur und Entwicklung“ des Goethe-Instituts, das unter anderem professionelle Begegnungen im Kultur-, Medien- und Bildungsbereich fördert. Der Journalistenaustausch wurde im Rahmen des Politikschwerpunkts „Dialog mit der Islamischen Welt" vom Auswärtigen Amt gefördert.

Qantara.de

Interview Jutta Limbach
Kulturdialog nach dem 11. September
Zum ersten Mal besuchte Jutta Limbach, die Präsidentin des Goethe-Instituts, Ägypten. Sie nahm im Rahmen des deutschen Schwerpunkts auf der Internationalen Buchmesse Kairo an zahlreichen Veranstaltungen zum Kulturdialog teil. Ein Interview zum Wandel der Auswärtigen Kulturpolitik nach dem 11. September.

Interview Thomas Brussig
Der Ossi als Vertreter des Westens
Thomas Brussig war auf Einladung des Goethe-Instituts Stadtschreiber in Kairo. In einem Internettagebuch notierte er die Eindrücke, welche die Millionenstadt am Nil auf ihn machte. Mit Thomas Brussig sprach Julia Gerlach.

Interview Rolf Stehle:
"Wir betreiben keinen Kulturimport"
1955 wurde in Beirut das erste Goethe-Institut in der arabischen Welt eröffnet. Über kulturelle Außenpolitik und fehlende Finanzmittel sprach Bernhard Hillenkamp mit Rolf Stehle, derzeitiger Instituts-Leiter in Beirut.

www
Das Projekt "Nahaufnahme" auf der Homepage des Goethe-Instituts