Lass uns nicht im Stich

Im Irak werden Heiligtümer der Jesiden von den Dschihadisten des IS zerstört. Diese bilden inzwischen eigene Kampftruppen zum Schutz ihrer Sakralbauten. Einzelheiten von Joseph Croitoru

Von Joseph Croitoru

"Wir sind 350 Familien auf den Bergen und ohne Wasser und Nahrung, die Zahl der Toten durch Verdursten steigt. Bitte helft uns, ich schreibe diesen Hilferuf nahe dem Gipfel des Gebirges in Sindschar. Mein Akku hält nicht mehr lange."

Verzweifelte Notrufe gehen täglich bei Hayri Demir in Hannover ein. Von dort aus betreibt der junge Publizist das Nachrichtenportal "Ezidi Press". Hier ist man über das Schicksal der Jesiden im nordirakischen Sindschar und Umgebung sehr besorgt, nicht weniger aber auch um eine differenzierte Darstellung ihrer dramatischen Lage bemüht.

Verständlich, dass hiesige Vertreter der jesidischen Exilgemeinschaft angesichts der Morde an ihren Glaubensbrüdern und der Entführung Hunderter Frauen und Mädchen durch die Dschihadisten des IS ("Islamischer Staat") schnell dabei sind, von "Völkermord" zu sprechen.

Die von "Ezidi Press" seit Tagen erstellte "Chronik der Übergriffe auf die Jesiden" vermittelt indes eher den Eindruck, dass die bewaffneten Banden der IS durch gezielte Hinrichtungen vor allem die Massenflucht der Jesiden betreiben wollen – was ihnen auch gelungen ist. Hier scheint eher der Begriff der "ethnischen Säuberung" geboten, wie ihn etwa der in Hannover lebende und sich derzeit im kurdischen Erbil aufhaltende jesidische Aktivist und Politikberater Mirza Dinayi verwendet.

Kampf um die Heiligtümer

Jesiden auf der Flucht von IS aus dem Irak; Foto: Reuters
Tausende Jesiden flüchteten vor IS aus dem Irak und verließen das Land über das Sindschar-Gebirge um in Syrien Zuflucht zu finden.

Doch nicht nur das Leben mehrerer zehntausend Flüchtlinge, die im Sindschar-Gebirge Zuflucht suchen,  ist trotz begonnener Hilfsaktionen immer noch in Gefahr. Auch der gesamte Kulturraum dieser Glaubensgemeinschaft in der Region um Sindschar, wo bereits zahlreiche ihrer religiösen Stätten der Zerstörungswut der IS-Kämpfer zum Opfer gefallen sind, ist ernsthaft bedroht.

Hayri Demir zufolge wurden kleinere Heiligtümer südlich und nördlich des Sindschar-Gebirges in einem Dutzend Ortschaften zerstört, darunter etwa Siba Sheikh Khidir und Til Azer sowie Zorava und Hirdan. Die Stoßtrupps des IS-Kalifats starteten zudem einen Angriff auf Scherfedin, die wichtigste religiöse Stätte der Region, die sich in der Stadt Sindschar befindet. Schnell verbreitete sich in den arabischen Medien das – falsche – Gerücht, die dortige Anlage, bestehend aus zwei Bauten mit den für die jesidische Sakralarchitektur typischen lamellenförmigen Spitztürmen, sei gesprengt worden.

In Wahrheit gelang es jesidischen Selbstverteidigungskräften und den zu Hilfe geeilten kurdischen Peschmerga-Einheiten, den Überfall der IS-Milizionäre vorerst abzuwehren. Besonders auch zum Schutz dieser zentralen heiligen Stätte rief die jesidische Gemeinde im Ort vor einigen Tagen die "Widerstandsgruppe Sindschar" ins Leben, die inzwischen mehrere tausend kampfbereite Mitglieder rekrutiert haben soll.

Nach dem Grabmal des Mystikers Scheich Adi Ibn Musafir al-Umawi (1073 bis 1163) – die Jesiden betrachten den Sufi als Religionsstifter und verehren ihn als Heiligen -, das im Lalisch-Tal im autonomen kurdischen Gebiet liegt und gegenwärtig nicht direkt gefährdet zu sein scheint, ist das Scherfedin-Heiligtum in Sindschar die wichtigste Pilgerstätte der Jesiden. In der jesidischen Tradition ist sie besonders mit Widerstand und Heldentum verknüpft. Darauf beruft sich jetzt auch die jesidische Schutztruppe.

Mitglieder des Kurdischen Roten Halbmondes helfen einer jesidischen Frau; Foto: Reuters
Mitglieder des Kurdischen Roten Halbmondes helfen einer verletzten jesidischen Frau bei der Flucht über die syrische Grenze. Während ihrer Offensive hat die IS Miliz bereits um die 500 Mitglieder der Jesiden umgebracht.

Gegen die Scharia-Kämpfer

Scherfedin war der Sohn von Scheich Hassan Ibn Adi, einem entfernten Verwandten und Nachfolger des Religionsgründers Scheich Adi. Zu seinen Lebzeiten waren die Jesiden um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts der Verfolgung durch Badr al-Din Lulu, den sunnitischen Statthalter von Mossul, ausgesetzt.

Als sich eine Gruppe jesidischer Kämpfer seinen Truppen in Lalisch entgegenstellte, wurden die meisten getötet und der gefangen genommene Scheich Hassan öffentlich gehängt. Dem Sohn Scherfedin war die Flucht nach Sindschar gelungen, wo er den Widerstand neu organisierte. Bevor auch er im Jahr 1257 im Kampf fiel, konnte er noch eine Botschaft an seine Glaubensbrüder senden, die als die "Scherfedin-Hymne" überliefert und bei den Jesiden heute auch als Lied verbreitet ist. Scherfedin wird besonders in der Region Sindschar auch mit dem Mahdi identifiziert, einer an die islamische Tradition angelehnten Messias-Figur, die in der Endzeit als Erlöser erwartet wird.

Vor dem Hintergrund des noch anhaltenden Verteidigungskampfes in der Stadt Sindschar erhält diese Überlieferung erschreckende Brisanz, weil sie eine eschatologische Schlacht beschreibt, in der die Jesiden den Angriffen der "Scharia-Anhänger" die Stirn bieten - die Mörderbanden der IS betrachten sich bekanntlich als die authentischen Ausleger des islamischen Religionsgesetzes. In der Scherfedin-Hymne sammeln sich die jesidischen Kämpfer um ihren Feldherrn "Sultan Ezi". An einer Stelle heißt es: "Sultan Ezi, verleih uns Mut! / Wir werden uns um dich scharen / Lass uns nicht im Stich und nicht in die Hände der Scharia fallen."

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de