Dschihad im Kinderzimmer

Zahlreiche Jugendliche gleiten in die islamistische Szene ab. Warum – und wie schützt man sie davor? Einzelheiten von Arnfrid Schenk

Von Arnfrid Schenk

Safia ist 15 Jahre alt, als sie am 26. Februar dieses Jahres am Hauptbahnhof von Hannover ein Messer zückt und es einem Bundespolizisten in den Hals sticht. Er überlebt schwer verletzt. Zwei Monate zuvor war die Gymnasiastin nach Istanbul geflogen, um sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen. Bevor sie die Grenze zu Syrien überschreiten konnte, holte ihre Mutter sie zurück nach Hannover. Im Internet sind Filme von Safia zu sehen, wie sie als Grundschülerin neben dem Salafistenprediger Pierre Vogel sitzt und Koran-Suren rezitiert. Im Hidschab, kein Haar schaut darunter hervor – als Achtjährige. Ihre Mutter hat sie so erzogen.

Am 16. April explodiert in Essen vor einem Sikh-Tempel eine Bombe. Während einer Hochzeitsfeier. Ein Priester und zwei Gäste werden verletzt. Die beiden Täter sind 16 Jahre alt. Einer von ihnen ist bereits im Visier des Verfassungsschutzes, auf Facebook verbreitet er islamistische Propaganda, nennt sich "Kuffar Killer" – "Mörder der Ungläubigen". Wegen Körperverletzung und Einbruch ist er aktenkundig. Sein Komplize hatte an Koran-Verteilungsaktionen von Islamisten teilgenommen.

Das sind nur die jüngsten Beispiele von deutschen Jugendlichen, die in ein gewaltbereites islamistisches Milieu abgerutscht sind. Über 8.600 Muslime rechnet der Verfassungsschutz zur salafistischen Szene. Angesichts der vier Millionen Muslime in Deutschland eine winzige Minderheit. Aber eine, die beständig wächst. Vor fünf Jahren waren noch keine 4.000 Anhänger erfasst. Rund 800 von ihnen verließen Deutschland und gingen alsDschihadisten nach Syrien, 130 wurden getötet, 20 davon bei Selbstmordanschlägen, 260 sind zurückgekehrt.

Salafisten werben vor Schulen, in Jugendzentren, im Internet. Besonders eifrig ist dabei der Konvertit Pierre Vogel, der als Open-Air-Prediger durch die Städte zieht und in Hunderten YouTube-Videos seinen Islam erklärt.

In den Fängen der Salafisten

Trotzdem bleibt die Frage, warum so viele Jugendliche in die Fänge der Salafisten geraten. Und: Wie kann man sie davor bewahren?

Auf die erste Frage gibt es viele Antworten. "Mögliche Antworten", sagt Michael Kiefer. Er ist Islamwissenschaftler an der Universität Osnabrück und versucht derzeit im Auftrag des Bundesjugendministeriums herauszufinden, warum sich Jugendliche radikalisieren. Kiefer und ein Mitarbeiter führen Interviews mit Islamisten, deren Bekannten, Freunden, Geschwistern, Eltern.

Für Michael Kiefer sind salafistische Gruppen ein Auffangbecken für die Verunsicherten, für die Chancenlosen, für die, die sich an den Rand gedrängt fühlen, mit Schule oder Familie nicht klarkommen, die in einer Identitätskrise stecken. Die Salafisten locken sie nicht nur mit religiösen Inhalten, sondern auch mit dem Gefühl, wichtig zu sein, Teil einer großen Sache – und besser als die anderen.

Wer hingegen eine gute Ausbildung habe und sich trotzdem radikalisiere, so Kiefer, sei oft von einem Gerechtigkeitsmotiv getrieben, überzeugt davon, Muslime seien die Opfer der Weltpolitik, für die man kämpfen müsse. Möglicherweise fällt Safia in dieses Raster.

Salafisten sind fundamentalistische Muslime, die einen Gottesstaat anstreben. Für sie zählt die Scharia, nicht das Grundgesetz. Alle Fragen des menschlichen Zusammenlebens regeln der Koran und die Überlieferungen des Propheten Mohammed. Wer sich daran hält, wird mit dem Paradies belohnt, auf die anderen wartet die Hölle.

Zwar ist, wer sich zum Salafismus bekennt, noch lange kein Terrorist, der im Namen des Islams Anschläge verübt oder nach Syrien in den Dschihad zieht. Es gibt Salafisten, die einfach ein gottgefälliges Leben führen wollen, es gibt welche, die zwar einen islamischen Staat anstreben, Gewalt jedoch ablehnen. Aber: Alle, die in die radikalislamistische Szene abgedriftet sind, hatten zuvor Kontakt zu salafistischen Gruppen.

Vielen, die sich dem Salafismus anschließen, fehlt ein religiöses Grundwissen. Der Salafismus lockt sie mit einfachen Regeln, die die Welt in Gut und Böse einteilen. Allerdings gebe es noch große Wissenslücken, wie sich die Szene genau zusammensetze, sagt Kiefer. Lange hatte Deutschland entsprechende Forschung und Prävention vernachlässigt. Gelder flossen vor allem in Richtung Verfassungsschutz. Das hat sich geändert. 2015 hat das Bundesjugendministerium 5,8 Millionen Euro für Präventionsmaßnahmen gegen gewaltbereiten Islamismus ausgegeben. Dieses Jahr sollen es 7,5 Millionen Euro werden.

Anhänger jubeln in der Innenstadt von Frankfurt am Main dem salafistischen Prediger Pierre Vogel zu; Foto: Boris Roessler/dpa
Mit Selfie und geballter Faust für die Umma: Salafisten sind fundamentalistische Muslime, die einen Gottesstaat anstreben. Für sie zählt die Scharia, nicht das Grundgesetz. Alle Fragen des menschlichen Zusammenlebens regeln der Koran und die Überlieferungen des Propheten Mohammed. Wer sich daran hält, wird mit dem Paradies belohnt, auf die anderen wartet die Hölle.

Präventionsnetzwerke gegen Islamismus

Es hat sich viel getan, aber noch fehlt es an flächendeckenden Angeboten. Erst spät haben einige Bundesländer damit begonnen, Präventionsnetzwerke aufzubauen. Vieles ist noch unkoordiniert, es fehlt eine Gesamtstrategie, ein gegenseitiger Austausch. Es gibt zahlreiche einzelne Projekte, die meisten in Ballungsgebieten, nur wenige auf dem Land – doch auch dort radikalisieren sich Jugendliche. Was funktioniert, was nicht? Das ist bisher nicht geklärt. Deshalb ist auch die zweite Frage – wie bewahrt man die Jugendlichen vor Islamismus? – noch offen.

Michael Kiefer kann zumindest die Richtung vorgeben. "Prävention", sagt er, "muss früh ansetzen, und es müssen alle zusammenarbeiten: Lehrer, Eltern, Sozialarbeiter, Imame, Vereinstrainer. Die müssen miteinander reden, sobald ihnen an einem Jugendlichen etwas auffällt. Das muss institutionalisiert werden."

Einer, der früh ansetzt, ist Nadim Gleitsmann. Er arbeitet bei Ufuq (arabisch für Horizont), einem Berliner Verein, der bundesweit Lehrer und Jugendarbeiter über Salafismus aufklärt und mit Jugendlichen in Workshops über Islam und Demokratie diskutiert. Gleitsmann geht in Hamburg in Berufsschulen genauso wie in Gymnasien, zu Achtklässlern wie zu Abiturienten. Er kommt, wenn die Lehrer sich nicht mehr zu helfen wissen.

Wenn Schüler Mädchen als Ungläubige beschimpfen, weil sie kein Kopftuch tragen, Osama bin Laden als Helden feiern oder die Charlie Hebdo-Attentäter als "Ehrenbrüder" bezeichnen. Was ist bloß Provokation, was ist Überzeugung? Gleitsmann redet mit den Schülern über Islam, Islamismus und Islamfeindlichkeit. Er zeigt kurze Filme, in denen Theologen erklären, wie ein Begriff wie "Dschihad" eigentlich zu verstehen ist. Den Schülern, die radikale Ansichten verbreiten, muss die Anführerrolle abspenstig gemacht werden, sagt Gleitsmann, der selbst Muslim ist und Islamwissenschaften studiert hat. Ziel sei es, die Jugendlichen gegen die Ideologie der Salafisten zu impfen. Dazu müsse man nicht unbedingt über Religion sprechen, sondern die Frage in den Mittelpunkt stellen: Wie wollen wir leben?

Auch die Bundeszentrale für politische Bildung ist in der Islamismus-Prävention aktiv. Sie setzt seit einigen Monaten auf YouTube-Filme. "Begriffswelten Islam" heißt ihre Aufklärungskampagne. Darin erklären Islamwissenschaftler etwa, was Kalifat bedeutet. Der salafistischen Islam-Interpretation soll so etwas entgegengesetzt werden. Damit das bei der Jugend ankommt, moderieren YouTube-Stars wie LeFloid die Videos. Die Klickzahlen sind mit 130.000 Aufrufen vielversprechend.

Die Bundeszentrale fördert auch die Arbeit von Patrick Frankenberger. Der Politologe ist bei Jugendschutz.net Projektleiter für Islamismus im Internet. Seine Aufgabe ist es, das Netz von islamistischer Propaganda zu säubern, dazu zählen auch die Gräuelvideos des "Islamischen Staates". Fast täglich bekommt er Videos zu sehen, in denen Menschen gefoltert, geköpft, verbrannt, aus nächster Nähe erschossen werden. Manchmal, als wäre der Horror nicht schon groß genug, von zwölfjährigen Jungen.

Wut soll geschürt werden

Die Videos des IS kursieren auf Facebook, Twitter, YouTube, in WhatsApp-Gruppen. Und gelangen so auch auf die Pausenhöfe deutscher Schulen. Aufwendig inszeniert, mit einer Dramaturgie des Schreckens, die Filmschnitte rhythmisch der Musik angepasst. Als ob Profis am Werk seien, sagt Frankenberger. Die "Rechtfertigung" für die Hinrichtungen wird mitgeliefert, es habe sich um Ungläubige gehandelt, jüdische Spione oder Soldaten Assads. Auf viele Jugendliche wirkten die Videos zwar abschreckend, sagt Frankenberger. "Aber auf die gewaltaffinen können sie einen Sog ausüben."

Islamwissenschaftler Michael Kiefer; Foto: dpa/picture-alliance
Islamwissenschaftler Michael Kiefer: "Prävention muss früh ansetzen, und es müssen alle zusammenarbeiten: Lehrer, Eltern, Sozialarbeiter, Imame, Vereinstrainer. Die müssen miteinander reden, sobald ihnen an einem Jugendlichen etwas auffällt. Das muss institutionalisiert werden."

Die Propaganda der Islamisten beschränkt sich nicht auf Gräuelvideos. Fotos werden aus ihrem Kontext gerissen: Sie zeigen etwa Erdbebenopfer aus Tibet, in dem dazugehörigen Text heißt es aber: "Hier sieht man, wie Muslime in Burma abgeschlachtet wurden." Wut soll geschürt werden. In vielen Videos wird der militante Dschihad auch zum großen Abenteuer, der Kämpfer aus Deutschland zum Helden stilisiert, der "Islamische Staat" als ein geradezu paradiesisches Land beworben.

Die Internet-Propaganda der Islamisten hat vor allem Jugendliche im Visier. Sie veröffentlichen Videos von verfremdeten Computerspielen, Call of Duty wird so zu Call of Jihad, der Spieler, der dabei zu sehen ist, kämpft als Dschihadist und verübt Attentate. Oder SpongeBob ruft zur Vernichtung Israels auf.

In über tausend Fällen sind Frankenberger und seine Kollegen auf islamistisches Propagandamaterial gestoßen. Sie wenden sich dann an die Betreiber der Plattformen, um die Filme löschen zu lassen. Gelöscht werden muss alles, was gegen den Jugendmedienschutz verstößt, dazu gehören Volksverhetzung, Gewaltdarstellungen, Kriegsverherrlichung.

Thomas Mücke, Pädagoge und Politologe, arbeitet mit denen, die durch die noch weiten Maschen der Prävention gerutscht sind. Mit Syrien-Rückkehrern. Mücke ist einer der Geschäftsführer des Berliner Violence Prevention Network (VPN). Neben Beratungsstellen in mehreren Bundesländern kümmert sich VPN um die "Deradikalisierung im Strafvollzug", unter anderem in Gefängnissen in Berlin, Hessen und Niedersachsen.

"Die, die zurückkehren, sind verunsichert", sagt Mücke. Sie stellten Fragen: "In Syrien töten Muslime Muslime. War das islamisch, was ich dort erlebt habe?" Von einem Syrien-Rückkehrer stamme der Satz "Ich bin lieber in Deutschland im Gefängnis als in Syrien in Freiheit."

Die Zweifel der Rückkehrer bieten Mücke die Ansatzpunkte für seine Arbeit. "Sie sollen wieder anfangen, ihren Kopf einzuschalten", sagt er. "In den Islamistenkreisen zählt nur eines: folgen, nicht fragen. Die haben da ihren Verstand abgegeben."

Deradikalisierung im Knast als Präventionsarbeit

Einmal die Woche trifft er sich mit ihnen, die leichteren Fälle in der Gruppe, die Härtefälle in Einzelgesprächen. Die Vorarbeit haben da schon muslimische Mitarbeiter geleistet. Sie versuchen, Vertrauen aufzubauen. Sie reden über die Religion, zeigen auf, dass die Sichtweise der Islamisten nicht die einzige und nicht die richtige ist. "Man muss ihnen klarmachen, dass der Islam seinen Platz in der Gesellschaft hat", sagt Mücke, "der Islamismus aber nicht." Mücke und seine Mitarbeiter begleiten die Jugendlichen auch nach der Haft, helfen ihnen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Deradikalisierung im Knast ist gleichzeitig Präventionsarbeit. Ein Rückfall droht immer, Gefängnisse sind schon lange ein bevorzugtes Jagdrevier radikaler Salafisten.

Prävention kann keine Garantien geben. Und sie braucht Zeit. Das zeigte sich jüngst in Nordrhein-Westfalen: Einer der beiden Bombenleger aus Essen war seit über einem Jahr in einem freiwilligen Aussteigerprogramm. Ein Anruf beim Innenministerium ergibt: Die Landesregierung will das Programm dennoch weiter ausbauen. Was wäre auch die Alternative?

Wie kompliziert es ist, die Dynamiken in der Szene zu erfassen, zeigt das Beispiel des prominentesten deutschen Salafistenpredigers Pierre Vogel. Auch wenn Vogel sich bei seinen Auftritten routiniert vom Terror distanziert – für viele Jugendliche ist er ein Lotse in den Islamismus. Da mutet es bizarr an, dass er selbst nun ins Fadenkreuz von Islamisten gerät: In der jüngsten Ausgabe des englischsprachigen IS-Propagandamagazins wird er als Abtrünniger bezeichnet. Titel des Artikels: Tötet die Imame der Ungläubigen des Westens. Vogel hatte die Anschläge von Paris und Brüssel als eine Sünde bezeichnet. Ganz routiniert.

Arnfrid Schenk

© Die Zeit 2016