Gottes Gegenkultur

Islamistische Gruppierungen sind aus dem politischen Diskurs in vielen islamisch geprägten Ländern nicht mehr wegzudenken. Aber was ist der Islamismus überhaupt? Ist er mehr als ein Fanatismus der Verlierer? Und wie soll der Westen mit den "moderaten Islamisten" umgehen? Antworten von Sonja Zekri.

Stimmabgabe im Irak; Foto: dpa
Der Preis für die Unterdrückung des Islamismus im Namen der Freiheit, das haben Länder wie Ägypten und Tunesien gezeigt, liegt gerade in der Aushöhlung der Demokratie, meint Sonja Zekri.

​​ Von Rabat bis Damaskus empfehlen sich religiöse Gruppierungen als Alternative zu den verkommenen, despotischen Regimen, allen voran die Muslimbrüder in Ägypten, die älteste, größte und einflussreichste islamistische Organisation. Und doch spürt man keinen Ruck, hört man keinen Jubel. Palästina, der hochsymbolische Referenzkonflikt für die gesamte Region, ist in vieler Hinsicht ein Sonderfall, vor allem aber: Die islamistischen Bewegungen der Nachbarstaaten haben der Gewalt längst abgeschworen. "Unsere Regierungen wissen sehr wohl, dass die Muslimbrüder keinen Staatsstreich planen", sagt der Politologe Diaa Raschwan vom Al-Ahram-Zentrum für politische und strategische Studien in Kairo.

Es gehört zu den Schicksalsfragen der arabischen Welt, ob das Bekenntnis islamistischer Gruppierungen zur Gewaltlosigkeit ehrlich gemeint ist oder bloße Taktik. Aber Islamforscher wie Oliver Roy plädieren vorerst für kühnen Positivismus: Auch die Islamisten müsse man an ihren Taten und nicht an ihren Absichten messen: "Aufrichtigkeit ist kein politisches Konzept."

Der nihilistische Dschihadismus schockiert den Westen durch scheinbar unaufhaltsame Terroraktionen über alle Grenzen hinweg, der moderate Islamismus aber reüssiert lokal. In Marokko hat die islamistische Parti de la Justice et du developpement (PJD) die "Maoudawana" König Mohammed VI. mitgetragen, ein aufsehenerregend progressives Familienrecht, das Frauen das Recht auf Scheidung einräumt, das Heiratsalter auf 18 heraufsetzt und im Fall der Trennung die gleichmäßige Güterverteilung bestimmt. Muslimbrüder in Jordanien verurteilten den Irak-Krieg, während ihre Gesinnungsgenossen im Irak in der Regierung saßen.

Flexibler Pragmatismus islamistischer Gruppierungen

Mit diesem flexiblen Pragmatismus sind die Islamisten in vielen Ländern zur einzigen ernsthaften Opposition aufgestiegen. In Ägypten, wo die Muslimbrüder offiziell verboten sind und nur unabhängige Kandidaten aufstellen, würden sie bei freien Wahlen mindestens dreißig Prozent der Stimmen holen, schätzt Raschwan, bei niedriger Wahlbeteiligung noch mehr, denn ihre Anhänger sind jederzeit mobilisierbar. Sozialisten, Liberale, Nationalisten sind längst marginalisiert. Dass viele Regime den dräuenden Gottesstaat zum Vorwand nehmen, um die säkulare Opposition gleich mit zu erledigen, spielt den Islamisten nur in die Hände.

Palästinensischer Kämpfer im Süden Libaonons; Foto: AP
Der Islamismus ist kein politisches Phänomen, nicht einmal ein rein religiöses, sondern eine gigantische soziale und kulturelle Transformation, erklärt Sonja Zekri.

​​Der Preis für die Unterdrückung des Islamismus im Namen der Freiheit, das haben Länder wie Ägypten und Tunesien gezeigt, liegt gerade in der Aushöhlung der Demokratie. Für den Westen ergibt sich daraus ein Dilemma. Islamisten gehören heute zu den glühendsten Befürwortern von Meinungsfreiheit, fairen Wahlen und Pluralismus - genuin westlichen Werten. Schwer durchschaubare Allianzen entstehen. Die inzwischen marginalisierte ägyptische Protestbewegung "Kefaja" (Genug), ein Sammelbecken heterogener politischer Kräfte, marschierte gemeinsam mit den Muslimbrüdern gegen die Mubarak- Gerontokratie. Und unlängst protestierten in Kairo Blogger und Islamisten gemeinsam für mehr Freiheit im Netz.

Unklares Verhältnis der Islamisten zur Demokratie

Dabei weiß niemand, ob die Islamisten zur Demokratie ein mehr als funktionales Verhältnis haben, ob sie sich tatsächlich abwählen lassen oder sich ihr Pluralismusverständnis doch in Bernard Lewis' Formel "One man, one vote, one time" erschöpft: Jeder hat eine Stimme, aber das nur einmal. Die Islamisten, gibt der junge Soziologe Mohsen Elahmadi aus Rabat, der zehn Jahre in Paris gelebt hat und die islamistischen Bewegungen in Marokko erforscht, zu bedenken, operieren mit dem "Heiligen" auf dem unheiligem Terrain der Politik und der Geschichte: "Sie haben nie begriffen, dass Demokratie ein notwendiger Wert unserer Zeit ist."

Doch Parteienarithmetik allein wird dem Islamismus ohnehin nicht gerecht. Er ist kein politisches Phänomen, nicht einmal ein rein religiöses, sondern eine gigantische soziale und kulturelle Transformation. Elahmadi nennt ihn eine "Gegenkultur", und die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer vergleicht ihn mit den Grünen: "Politisch sind die Grünen heute nicht dominant, aber grüne Ansichten sind höchst einflussreich. Rein funktional ist es bei den Islamisten ähnlich: Sie bestimmen, wie man sich kleidet, was man isst. In diesen Dingen sind sie wahnsinnig erfolgreich."

Gigantische soziale und kulturelle Transformation

Selbst wenn die Islamisten nie an die Macht kommen - sie haben ihre Länder verwandelt. Nicht nur durch Krankenhäuser und Kindergärten, durch Fürsorgeeinrichtungen, die wahrscheinlich sogar sozial stabilisierend wirken. Die Kopftücher in Rabat, Algier und Alexandria, wo vor dreißig Jahren noch kurze Röcke und ärmellose Kleider en vogue waren, sind nur der augenfällige Teil des Wandels. Gebetsnischen in Kairos Metrostationen, das Wort "Allah" mit Steinen mitten in die Wüste gelegt, Gebetsuhren mit Kompass (Mekka!) und Hidschra-Modus (Ramadan!) - bei allen Tricks, mit denen der Einzelne sich den religiösen Zwänge entzieht, vollzieht sich die religiöse Durchdringung der Gesellschaft doch auf der Grundlage eines breiten Konsenses.

Es gibt Demonstrationen gegen Israel und Amerika, gegen die Mohammed-Karikaturen und gegen den Terror, sogar gegen die eigene Regierung - aber nicht gegen die Islamisierung, nicht einmal von Frauen. Insofern greifen auch jene marxistischen Erklärungsversuche zu kurz, die Frömmigkeit nur als Reaktion auf Armut und Not werten. Erstens rekrutieren sich die Islamisten gerade aus der mittelständischen technischen Intelligenzija, und zweitens beweisen die Golfstaaten, dass sich Wohlstand und reaktionäre Borniertheit nicht ausschließen.

So spottet Mohsen Elahmadi zwar über das spirituelle Grundrauschen - "Wir sind auf das Jenseits fixiert, als würden wir morgen sterben!" - aber auch er begrüßt es als Immunisierung gegen den großen Gleichmacher Globalisierung: "Die islamistischen Bewegungen sind das Zeichen einer Kultur, die sich gegen einen äußeren Aggressor verteidigt." Gegen den Imperialismus materieller Werte setze die islamische Welt eben den Imperialismus spiritueller Werte, sagt er. Das klingt wie Huntington.

Dialektik des Islamismus

Die Frage nach den Rechten von Frauen und sozialen Minderheiten kontern selbst Säkulare mit dem Hinweis auf Altenheime im Westen. Gerechtigkeit, Rücksicht auf Schwächere, Toleranz gegenüber Andersgläubigen - stehe alles im Koran. Selbst die Unterdrückung der Frau sei nicht dem Propheten, sondern seinen Exegeten anzulasten. Homosexualität ist in vielen säkular regierten arabischen Ländern geächtet - und existiert doch. Und der Hass auf Israel und Amerika ist kein Privileg der Islamisten, er wird von offizieller Stelle lediglich mühsam kanalisiert.

Alle Versuche, die Religiösen zu isolieren oder zu neutralisieren führten bislang zu blutigem Terror (Algerien) oder zu Repression (Ägypten). Sie haben weder die Radikalisierung einzelner Gruppen noch die schleichende Islamisierung der Massen aufhalten können. Das alte, vorsichtige Europa, das den Säkularismus, die Überwindung von Nationalismus und Faschismus erst in verlustreichen Kriegen erstritten hat, sieht diese Utopie-Verliebtheit mit umso größeren Grausen, als kein Staat je einem anderen eine schmerzhafte Erfahrung hat abnehmen können. Vor allem aber stellt die Dialektik des Islamismus die erlösende Wirkung demokratischer Verfahrungen überhaupt in Frage. Die phobische Reaktion auf alle Partizipationsforderungen der Islamisten ist auch die Folge einer tiefen europäischen Verunsicherung.

Sonja Zekri

Qantara.de 2008

Qantara.de

Die "Quilliam-Foundation"
Ein muslimischer Think Tank gegen Extremismus
Die im letzten Mai gegründete "Quilliam-Foundation" versteht sich als anti-islamistischer Think Tank, der von ehemaligen Mitgliedern der Hizb ut-Tahrir gegründet wurde. Für die Sicherheitsbehörden in Europa sind solche Aussteiger neue Hoffnungsträger im Kampf gegen den radikalen Islam. Albrecht Metzger berichtet weshalb.

Perspektiven auf den radikalen Islamismus
Der Kampf um die Bedeutung des Islam
Der syrische Denker Sadik al-Azm schlug den Arabern bereits 1968 eine "Selbstkritik nach der Niederlage" und im folgenden Jahr eine "Kritik des religiösen Denkens" vor. Er sieht für den muslimischen Glauben einen dritten Weg zwischen Radikalismus und Staatsislam.

Perspektiven auf den radikalen Islamismus
Generationen des Zorns
Was nährt den radikalen Islamismus, und wie lässt er sich differenzieren? Volker Perthes, ausgewiesener Nahostexperte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, liefert in seiner Analyse fünf konkrete Ansatzpunkte, wie Europa in der muslimischen Welt konstruktiv agieren könnte.

Dossier
Islamismus
Welche islamistischen Strömungen haben sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet und welches Verhältnis haben die unterschiedlichen Gruppierungen zu Rechtsstaatlichkeit und Gewalt? Wie reagieren Deutschland und Europa auf diese Herausforderung? Qantara.de versucht, verschiedene Aspekte dieses aktuellen Phänomens zu beleuchten.