Ein Kalif zu viel

Das selbsternannte Kalifat der IS-Terroristen kennt keine Grenzen. Seit einiger Zeit werden die schwarzen Flaggen des "Islamischen Staates" auch in Afghanistan gesichtet. Damit fordern sie ihre Rivalen des "Islamischen Emirats Afghanistan", besser bekannt als die Taliban, direkt heraus. Von Emran Feroz

Von Emran Feroz

Vor wenigen Tagen wurde der ehemalige Taliban-Kommandant und Ex-Guantanamo-Häftling Mullah Abdul Rauf Khadim gemeinsam mit sechs weiteren Personen von einer US-Drohne in der südafghanischen Provinz Helmand getötet. Drohnen-Angriffe gehören zum Alltag in Afghanistan, berichtet wird nur selten über sie. Doch in diesem Fall stürzten sich die Medien darauf. Der Grund: Khadim galt als "stellvertretender Gouverneur" des "Islamischen Staates" (IS) in Afghanistan und soll im Auftrag des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al Baghdadi Männer rekrutiert haben.

Nachdem sich im Laufe der letzten Wochen einige Extremisten sowohl auf afghanischer als auch auf pakistanischer Seite verselbstständigt hatten, schworen sie dem IS die Treue. Angeführt wurden sie von Hafez Said Khan, einer ehemaligen Führungsperson der pakistanischen Taliban (TTP). IS-Sprecher Abu Mohammad al-Adnani reagierte daraufhin, indem er die "Provinz" (arabisch: "Wilayah") Khorasan als Enklave des "Islamischen Staates" offiziell anerkannte und Khan zu dessen Gouverneur ernannte.

Der Name Khorasan bezieht sich auf die historische Bezeichnung der Region und umfasst Teile des heutigen Afghanistans, Irans, Tadschikistans, Usbekistans sowie Turkmenistans. Auch die paschtunischen Stammesgebiete jenseits der Durand-Linie, die Pakistan für sich beansprucht, werden vom IS miteinbezogen.

Den afghanischen Taliban waren die IS-Aktivitäten von Anfang an ein Dorn im Auge. Die beiden Gruppierungen unterscheiden sich maßgeblich – sowohl ideologisch als auch in Hinsicht auf ihre politischen Ziele. Während der IS dem salafistisch-wahhabitischen Spektrum zugeordnet wird, betrachten sich die Taliban als Anhänger der hanafitischen Rechtsschule des Islams. Auch der Umgang mit Minderheiten und lokalen Bräuchen ist ein anderer. Während der IS Schiiten ermordet, Christen verfolgt sowie Schreine und Moscheen in die Luft jagt, konnten derartige Taten den Taliban nie zugeordnet werden.

Unausweichliche Konfrontation

Protest gegen den IS in Kabul am 12. Oktober 2014 in Kabul; Foto: Hambastegi
Auf Kriegsfuß mit dem "Islamischen Staat": Den afghanischen Taliban waren die IS-Aktivitäten von Anfang an ein Dorn im Auge. Die beiden Gruppierungen unterscheiden sich maßgeblich – sowohl ideologisch als auch in Hinsicht auf ihre politischen Ziele. (Öffentliche Proteste gegen den IS in Kabul am 12. Oktober 2014 in Kabul)

Ferner operieren die afghanischen Taliban ausschließlich in Afghanistan, wohingegen der IS keine Grenzen kennt. Selbst die TTP hat sich stets auf Pakistan, vor allem auf die paschtunischen Stammesgebiete, beschränkt. Mittlerweile sind die pakistanischen Taliban jedoch nahezu vollständig zersplittert und unorganisiert. Erst als Folge hiervon schworen einige ehemalige Mitglieder dem IS die Treue.

Das wohl entscheidendste Problem zwischen den beiden Gruppierungen ist die Tatsache, dass beide Seiten – sowohl der "Islamische Staat" als auch das "Islamische Emirat Afghanistan" – einen Führer hat, der den Titel "Führer der Gläubigen" (arabisch: "Amir al-Muminin") für sich beansprucht. Laut Auffassung beider Seiten kann es allerdings nur einen einzigen solchen Führer geben. Folglich war eine Konfrontation unvermeidlich.

Bereits vor wenigen Wochen kam es in Helmand zu Konfrontationen zwischen Taliban-Kämpfern und IS-Anhängern. Dabei wurden mehrere Kämpfer von den Taliban entwaffnet und gefangen genommen. Auch Khadim soll sich unter ihnen befunden haben. Die Differenzen zwischen den rivalisierenden Islamisten erreichten wohl den Höhepunkt, als Khadim unter der Bevölkerung das Gerücht verbreitete, Taliban-Führer Mullah Omar sei nicht mehr am Leben. Auch hatte er die Menschen dazu aufgefordert, von nun an ihm zu folgen.

Khadim, der sich seit seinem Guantanamo-Aufenthalt zum Salafismus bekannte, war bereits während seiner Zeit bei den Taliban im Clinch mit ihnen gelegen. Nachdem er aus dem US-Gefangenenlager auf Kuba entlassen wurde – ihm konnte keine Straftat gegen die Vereinigten Staaten nachgewiesen werden – befand er sich wie andere ehemalige Häftlinge unter der vollständigen Obhut der Taliban. Als sich die Differenzen immer mehr zuspitzten, wollten sie letztendlich nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Fahne des Islamischen Staates bei Kirkuk; Foto: Imago/Xinhua
Ungebremste Expansion: Der Islamische Staat hat weite Teile Syriens und des Irak unter seine Kontrolle gebracht und dort ein Kalifat ausgerufen. Im Januar erklärte die Miliz, ihren Einfluss auch auf "Chorasan" ausweiten zu wollen - ein Begriff, mit dem Islamisten die Region Pakistan und Afghanistan bezeichnen.

Nichtsdestotrotz geht der politische Analyst und Taliban-Kenner Waheed Mozhdah davon aus, dass Taliban-Chef Mullah Mohammad Omar an keinem gewalttätigen Konflikt mit den Abtrünnigen interessiert war. "Mullah Omar hat Vertreter nach Helmand geschickt, um Khadim zu überreden, seinen Treueschwur gegenüber den IS rückgängig zu machen. Er sah die Spaltung als kontraproduktiv an", meint Mozhdah. Da Khadim nun tot ist, weiß man jedoch nicht, ob diese Verhandlungen erfolgreich gewesen sind.

Überzogene Berichterstattung

Mit seiner äußerst geringen Anzahl von Mitgliedern scheint der IS in Afghanistan jedoch kein ernstzunehmender Akteur zu sein – auch wenn die Medienberichte diesbezüglich anders aussehen und die afghanische Bevölkerung teils besorgt zu sein scheint.

"Die Medienberichte bezüglich der IS-Aktivitäten sind maßlos übertrieben und haben mit der Realität nichts zu tun. Vor allem der afghanische Geheimdienst hat ein Interesse an der Panikmache und will damit dem Rückzug der internationalen Truppen entgegenwirken, um weiterhin an ausländischen Finanzmitteln zu verdienen", fügt Mozhdah hinzu.

Auf den Tod ihres "Gouverneurs" hat die IS-Führung im syrischen Raqqa bis jetzt noch nicht reagiert. "Der Tod von Khadim könnte schon der Anfang vom Ende des 'Islamischen Staates' in seiner neuen 'Provinz' Khorasan sein", meint etwa Thomas Ruttig vom "Afghanistan Analysts Network". Auch Ruttig betrachtet die Berichterstattung zum Teil als Panikmache. "In einigen Provinzen spielen afghanische Armeeführer die IS-Gefahr hoch, um zusätzliche Ressourcen zu akquirieren", meint der deutsche Afghanistan-Experte.

Daher ist eher nicht davon auszugehen, dass der "Islamische Staat" in Khorasan noch weiter erstarken wird. Selbst die sogenannten Kharidschiten konnten in Zentralasien noch nie Fuß fassen – jene radikale Strömung, die sich seit dem späten 7. Jahrhundert über die arabische Halbinsel und den Maghreb ausbreitete und aufgrund ihres Extremismus gegenwärtig oftmals mit dem IS in Verbindung gebracht wird.

Emran Feroz

© Qantara.de 2015