Fehlende Differenzierung

Bei der Frage, womit sie den Islam in Verbindung bringen, denken zu viele Deutsche an Gewalt. Der Vorwurf, Muslime hätten motiviert durch die Religion eine besondere Affinität zur Gewalt, ist nicht so neu, wie manche meinen, vielmehr folgt er uralten abendländischen Klischees. Von Bülent Ucar

Von Bülent Ucar

Ein solches Denken geht von der Annahme aus, dass der Islam seit seiner Frühzeit mit Feuer und Schwert verbreitet und alle Ungläubigen im "islamischen Machtbereich" auf barbarische Weise zur Konversion gezwungen wurden. Es gibt hierzu zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die dieses Thema auf vielschichtige Weise nachzeichnen und widerlegen.

In Zeitungen und Talkshows werden Muslime seit Jahren beinahe täglich auf hemmungslose Weise als Menschen beschrieben, die sich in die Luft sprengen, sich als "Scharia-Polizisten" aufspielen, Frauen unterdrücken, intolerant gegenüber Andersdenkenden sind und schlicht Terror verbreiten.

So entsteht der Eindruck, als sei die überwältigende Mehrheit oder doch zumindest eine große Gruppe von Menschen aus dem islamischen Kulturkreis als "Schläfer" jederzeit bereit, diese Gewalt selbst auszuüben oder sie zumindest gutzuheißen und innerlich zu begrüßen.

Tatsächlich zeigen uns aber empirische Untersuchungen sowie amtliche Daten etwa des Bundesinnenministeriums und der Verfassungsschutzbehörden, dass nur ein kleiner Teil der Muslime von solcher Radikalisierung betroffen ist. Rund 30.000 von den etwa vier Millionen Muslimen in Deutschland gelten danach als extremistisch, also nicht einmal ein Prozent, und "nur" rund 1.000 von ihnen wird Gewaltbereitschaft attestiert (Flüchtlinge sind hier nicht mit eingerechnet).

Dichotomie "konservativ" versus "liberal"

Wenn nun einige meinen, die Gruppe der konservativ-traditionellen Muslime in diese Zahlen mit einschließen zu können, dann verwechseln sie im Widerspruch zur Verfassung die Ebenen der religiösen Grundorientierung und des politischen Extremismus. Die Medien und viele Vertreter der Politik hantieren oft mit der Dichotomie "konservativ" versus "liberal", wobei die Vertreter der letzten Kategorie in der Regel protegiert und die der ersten meist marginalisiert werden.

Der Islamwissenschaftler Prof. Bülent Ucar; Foto: privat
Prof. Bülent Ucar ist Leiter des Lehrstuhls für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück.

Ausgeblendet wird dabei, dass das Grundgesetz es freistellt, ob man sich in politischen, religiösen oder weltanschaulichen Dingen als liberal, konservativ, progressiv, sozialdemokratisch, ökologisch oder ähnlich versteht. Mit anderen Worten: Konservativ zu sein, ist bei uns weder verboten noch eine Sünde.

Ich will nicht verschweigen, dass zwischen bestimmten traditionellen Vorstellungen und extremistischen Überzeugungen eine Wechselbeziehung besteht; Ähnliches gibt es aber auch mit Blick auf reformistische Positionen, zumal zahlreiche Extremismusforscher die meisten dieser gewaltbereiten Gruppen als Produkte und Erscheinungen der Moderne bezeichnen.

Muslime als größte Opfer religiöser Gewalt

Das Problem des Extremismus darf nicht kleingeredet werden, zumal schon ein einziges religiös motiviertes Attentat die Stimmung in Deutschland in Richtung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien verschärfen könnte – und meines Erachtens liegt eines der mit Stillschweigen bedachten Probleme genau hierin.

Wenn aufgeklärte und mündige Wähler nicht mehr zwischen gläubigen muslimischen Demokraten und religiös verblendeten muslimischen Extremisten unterscheiden können und als Folge die Muslime dafür in ihrer Gesamtheit, zumindest im öffentlichen Diskurs, in Sippenhaft genommen werden, dann haben wir ein ernstes Problem, das viele Menschen beunruhigt. Die Zahlen sprechen hier nämlich eine viel besorgniserregendere Sprache.

Die größten Opfer des religiösen Extremismus sind die Muslime selbst, und wer das nicht wahrhaben will, sollte einen Blick auf den Nahen Osten oder einfach auf die Flüchtlinge in der Nachbarschaft werfen.

Nicht mit repressiven Polizeimaßnahmen, aber auch nicht mit einer pauschalen, kulturkämpferischen und einschüchternden Berichterstattung wird man diesen Extremismus bekämpfen, sondern mit guter Integrationsarbeit – also mit politischer Partizipation, rechtlicher Gleichstellung, gesellschaftlicher Anerkennung, beruflicher Eingliederung, guter Bildungsarbeit, aktiver Bekämpfung von Diskriminierung und religiöser Aufklärungsarbeit.

Für Letzteres brauchen wir die islamischen Gemeinden und die islamisch-theologischen universitären Einrichtungen, die genuin religiös und theologisch zu argumentieren haben, um glaubwürdig zu sein.

Bülent Ucar

© Qantara.de 2016