"Let's talk about Sex, Ali!"

Religion gilt oft als prüde und lustfeindlich. Ali Ghandour, Wissenschaftler am Graduiertenkolleg der Uni Münster, sieht das anders – und veröffentlichte ein Buch über Sex und Erotik aus der Sicht muslimischer Gelehrter. Mit Ghandour hat sich Lukas Wiesenhütter unterhalten.

Von Lukas Wiesenhutter

In Ihrem Buch verraten Sie, dass Ihre Sexualaufklärung von dem Gelehrten Imam Ibn Kamal Pascha aus dem 16. Jahrhundert übernommen wurde. Das haben Sie sich doch ausgedacht?

Ali Ghandour: Nein, das war für mich ein Schockerlebnis (lacht). Ich habe als Jugendlicher ein Buch von ihm in der Bibliothek meines Vaters entdeckt. Er hat alle möglichen Bücher; aber dieses war ein bisschen versteckt. Da sind Geschichten drin, die man heute vielleicht mit "50 Shades of Grey" vergleichen könnte.

Was schreibt er denn?

Ghandour: Vieles, das heutige Leser als pervers bezeichnen würden; da geht es um erotische Geschichten, die gut auch das Drehbuch für einen Sexfilm sein könnten. Aber dieses Buch hat später in mir die Neugierde geweckt, mich mit dem Thema wissenschaftlich zu befassen.

Warum beschäftigt sich ein muslimischer Theologe von heute mit dem, was Gelehrte vor Jahrhunderten über Sex dachten?

Ghandour: Mein Ziel ist es, auf eine Veränderung aufmerksam zu machen, die im 19. Jahrhundert begonnen und heute ihren Höhepunkt erreicht hat: Das Thema Sex ist in muslimischen Familien und Moscheen weitgehend tabuisiert. Ich hoffe, dass sich Leser, auch Muslime, die Frage stellen: Warum sind die Gelehrten früher mit dem Thema viel lockerer umgegangen?

Cover of ″Lust und Gunst: Sex und Erotik bei den muslimischen Gelehrten″ (Lust and Grace: Sex and the Erotic in the Works of Muslim Scholars) published by Editio Gryphus
Ali Ghandour is an academic at the Graduate College of Islamic Theology in Munster, where he has lectured since 2012 and where he also obtained his PhD. His book ″Lust und Gunst: Sex und Erotik bei den muslimischen Gelehrten″ (Lust and Grace: Sex and the Erotic in the Works of Muslim Scholars) was published in 2015

Und woran liegt das?

Ghandour: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Der Kolonialismus ist ein Grund. Ein anderer ist, dass die Religion sich ideologisiert hat. Sie ist keine Lebensphilosophie und Lebensweise mehr, sondern soll für jeden Bereich eine eindeutige Antwort geben. Das ist erst ein modernes Phänomen: Mehrdeutigkeiten sind nicht mehr gewollt. Vor einigen Jahrhunderten wurden sehr gelassen unterschiedliche Meinungen zum Thema Sex ausgetauscht.

Imam as-Suyuti hat vor 500 Jahren ein Buch über "sexuelle Bewegungen" verfasst. Das klingt nach Kamasutra.

Ghandour: Ja, er hat gleich mehrere Werke über das Thema Sex geschrieben. Zwei davon behandeln die Positionen – sogar eindrücklicher als im Kamasutra. Imam as-Suyuti hat sich auch sprachlich mit dem Thema befasst; auf Arabisch gibt es fast 900 Begriffe allein für den sexuellen Akt.

Was sollte sich denn an der Art ändern, wie heute über Sexualität gesprochen wird?

Ghandour: Das Thema wird heute im Islam fast nur auf der normativen Ebene behandelt: Wann darf ich was mit wem – und wann nicht? Diese Engführung ist neu. Schlimmer noch: Will man heute etwas über das Thema Sex wissen, liest man die alten Rechtstexte. Das führt aber zu Problemen, denn die vorindustrielle Gesellschaft ist mit der heutigen überhaupt nicht zu vergleichen. Damals heiratete man kurz nach der Geschlechtsreife, Alleinstehende und Kleinfamilien waren schlicht nicht vorgesehen. Da kann man nicht die Normen von damals eins zu eins auf heute anwenden.

Den Gelehrten, die Sie zitieren, galt Sex sogar als Gottesdienst...

Ghandour: Ja. Vom Propheten selbst wurde Sex als Almosen betrachtet – als etwas, das den Menschen reinigt. Indem man dem Anderen etwas Gutes tut, tut man sich auch selbst etwas Gutes. Alles, was man aus der Absicht tut, Gott näher zu kommen und den Menschen Gutes zu tun, ist Gottesdienst. Auch Sex. Der Gelehrte Ibn Arabi geht zum Beispiel davon aus, dass die höchste Gotteserkenntnis im Moment des Geschlechtsverkehrs möglich ist. Bei den Sufis, den muslimischen Mystikern, kommen solche Erzählungen besonders häufig vor. Zu diesem Thema ist ein weiterer Band in der Reihe "Lust und Gunst" geplant.

Es ist ungewöhnlich, wenn ein muslimischer Theologe ein Buch zum Thema Sex schreibt. Haben Sie Kritik erfahren?

Ghandour: Interessanterweise waren fast alle Reaktionen positiv – vor allem von jungen Menschen unter 30 Jahren. Das zeigt, dass es eine Sehnsucht danach gibt, dass das Thema behandelt wird. Bestimmt finden das nicht alle gut. Aber diejenigen haben sich bisher noch nicht gemeldet...

Seit den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht wird viel über sexuelle Gewalt in arabischen Ländern gesprochen. Sehen Sie eine Verbindung zu Ihren Forschungen?

Ghandour: Aus theologischer Sicht gibt es da eine klare Antwort: Was in der Silvesternacht passiert ist, ist zu verurteilen. Die Vorfälle zeigen aber auch, dass die Tabuisierung des Themas Sex in muslimischen Gesellschaften nicht gut ist. Ich sage keinesfalls, dass das der einzige Grund für diese Gewalt ist. Aber es täte den Muslimen gut, diese Tabuisierung zu beenden. Sie ist auch nicht nötig: Sogar Gott spricht im Koran über Sex.

Interview: Lukas Wiesenhütter

© Qantara.de 2016

Ali Ghandour wurde 1983 im marokkanischen Casablanca geboren. Er studierte an der Universität Leipzig Arabistik und Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Islamwissenschaft. Seit dem Sommer 2012 promoviert er im Rahmen des Graduiertenkollegs Islamische Theologie an der Universität Münster. In seiner Dissertation untersucht er die Erkenntnistheorie Muhyi ad-Din Ibn al-Arabis.