Die leise Stimme des Muezzin

Vor sieben Jahren öffnete die neue Große Moschee in Granada ihre Pforten, 500 Jahre nachdem die letzten Muslime durch die katholische Reconquista von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Trotz des multikulturellen Charakters der Stadt bereitet der Ruf des Muezzins manchen Anwohnern Unbehagen. Von Troy Nahumko

Minarett der neuen Moschee in Granada; Foto: Troy Nahumko
Die "Mezquita de Granada" wurde 2003 eröffnet: 500 Jahre nach der Vertreibung der Muslime aus Andalusien ertönte erneut leise der Ruf zum islamischen Gebet.

​​ Es ist Mittag. Ein junger Mann erklimmt eine spiralförmige Treppe, an deren Ende sich ihm ein eindrucksvoller Panoramablick auf das Tal unter ihm eröffnet. Er pausiert, atmet tief ein und dann ist es soweit: Da erklingt etwas, das seit mehr als 500 Jahren in diesem Waldrand an den Bergen nicht mehr vernommen wurde. Etwas, das zuvor fast 800 Jahre lang fünf Mal täglich im ganzen Land ertönte.

Der islamische Gebetsruf.

Wir sind in Granada. Unter uns thront die Alhambra, geschmiegt an die Hügelkette der Sierra Nevada, die mit ihren eigentümlichen Wellenformen eines Flamencokleides das Tal umspannt.

Granada, die berühmte Stadt, die der große Weltenbummler Ibn Battuta im 14. Jahrhundert als Stolz von al-Andalus bezeichnete. Hier traf der Mann aus Tanger auf Menschen, die an berühmten Orten entlang der Seidenstraßen gelebt hatten – Städte wie Samarkand, Tabriz oder Konya – und die sich schließlich hier niederließen. Sogar aus Indien kamen die Leute nach Granada.

Auch heute noch ist die Stadt ein Ort, an dem sich die Kulturen der Welt vermischen, und Menschen aus allen Ländern der Erde zusammenkommen, um miteinander in Kontakt zu treten, um sich auszutauschen.

Treffpunkt für eine multikulturelle Gemeinde

Flaniert man durch das Albayzín, dem Stadtteil, der ursprünglich für die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge angelegt wurde, die vor den anrückenden christlichen Truppen im Norden des Landes flohen, dann trifft man in seinen vom allgegenwärtigen Duft des Kardamons geschwängerten Straßen und Gässchen auf gemütliche marokkanische Restaurants, internationale Hotels sowie multilinguale Hinweisschilder.

Kalligrafie mit muslimischem Glaubensbekenntnis; Foto: Troy Nahumko
"Es gibt nur einen Gott": Muslimisches Glaubensbekenntnis als Steinkalligrafie in der Alhambra.

​​Die Musik der Straßenmusiker unterlegt diese Szenerie mit einem musikalischen Gemisch aus Jimi Hendrix und Flamenco, das nun fünf Mal am Tag durch den Gebetsruf unterbrochen wird.

"Ich lebe hier seit mehr als 25 Jahren", sagt der Chef des Restaurants Manchachia, das sich durch eine köstliche einheimische Küche auszeichnet, nicht ohne Stolz. Zwischen dem Servieren von Cerveca und Tapas sowie der Zubereitung für To-go-Bestellungen aus der Nachbarschaft, wechselt er fließend zwischen dem Arabischen und Spanischen hin und her. "Ich lebe hier länger als in Marokko, also ist das hier mein Zuhause", sagt er.

Der junge Mann hoch oben auf dem Minarett ist als Asiate selbst Teil dieses multikulturellen Gemischs. Fünfmal am Tag ruft er die hier lebenden Muslime, die aus Marokko, Algerien und allen möglichen anderen Ländern dieser Welt zugezogen sind, zum Gebet.

Im Unterschied zu den technisch verstärkten Gebetsrufen von den schmalen Minaretten in Kairo, den kratzigen, vom Tonband abgespielten Gebetsrufen in Iran oder dem Geräuschwirrwarr aus der biblischen Stadt Sanaa, wo sich 60 Stimmen überschneiden, wird der Gebetsruf in Granada von nur einem Mann, seiner Stimme und dem Wind getragen.

Ein Geräusch so leicht und luftig, dass es nur wenige Schritte vom Minarett entfernt durch das Rumoren am Aussichtspunkt über der Alhambra verschluckt wird.

Absurde Vorwürfe

Warum aber diese leise, nicht verstärkte Stimme in einer der wohl lautesten Städte Europas? Die Erklärung ist einfach: Die Moschee hat mit der katholischen Kirchengemeinde einen einflussreichen Nachbarn, der alles, was den Glockenschlag der Kirche in den Hintergrund drängen könnte, mit Argusaugen beobachtet.

Ansicht der Alhambra; Foto: Troy Nahumko
Wiederbelebtes Andalusien: Zu Füßen der Alhambra erstreckt sich die arabische Altstadt "Albayzin", wo heute Muslime aus Spanien, Südamerika und Nordafrika mit Menschen aus allen Teilen der Welt friedlich miteinander leben.

​​Angespornt durch antiislamische Predigten, werden Vorwürfe gegen die Moschee erhoben, die surreal anmuten oder einfach ungeniert ins Absurde spielen.

So wird vor den möglichen Parkproblemen in den doch überwiegend für Fußgänger reservierten Straßen ebenso gewarnt wie vor Menschenaufläufen auf öffentlichen Plätzen. Ein Vorwurf, der in einem Land, dessen Bewohner ihr Leben größtenteils auf der Straße verbringen, absurd anmutet.

Die eigentliche Botschaft hinter diesen oberflächlichen Vorwürfen ist aber offensichtlich: Ihr dürft euch hier integrieren, aber nur, wenn ihr euch unauffällig verhaltet.

Ein kleines Wunder

Die Tatsache, dass die Moschee überhaupt gebaut wurde, ist an sich schon ein kleines Wunder. In Spanien werden Genehmigungen für den Bau von Moscheen oft von offiziellen städtischen Vertretern regelmäßig abgelehnt, angespornt durch eine kleine, aber stimmgewaltige Protestgemeinde.

Die Muslime werden dadurch gezwungen, sich zum gemeinsamen Gebet in Privathäuser oder sogar Garagen zurückzuziehen. Der Rückzug der muslimischen Gemeinde in die Abgeschiedenheit und Verborgenheit schafft eine Umgebung, in der sich Missmut und Wut ausbreiten können. Damit erreicht man genau das Gegenteil der so dringend geforderten Integration.

Diese Art der Ablehnung und Intoleranz beschränkt sich nicht nur auf den Umgang mit Migranten. Auch für in Spanien geborene Muslime gehören sie längst zum Alltag. Vor einigen Jahren bat der Verband der Muslime Spaniens um Erlaubnis für ein Gebet in der altehrwürdigen Moschee von Cordoba, die mittlerweile in den Besitz des Vatikans übergegangen ist.

Falsche Richtung, falscher Gott

Die Muslime hofften, angeregt durch das gemeinsame Gebet Papst Benedikts XVI. mit dem türkischen Großmufti in der Blauen Moschee in Istanbul, dass man die heiligen Hallen auch in Cordoba ganz ähnlich würde nutzen können. Sie wollten den ehemals heidnischen Tempel mit den Katholiken gemeinsam nutzen. Die spanischen Katholiken beten seit dem 16. Jahrhundert an diesem Ort – damals hatte man im Innern der Moschee eine Kirche errichtet.

Gebetsnische in der Alhambra; Foto: Troy Nahumko
"Mihrab" - muslimische Gebetsnische in der Alhambra: Muslime, die "in die falsche Richtung, zum falschen Gott, in der falschen Ecke" beten, werden gestoppt, schreibt Nahumko.

​​Das Ansinnen wurde jedoch kurzerhand zurückgewiesen. Seither sind neben der Mihrab, also der Gebetsnische, stets Sicherheitsleute postiert. Sie sind allzeit bereit, jeden Besucher zu stoppen, der in die falsche Richtung, zum falschen Gott und in der falschen Ecke betet.

Dabei hatte es immer wieder Gelegenheiten gegeben, in denen man das Gebetsverbot für Muslime umging. So erlaubte Spaniens theokratischer Diktator Francisco Franco 1974 einem damals noch wenig bekannten Saddam Hussein das Gebet vor der Mihrab.

Der sich jetzt breit machende übereifrige Protektionismus erscheint kontraproduktiv – immerhin gewinnen in Spanien säkulare Stimmen, die eine klarere Trennung zwischen Kirche und Staat fordern, mehr und mehr an Beachtung. So fragen sich immer mehr Junge Menschen, die keine eigene Erinnerung mehr an die 40 Jahre währende Franco-Diktatur haben, warum katholische Symbole in solch einer Penetranz in der öffentlichen Sphäre vorhanden sind, zumal Spanien eine konfessionell neutrale Verfassung hat.

Alternativen zur Konfrontation

Ein Teil der Lösung zur Überwindung dieses Argwohns mag im Schatten des sich über die Alhambra in Granada erhebenden Minaretts liegen.

Lateinamerikanische Emigranten, die zum Islam konvertiert sind, leben in engstem Raum mit jungen Amerikanern, die sich hier niedergelassen haben, um die spanische Sprache zu lernen. Die Klänge des Flamencos liegen in der Luft, während sich Einheimische ihr Brot von Osteuropäern besorgen, die in Bäckerrein arbeiten, die von zugereisten Algeriern geführt werden.

Die Leute, die hier gemeinsam leben, interessieren sich nicht dafür, ob der Papst nun den Muslimen in Cordoba das Recht zugesteht, einen heiligen Ort mit den gleichen Rechten wie die Christen zu benutzen, oder ob ein Richter in Madrid meint, der Ruf des Muezzin über dem Albayzin-Viertel verstoße gegen das öffentliche Interesse.

In Spanien gibt es ein Sprichwort: "Die Mühlen der Regierung drehen sich langsam." Bis die Herrschenden realisiert haben, dass im Albayzin eine einzigartige Chance besteht, aus der Vergangenheit zu lernen und die Fehler anderer Länder zu vermeiden, ist es vielleicht schon zu spät.

Doch bis dahin mag jeder, der auf der Suche nach der rücksichtsvoll gedämpften Stimme des Muezzins die verwinkelten Gassen, die vom Ufer des Darro zur Stadt hinaufführen, entlanggeht, sich daran erinnern, dass es zur direkten Konfrontation immer auch eine Alternativen gibt.

Troy Nahumko

© Qantara.de 2010

Aus dem Englischen übersetzt von Christian Horbach

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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