"Muslimische Gemeinschaft" als europäische Erfindung

Die Tendenz Europas, Einwanderer aus islamischen Staaten als Mitglieder einer einzigen "muslimischen Gemeinschaft" zu sehen, spiegelt eine Sicht des "Fremden" wider, die nicht ohne negative Folgen bleiben kann, meinen Hazem Saghieh und Saleh Bechir.

Die Tendenz der Europäer, Einwanderer aus Algerien und der Türkei, aus Pakistan und dem Irak als Mitglieder einer einzigen, homogenen "muslimischen Gemeinschaft" anzusehen, spiegelt eine neo-kolonialistische Sicht des "Fremden" wider, die nicht ohne negative politische Auswirkungen bleiben kann, meinen Hazem Saghieh und Saleh Bechir.

Türkische Muslime in Berlin-Kreuzberg, Foto: AP
Einwanderer aus islamischen Staaten bilden keine homogene Gruppe. Daher können sie weder allein über ihre Religion definiert werden, noch kann mit ihnen auf dieser Grundlage umgegangen werden, argumentieren Hazem Saghieh und Saleh Bechir.

​​In allen europäischen Staaten existieren Ängste vor den muslimischen Bevölkerungsanteilen, und doch gibt es etwas, was bisher noch immer nicht verstanden wurde: dass die Europäer selbst es waren, die es zu einem Problem machten.

Ursprünglich kamen die Immigranten aus so verschiedenen Ländern wie Pakistan, der Türkei, Marokko, Algerien oder dem Irak. Einmal aber im Westen, machte man aus ihnen schlicht die "muslimische Gemeinschaft".

Keine homogene Gruppe

Solche Gemeinschaften bilden bis zu einem gewissen Grad eine "virtuelle Realität", die einzig in den Köpfen westlicher Politiker existiert und in denen so genannter "Experten", Journalisten und – nicht zuletzt – in denen ihrer angeblichen und selbsternannten "Sprecher".

Dabei muss jeder, der die Sache ohne ideologische Scheuklappen betrachtet, erkennen, dass Einwanderer aus mehrheitlich islamischen Staaten keine homogene Gruppe bilden. Deshalb können sie weder allein über ihre Religion definiert werden, noch kann mit ihnen auf einer solchen Grundlage umgegangen werden.

Sicher steht der Islam im Zentrum ihrer Identität, und doch ist er ja nicht ihre einzige Komponente. Der Islam ist nur eine von mehreren Faktoren, aus denen sich ihre Persönlichkeit und ihr Selbstverständnis zusammensetzen.

Gleichzeitig ist es eine Basis, auf der sie sich alle treffen können, unabhängig von den zahlreichen kulturellen Unterschieden und nationalen Eigenheiten, die sie ansonsten charakterisieren mögen.

Anders ausgedrückt bringt der Islam Menschen zusammen. So schafft und rechtfertigt er gleichermaßen kulturelle Distinktionen. Paradox erscheint dies nur jenen, die anthropologische Phänomene aus ideologischen Gründen vereinfachen. Zudem ist dieser vermeintliche Widerspruch keineswegs nur dem Islam eigen.

Vielfalt muslimischer Identitäten

Für viele Katholiken ist ihr Glaube ein wesentlicher und grundlegender Teil ihrer sozialen Existenz, und doch bedeutet dies nicht, dass sie nicht mannigfaltige Identitäten ausbilden konnten. Niemand würde auf die Idee kommen, nach Westeuropa kommende Einwanderer aus zwei so katholisch geprägten Ländern wie Polen und den Philippinen als Angehörige einer einzigen "katholischen Gemeinschaft" zu apostrophieren.

Mögen sich solche Zuweisungen auch über jede Realität hinwegsetzen, so werden die Muslime genau auf diese Art über einen Kamm geschoren. Und dies alles im Namen politologischer Modelle wie der "community identity" oder der "Multikulturalität", wie sie etwa von dem Wissenschaftler Tariq Modood vertreten werden.

So besteht auch die so genannte "muslimische Gemeinschaft" aus zahlreichen Gruppen, die miteinander wenig gemein haben.

Ein pakistanischer Muslim und ein nicht-muslimischer Einwanderer vom indischen Subkontinent haben unendlich viel mehr Gemeinsamkeiten (in Bezug auf ihre Bräuche, ihre Freizeitgestaltung, ihre Ernährungsgewohnheiten oder andere Aspekte des täglichen Lebens), als etwa Muslime aus zwei Ländern wie etwa der Türkei und Marokko.

Gleiches lässt sich von vielen anderen Muslimen im Verhältnis zu ihren "Glaubensbrüdern" sagen.

Und noch etwas gilt es zu berücksichtigen: Wenn Länder entlang ethnischer Grenzen oder denen religiöser Abspaltungen getrennt sind, bleiben die daraus entstandenen Unterschiede in ihrem neuen Land bestehen. Ein in London lebender irakischer Kurde wird mit Irakern arabischen Ursprungs kaum etwas zu tun haben.

Schiiten und Sunniten aus dem Irak reden im Ausland genauso wenig miteinander, wie es bei libanesischen oder jemenitischen Schiiten und Sunniten der Fall ist.

Es ist schon ziemlich anmaßend, wie die Europäer alle muslimischen Immigranten in einen Topf werfen, und dies ohne Zurückhaltung oder Selbstkritik. Sicher haben die europäischen Länder viel von ihrer alten kolonialen Mentalität überwunden, doch finden sich in ihrer Haltung zu Einwanderern noch immer Spuren derselben.

So ist etwa in Großbritannien so etwas wie ein Rückfall in alte Kolonialzeiten festzustellen, der es möglich macht, Pakistanis, Marokkaner, Ägypter und Iraker einfach als „Muslime“ zu bezeichnen.

Eine essentialistische Vision

Zum Teil als Ergebnis dieser Haltung entstehen überall Institutionen, die sich selbst mit dem Label "muslimisch" versehen, scheinbar in der Hoffnung, dass all diese unterschiedlichen Völker sich unter ihrem Dach versammelten.

Doch stärken auch praktische Erwägungen diesen Mythos: Von Bradford bis Berlin und von Rotterdam bis Rom kommen die Gläubigen in multinationalen Moscheen zusammen und hören Predigten, die in europäischen Sprachen gehalten werden.

Das multikulturelle Großbritannien ähnelt dem Osmanenreich in seiner Endphase: zahllose Völker, die streng nach ihrem Bekenntnis kategorisiert werden, denen es aber erlaubt ist, so zu leben, wie sie es für richtig halten.

Der osmanische Staat hatte mit der Gesellschaft des Landes nicht viel zu tun, mischte sich nicht ins Gemeindeleben, so lange die Bürger ihre Steuern zahlten und Soldaten für die Armee stellten.

Diese postmoderne "Anything goes"-Mentalität bedroht die staatsbürgerliche Idee in ähnlicher Weise wie die standhaftesten Verteidiger des Osmanischen Reiches es gegen Ende des 19. Jahrhunderts taten. Und doch ist die Wirkung heute eine ganz andere, zerstörerische als sie es damals sein konnte, da heute auch noch die letzten Verbindungen zwischen Heimat und Zugehörigkeit gekappt werden.

Schließlich besteht der hauptsächliche Effekt der Globalisierung nicht allein darin, dass das Reisen leichter geworden ist, sich die Reichweite lokaler Fernsehstationen vergrößerte und Lebensmittel rund um den Globus transportiert werden. Vielmehr geht es darum, dass das Zufluchtsland eines Emigranten zu einem weiteren Ort wird, zu dem er keinen Zugang findet und mit dem er keine Verbindung aufbauen kann.

Der neo-liberale Kapitalismus verstärkt diese Effekte und hat sich deshalb eine Mitschuld an der Situation zuzuschreiben. Indem sich der Staat immer mehr Funktionen entledigt, wie etwa im Bildungssystem, gibt er den Minderheits-"Identitäten" Auftrieb und erlaubt ihnen, das Vakuum im sozialen Raum mit eigenen Foren, Institutionen und Partikularinteressen zu schließen.

Und so gelangen wir zu dem Paradoxon, dass es gerade die säkularen Staaten sind, die die Ausbildung sektiererischer Gruppen in ihrer Mitte wenn nicht verursachten, so ihnen doch den Boden bereiteten. Grundbedingung hierfür war einzig eine "essentialistische Blindheit" der Europäer gegenüber dem "Fremden".

Auch wenn sie diese Haltung in einer früheren Phase vermeiden, vermag es ihr Verständnis zu einem späteren Zeitpunkt zu beeinflussen. Dies geschieht, wenn sie sich – im ideologischen Kampf gegen ihre Feinde in der muslimischen Welt – unbewusst einige der Ideologeme des feindlichen Weltbildes aneignen und eben diese dann auf die eigenen muslimischen Bürger anwenden.

Phantompolitik

Das Fehlen einer inneren religiösen Reform des Islam hat zweifelsfrei zu großen Problemen geführt und die Neigung der Muslime, sich selbst zu stereotypisieren verstärkte sicher die Tendenz auch bei den Europäern, sich ein Klischeebild von ihnen zu machen.

Und doch waren die Bomben, die im Juli 2005 in London von Briten pakistanischer Herkunft und Einwanderern vom Horn von Afrika gezündet wurden, sinnlose Protestakte an den Rand der Gesellschaft gedrückter junger Leute.

Sie müssen im Zusammenhang und in ihrer Einzigartigkeit verstanden werden und sind nicht misszuverstehen als Ausdruck einer nur vage definierten sozialen Gruppe, von der man nicht einmal genau weiß, ob sie existiert.

Ihre Vorgänger, deren Taten zum Teil mehr als drei Jahrzehnte zurückliegen, waren noch klar zu definieren – als Sympathisanten bestimmter politischer Zielrichtungen: so im Fall der maoistischen Gruppe "Weather Underground" in den USA, der Neo-Faschisten, die den Bahnhof von Bologna mit Bomben zerstörten oder des Anti-Kapitalismus der Baader-Meinhof-Gruppe. Als Repräsentanten einer wie auch immer gearteten "Gemeinschaften" aber wurden sie nicht gesehen.

Die Anschläge vom Juli haben – genauso wie der Mord an Theo van Gogh – nichts zu tun mit einer weit reichenden "muslimischen Gemeinschaft". Eine solche existiert nämlich nicht in der Realität, sondern nur als Phantasma derer, die bis heute nicht geschaffen haben, was Europa heute am dringendsten benötigt: eine allgemeine Staatsbürgerschaft, die allen offen steht.

Hazem Saghieh und Saleh Bechir

© Opendemocracy 2005

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Saleh Bechir ist tunesischer Schriftsteller aus Rom, Hazem Saghieh arbeitet für die arabische Tageszeitung Al-Hayat in London.

Qantara.de

Islam in Europa
Euro-Islam als Kulturphänomen
Der Islam in Europa ist genauso vielgestaltig wie die Ursprungsländer der Gläubigen. Doch wenn Europa versagt, die Einwanderer zu integrieren, verbindet die Religion als Identitätsstifter die Ausgestoßenen. Von Ulrich Schwerin

Udo Steinbach
Euro-Islam: Ein Wort, zwei Konzepte, viele Probleme
Das Wort "Euro-Islam" macht wieder die Runde. Es taucht immer dann auf, wenn es in den Beziehungen zwischen der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Religionsgemeinschaft in Europa nicht zum Besten steht.

IHF-Menschenrechtsbericht
Muslime in Europa – eine "Landkarte" der Diskriminierung
Die namhafte Internationale Helsinki-Föderation (IHF) hat einen Bericht über Muslime als Opfer von Intoleranz in der EU veröffentlicht. Darin heißt es, die Diskriminierung gegen Muslime habe seit den Anschlägen vom 11.09. weiter zugenommen. Näheres von Ala Al-Hamarneh

Islam in den Medien
Konstruierte Wahrheiten und Zerrbilder
Der Islam steht seit dem Mord an dem niederländischen Regisseur erneut im Blickpunkt der Medien. Dabei lassen viele Berichte über Muslime und deren Religion weniger auf gründliche Recherche und Aufklärung schließen, als vielmehr auf Halbwahrheiten und einen verengten Blick. Eine Analyse von Sabine Schiffer