Euro-Islam als Kulturphänomen

Der Islam in Europa ist genauso vielgestaltig wie die Ursprungsländer der Gläubigen. Doch wenn Europa versagt, die Einwanderer zu integrieren, verbindet die Religion als Identitätsstifter die Ausgestoßenen. Von Ulrich Schwerin

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Fathi-Moschee im nordrhein-westfälischen Wülfrath bei Düsseldorf

​​Wenn sich während des Ramadan die Menschen um die mit Gebäck beladenen Stände drängen, wenn am Freitag alte und junge Männer in die Moschee strömen, wenn an Feiertagen die Reihen der Betenden ganze Straßenzüge füllen, auf Teppichen und Matten kniend nach Mekka gewandt, dann glaubt man sich in Marrakesch, Tunis oder Kairo.

Doch der Moschee fehlt der schattige Innenhof, die kunstvollen Kachelmuster und das hochaufragende Minarett. Sie versteckt sich hinter einer weiß gestrichenen Mauer, ähnelt einer Lagerhalle und befindet sich in einem heruntergekommenen Viertel im Norden von Paris, das mehrheitlich von afrikanischen Migranten bewohnt ist. Ein Viertel, wie es heute in vielen europäischen Großstädten zu finden ist.

Gegen den Generalverdacht

Die muslimische Bevölkerung Europas teilt viele Eigenheiten mit anderen Migrantengruppen. Sie hat sich vielfach in eine halb erzwungene und halb gewollte Isolation zurückgezogen und scheint weniger mit als neben den europäischen Gesellschaften zu leben.

Wenn seit langem die Sorge bestand, dass diese in sich geschlossenen Gemeinden zu Inseln der Armut, Kriminalität und Gewalt werden könnten, so haben die Attentate des 11. Septembers 2001 die Aufmerksamkeit verschärft. Plötzlich wurde sich Europa bewusst, dass der Islamismus wie überall in der islamischen Welt auch in Europa an Bedeutung gewinnt.

Plötzlich schien man befürchten zu müssen, dass sich das Nebeneinander der Kulturen zum Gegeneinander entwickeln könnte. Doch die Muslime wehren sich gegen den Generalverdacht gegen den Islam und betonen, dass die Gleichung Islam, Islamismus, Terrorismus eine ungerechte Vereinfachung ist.

Allein den Islam auf einen Nenner zu bringen, ist bereits schwer. Handelt es sich um eine Religion, um eine Kultur oder um ein Gesellschaftsmodell? Die islamische Welt erstreckt sich von Marokko bis Indonesien und hat wenig gemeinsam als ihre Vielfalt.

Der Islam hat sich mit den Religionen und Kulturen vermischt, die er vorgefunden hat. Der mystische Volksislam, der in vielen ländlichen Regionen vorherrscht und in dem Meditation, Heiligenverehrung und Gräberkult ein wichtige Rolle spielen, hat wenig gemein mit dem aufgeklärten Islam der urbanen Mittelschicht.

Zwischen der laizistischen Kultur der Türkei, dem radikalen Staatsislam Saudi Arabiens und dem theokratischen System des Iran liegen Welten. Die muslimische Bevölkerung Europas ist ebenso verschieden wie die Länder aus denen sie stammen.

So bunt wie die Welt

Heute gibt es rund 15 Millionen Muslime in Europa, wovon rund 5 in Frankreich, 3,2 in Deutschland und 2 Millionen in Großbritannien leben. Auch Spanien, die Niederlande oder Österreich haben bedeutende muslimische Minderheiten.

In Großbritannien stammen die meisten Muslime aus dem früheren indischen Imperium (Pakistan, Indien und Bangladesch), da sie als Mitglieder des Commonwealth bei Einreise und Einbürgerung bevorzugt wurden.

Auch in Frankreich kommt die muslimische Bevölkerung überwiegend aus den ehemaligen Kolonien Nord- und Westafrikas, die aufgrund der französischen Sprache eine enge Bindung zur früheren Metropole unterhalten haben.

In Deutschland hingegen sind es vor allem Gastarbeiter aus der Türkei, die seit den fünfziger Jahren angeworben wurden. Hinzukommt eine Vielzahl politischer Flüchtlinge: Iraner, Kurden, Palästinenser, Bosnier, Afghanen...

Identitätsstifter Religion

Diese Migranten verschiedenster Herkunft, die oft weder die Kultur noch die Sprache teilen, finden sich in Europa als Teil einer selben Gemeinschaft wieder, finden sich vereint durch die gemeinsame Erfahrung der Fremdheit und entdecken eine gewisse Solidarität.

Beim gemeinsamen Gebet in der Moschee, das oft Nigerianer, Türken, Araber und Pakistaner zusammenführt, scheint die "umma", die islamische Gemeinschaft, ein Stück weit Wirklichkeit zu werden. Doch wenn der Islam als Brücke zwischen mit Migranten verschiedener Herkunft wirkt, so ist vielen Muslimen die Integration in ihr europäisches Umfeld nicht gelungen.

Angesichts einer Gesellschaft, die sie weder zu brauchen noch anzuerkennen scheint, ist der Islam für sie zu einem Rückzugsort geworden, der Identität, Sinn und Orientierung verspricht. Europa hat jedoch die Verantwortung, allen Bürgern einen Platz und eine Perspektive zu bieten und sie als vollwertigen Teil der Gesellschaft zu akzeptieren.

Auch die muslimische Gemeinde muss dazu ihren Teil beitragen: Sie muss sich eindeutig zur hiesigen Gesellschaftsordnung bekennen, wenn sie ihren Platz in Europa finden möchte.

Ulrich Schwerin

Café Babel 2004

​​© Café Babel 2004