Gleiches Recht auf Irrtum

Das Abendland reagiert verstört auf die Sichtbarkeit gläubiger Muslime. Doch wer vom säkularen Staat die Gleichbehandlung weltanschaulicher Unterschiede erwartet, sollte den Streit um Werte nicht scheuen, schreibt der Islamwissenschaftler Ludwig Ammann in seinem Essay.

Von Ludwig Ammann

​​ Türken sind gegenwärtig schlechter integriert als andere Zuwanderer. Das gilt nicht für alle Milieus, aber im Schnitt. Das ist nicht schön, nicht für sie und nicht für das Land ihrer Träume, also sind alle Anstrengungen zur Verbesserung willkommen. Eine weitere Islamdebatte trägt dazu allerdings wenig bei; jeder Lesepate, jedes "Mama lernt Deutsch"-Programm leistet mehr. Iraner machen häufiger Abitur als Deutsche, während Italiener und Portugiesen im Südwesten so oft wie Türken die Hauptschule besuchen: Wie will eine Debatte, die im anderen Glauben die entscheidende Hürde sieht, das erklären? Aus dem Iran kamen Akademiker, aus Südeuropa Bauern, die sich beim Bildungsaufstieg schwerer tun. Wie zu erwarten war.

Da hilft kein Jammern und kein Glaubenswechsel, da hilft nur lernen, allerseits. Damit könnte man den Islam fast zu den Akten legen, wäre da nicht das Crescendo zum Schlagwort verdichteter Sorgen, der Muslim als solcher – Kopftuch, Scharia, Dschihad! – müsse dem christlichen Abendland ewig fremd bleiben.

Tag der Offenen Moschee in der Zelt-Moschee in Köln-Ehrenfeld; Foto: dpa
"Wenn man wissen will, was der Muslim als solcher von religiöser Vielfalt und demokratischen Rechten, Schariastrafen und Deutschlernen hält, kann man ihn fragen", schreibt Ammann.

​​ Dazu einige Zahlen: 14 Prozent der Türken, 20 Prozent der Marokkaner und 38 Prozent der Iraner bezeichnen sich nach einer Studie der Deutschen Islamkonferenz von 2009 als religionslos. Von den verbliebenen Muslimen beten 36 Prozent selten oder nie und nur 34 Prozent täglich, wie es ein orthodoxes Verständnis der religiösen Hauptpflichten – das Herzstück der Scharia! – nahelegt. "Hochprozentiger" alltagsbestimmender Islam ist die Sache einer Minderheit.

Wenn man nun wissen will, was der Muslim als solcher von religiöser Vielfalt und demokratischen Rechten, Schariastrafen und Deutschlernen hält, kann man ihn fragen; das ist allemal besser, als anhand von Koranversen Mutmaßungen darüber anzustellen, was er davon halten sollte. Dann würde man erfahren, dass andere Religionen zu achten sind (Zustimmung 98,1 Prozent), Hiebe als Scharia-inspirierte Strafe abgelehnt (90) und Meinungsfreiheit (96) und kostenlose Deutschkurse (92 Prozent) befürwortet werden. Eine prinzipielle Ablehnung der ortsüblichen demokratischen Gepflogenheiten sieht anders aus.

Entchristianisiertes Abendland

Woher rührt dann das hartnäckige Misstrauen? Ich denke, es ist die selektive Sicht auf drei Merkmale ihres Glaubens, die Muslime fremd erscheinen lässt. Erstens sind Muslime – nicht alle, aber im Schnitt – religiöser als die Alteingesessenen. Das gilt ebenso für schwarzafrikanische Christen, aber das fiel mangels Kopftuch kaum auf. Dass überdies manche aus den Folgegenerationen sich als wiedergeborene Muslime prosperierenden Erweckungsbewegungen anschließen, kränkt viele Beobachter in ihrer glaubensschwachen Seele. Verteidigt wird hier aber weniger ein christliches als ein schon entchristianisiertes Abendland.

Anti-Islam-Kongress in Köln, Foto: dpa
"Man könnte den Islam fast zu den Akten legen, wäre da nicht das Crescendo zum Schlagwort verdichteter Sorgen, der Muslim als solcher – Kopftuch, Scharia, Dschihad! – müsse dem christlichen Abendland ewig fremd bleiben", schreibt Ludiwg Ammann.

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Zweitens stößt die Schariagläubigkeit eines Teils der Muslime auf Unverständnis, auch wenn sie den Geltungsvorrang säkularen Rechts anerkennen und das heilsrelevante Einmaleins des Erlaubten und Verbotenen als bloßes Sittengesetz praktizieren. Dass Menschen etwas tun oder lassen, weil Gott es so will, ist für das Christentum light befremdlich. Das wäre anders, wenn die "judäo-christliche Prägung" unserer Gesellschaft mehr wäre als ein leeres Wort; wenn Juden mit Schläfenlocken und Jüdinnen mit Perücke das Stadtbild mitprägten und so die Gesetzesfrömmigkeit des Islam als Fleisch vom Fleische des orthodoxen Judentums erkennbar wäre. Überhaupt, läsen Christen und Ex-Christen mehr von der Bibel als die Weihnachtsgeschichte, mehr vom Koran als Schwertvers & Co., sie könnten entdecken, dass der Koran eine zutiefst judäo-christlich geprägte Schrift ist.

Von Amerika lernen Drittens ist ein Teil der Muslime deutlich konservativer als weite Teile der Alteingesessenen. Das beginnt beim verbreiteten Buchstabenglauben und äußert sich konfliktträchtig in Einstellungen zu Sex und Geschlechtsrollen, die hier seit Jahrzehnten auf dem Rückzug sind.

Bibel, Koran und Tora; Foto: dpa
"Der Koran ist eine zutiefst judäo-christlich geprägte Schrift", sagt Ammann.

​​ Die Wiederkehr des überwunden Geglaubten stellt die Vorherrschaft des progressiven Wertekanons infrage und provoziert heftige Abwehr. Das ist begreiflich.

Dennoch irrt, wer glaubt, dass Zuwanderer über das Grundgesetz hinaus den vorherrschenden Wertekanon teilen müssen, um dazuzugehören. 33 Prozent der US-Amerikaner halten die Bibel für das buchstäbliche Wort Gottes und 55 Prozent erklären, dass sie "eine" oder "die einzige" Quelle der Gesetzgebung sein sollte. 61 Prozent der muslimischen und 63 Prozent der evangelikalen Amerikaner missbilligen Homosexualität.

Das ist misslich, aber kein Amerikaner, und wäre er noch so liberal, würde es wagen, seinen Mitbürgern das Recht auf eine andere, konservativere Gesinnung abzusprechen, auch wenn er gegen sie ankämpft. Mehr Religion durch Zuwanderung heißt mehr Streit um Werte. Wer vom säkularen Staat nicht die Unterdrückung, sondern Gleichbehandlung weltanschaulicher Unterschiede erwartet, wird den Streit nicht scheuen. Jeder hat bei uns das gleiche Recht zu irren – ob Muslim, Christ oder Atheist.

 

Ludwig Ammann

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