Das neue Gesicht des Dschihadismus?

Seit zwei Jahren ist der Islamische Staat im Irak und der Levante (ISIS) auch in Syrien aktiv. Aktuell kämpft er dort mit rund 5000 Mann – Tendenz steigend. Aron Lund, der für das Swedish Institute for International Affairs Studien über die Kämpferlandschaft in Syrien verfasst hat, erklärt die Strategien der Terrorgruppierung. Mona Sarkis hat mit ihm gesprochen.

Von Mona Sarkis

Herr Lund, wie finanziert sich der ISIS?

Aron Lund: Teilweise über Kleriker und Geschäftsleute aus dem Golf. Hauptsächlich aber versorgt sich der ISIS selbst: Durch Schutzgelder, durch Zollgebühren, die er auf das Passieren seiner Grenzbarrieren erhebt, den Verkauf zuvor erbeuteter Waffen, die Kontrolle über bestimmte Ölfelder in Nordsyrien.

Dank dessen sollen seine Kämpfer angeblich großzügige 400 Dollar im Monat erhalten. Gilt dies auch für ausländische Dschihadisten?

Lund: Ich denke, es ist umgekehrt: Der ISIS profitiert finanziell von ihnen. Viele Ausländer reisen ja an, um in Syrien zu sterben oder Selbstmordattentate zu verüben. Daher bringen sie eigene oder zusätzlich beschaffte Gelder mit und kaufen ihre eigenen Waffen.

ISIS-Kämpfer bei einer Parade im syrischen Raqqa; Foto: Reuters
"Im Grunde aber wetteifern der ISIS und al-Qaida hauptsächlich um den Zugang zum Krieg in Syrien, der mit Ressourcen, ausländischen Kämpfern, Waffen und einem immensen Prestige in der globalen Dschihad-Bewegung verbunden ist", sagt Aron Lund.

Demnach sind die Ausländer nicht nur ein kostengünstiges Kanonenfutter, sondern steuern obendrein zum Unterhalt des ISIS bei. Nimmt er sie deshalb so gerne in seine Reihen auf?

Lund: Natürlich. Allerdings sind ausländische Dschihadisten im Mittleren Osten nichts Neues. Sie waren in den Netzwerken der al-Qaida in Afghanistan und im Irak zu finden. ISIS führt das fort, und zwar mit viel Stolz. Laut ihm sind die Fremden Vorzeigemuslime, die auf dem Weg des Propheten wandeln, indem sie ausziehen und zur Errichtung des Islamischen Staats beitragen.

Wie untermauert der ISIS seine religiösen Ambitionen? Betreibt er Koranexegese? Verfasst er Traktate - oder zumindest Manifeste?

Lund: Es existieren eher religiöse Predigten seiner Führer und Gelehrten denn herkömmliche politische Manifeste. Die meisten dschihadistischen Gruppen verfahren so, weil der Koran ihres Erachtens die Blaupause für die menschliche Gesellschaft ist. Demnach geht es nicht darum, ihm etwas hinzuzufügen, sondern nur darum, ihn richtig zu implementieren.

Der Bruch zwischen ISIS und al-Qaida im vergangenen Jahr sorgte für den bislang größten Eklat in der Geschichte des Terrornetzwerkes. Wie kam es dazu?

Lund: Vor dem April 2013 trug al-Baghdadis Gruppierung den Namen "Islamischer Staat im Irak" und galt gemeinhin als Teil des al-Qaida-Netzwerks. Al-Baghdadi wollte seinen Dschihadismus aber nicht auf den Irak  begrenzen. Bereits 2011 hatte er versteckt expandiert, indem er in Syrien die Gruppierung Jabhat al-Nusra (JAN) mit ins Leben riefe. Dann, im April 2013, benannte er seine eigene Gruppe demonstrativ in "Islamischer Staat im Irak und in der Levante" um und forderte die JAN auf, sich ihm anzuschließen. Viele JAN-Führer lehnten ab und erklärten ihre Loyalität Ayman al-Zawahiri, dem höchsten Emir der al-Qaida, der al-Baghdadis Entscheidung ablehnte. Vieles spielte hier hinein, einschließlich persönlicher und ideologischer Differenzen. Im Grunde aber wetteifern beide wohl hauptsächlich um den Zugang zum Krieg in Syrien, der mit Ressourcen, ausländischen Kämpfern, Waffen und einem immensen Prestige in der globalen Dschihadismus-Bewegung verbunden ist.

Letztlich mündete der Streit in einen vollständigen Bruch zwischen ISIS und al-Qaida. Anfang 2014, als ISIS und JAN begannen, sich gegenseitig in Syrien zu bekämpfen, wurden alle Schlichtungsversuche obsolet.

Worin unterscheiden sich die Ansichten von al-Baghdadi und al-Zawahiri?

Lund: Al-Zawahiri hatte bereits 2005 den später getöteten Extremistenführer Abu Musab al-Zarqawi für seine übermäßige Gewalt gegen die Schiiten im Irak kritisiert. Generell plädiert al-Zawahiri für taktische Mäßigung sowie für die Zusammenarbeit mit anderen islamistischen Gruppierungen, während ISIS nicht bereit ist, die Macht zu teilen.

Seit der Trennung 2013 haben beide begonnen, sich in Opposition zueinander zu definieren und so entstanden ideologische Unterschiede, die nicht von Anfang an vorhanden waren. Zuweilen führte das Ganze ins Absurde. So beschuldigt al-Baghdadi die al-Qaida beispielsweise, das Sykes-Picot-Abkommen zu respektieren und rechtfertigt dies damit, dass ihn die al-Qaida in den Irak verweisen wollte – also, in Ländergrenzen, die die Kolonialmächte gezogen haben. Aber natürlich respektiert die al-Qaida diese Grenzen nicht – sie wollte al-Baghdadi lediglich im Zaum halten.

Grundsätzlich könnte auch eine Art Generationenkonflikt in der salafistischen Dschihadismus-Bewegung im Spiel sein. Immerhin ist al-Zawahiri 64, al-Baghdadi 43 Jahre alt, und die meisten der älteren Geistlichen haben sich hinter al-Zawahiri gestellt. Man sollte die derzeitigen Divergenzen zwar nicht zu stark gewichten, aber in gewisser Weise scheint ISIS jenen ultra-gewalttätigen Dschihadismus zu verkörpern, der aus dem Irak-Krieg und der Dschihad-Propaganda des Internets erwuchs, wohingegen al-Qaida noch ihre Wurzeln in Afghanistan hat und in jenen kleinen, disziplinierten, im Geheimen operierenden Terrornetzwerken der 1980er und 1990er Jahre.

Landkarte nach den Vorstellungen der ISIS; Foto: DW
Karte des Mittleren Ostens nach Vorstellung des ISIS. "Generell plädiert al-Zawahiri für taktische Mäßigung sowie für die Zusammenarbeit mit anderen islamistischen Gruppierungen, während ISIS nicht bereit ist, die Macht zu teilen", kommentiert Aron Lund.

Momentan schwimmt der ISIS vor allem im Irak auf einer Erfolgswelle, die ihm noch mehr Zulauf seitens ausländischer Dschihadisten verschaffen dürfte. Aber wie steht es um seine Verankerung in der irakischen und syrischen Bevölkerung?

Lund: Al-Baghdadis Gruppierung ist im Irak weit länger als in Syrien aktiv. Und dort, wo sie es ist, tendiert die Gesellschaft zu Konservatismus und zu Stammesstrukturen, die der ISIS durch Allianzen mit Clanführern gut auszunutzen wusste. Die syrische Gesellschaft ist vergleichsweise viel weniger tribal, doch auch hier gilt: Wo sie es ist, ist auch der ISIS zu finden. Also am Euphrat, östlich von Aleppo, in Raqqa und in der Provinz Deir Ezzor, die er wahrscheinlich als Nächstes vollständig erobern will.

Er sucht aber nicht nur die Unterstützung traditioneller Clans, sondern die der gesamten sunnitischen Bevölkerung - zumindest die ihrer konservativen religiösen Teile. Bis zu einem gewissen Grad gelingt ihm das auch. Es ist dasselbe Phänomen wie mit den Taliban: Ein extremistischer Islam wird in eine Gesellschaft gebracht, in der er an sich wenig Wurzeln hat. Aber er erhält eine gewisse Akzeptanz durch seine Scharia-Gerichte, die inmitten eines Krieges für Recht und Ordnung sorgen. Die Bewohner müssen zwar fürchten, wegen des Rauchens einer Zigarette bestraft zu werden. Aber sie müssen nicht fürchten, ausgeraubt zu werden, weil der ISIS die Scharia respektiert, die das Privateigentum schützt.

Inmitten der Kriegswirren wirkt jede Beseitigung von Anarchie sicherlich stabilisierend. Ursprünglich aber brach der Krieg ja aus, um die Diktatur zu bekämpfen. Viele fragen sich nun, weshalb der ISIS nicht gegen die Regierungstruppen vorgeht.

Lund: Das tut er bereits, wenngleich er bislang hauptsächlich mit anderen Rebellen- und kurdischen Milizen befasst ist. Sie alle gelten ihm gleichermaßen als Feinde des „Staates“. Sein Kalkül lautet daher so: Sobald der „Staat” gefestigt ist, wird er gegen das syrische Regime vorgehen - so wie jetzt gegen das irakische Regime.

Interview: Mona Sarkis

© Qantara.de 2014

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Der schwedische Autor Aron Lund verfasste drei Bücher über die Politik Syriens und veröffentlichte Studien zum internationalen Dschihadismus sowie zu syrischen Rebellengruppen für das Swedish Institute for International Affairs und für die Stiftung Carnegie Endowment for International Peace.