Terror auf dem Vormarsch

Nach Falludscha haben Terroristen nun auch die Stadt Mossul größtenteils in ihrer Gewalt. Rund 500.000 Iraker sind inzwischen vor den Angriffen der Terrorgruppe "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) aus der Millionenmetropole im Nordirak geflohen. Der Vizepremier spricht von einem Sicherheitsdesaster. Einzelheiten von Birgit Svensson

Von Birgit Svensson

Eine neue Terrorwelle rollt durch den Irak. Mehr als 150 Menschen sind seit dem vergangenen Wochenende bereits getötet worden, mehr als 1.000 wurden verletzt. In der westlichen Provinz Anbar wurde in Ramadi die Universität gestürmt, Studenten wurden als Geiseln genommen. Es dauerte Stunden, bis die Armee sie in einer blutigen Aktion befreien konnte. In der östlichen Provinz Dijala und in der Hauptstadt Bagdad explodieren fortwährend Bomben.

Seit vergangenem Dienstag (10.06.2014) ist Iraks zweitgrößte Stadt Mossul Zielscheibe des Terrors. Der Sitz des Gouverneurs wurde gestürmt und 2.400 Gefangene aus den Haftanstalten befreit. Während der Gouverneur sich noch in letzter Minute in Sicherheit bringen konnte, soll die Stadt nun größtenteils in der Hand der Terroristen sein. Die Regierung habe die Kontrolle über Mossul praktisch verloren, heißt es.

ISIL weitet Operationsbasis aus

Der Terror geht offensichtlich von der Organisation "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) aus, die aus al-Qaida hervorgegangen ist und seit einem halben Jahr in beiden Ländern ihr Unwesen treibt. Mossul ist nach Falludscha die zweite Stadt im Irak, die ISIS-Mitglieder in ihre Gewalt gebracht haben. "Wir haben ein Sicherheitsdesaster", kommentiert der stellvertretende Premierminister Saleh al-Mutlaq die Situation. Er spricht von einem "Kollaps der Sicherheitskräfte". Mutlaq stammt aus Falludscha, wo mehrheitlich Sunniten leben. Seit Anfang Januar hat sich ISIS dort festgesetzt, ist zeitweise sogar bis zum Bagdader Vorort Abu Ghraib an die Hauptstadt vorgerückt.

Flüchtlinge aus Mossul und Kämpfer der kurdischen Peschmerga am Checkpoint in Aski Kalak; Foto: Safin Hamed/AFP/Getty Images
"Das blanke Chaos": Einwohner Mossuls auf der Flucht am kurdischen Grenzübergang Aski Kalak, 40 Kilometer westlich von Erbil. Während des Angriffs der ISIS waren nach Angaben internationaler Helfer rund 500.000 Menschen aus der 3-Millionen-Einwohner-Stadt aus Mossul geflohen.

Zu den Parlamentswahlen am 30. April hatte Premier Nouri al-Maliki dann eine umfassende Militäroperation zur Befreiung der Provinz Anbar versprochen, in der Falludscha liegt. Doch geschehen ist nichts. Stattdessen weitet ISIS ihre Operationsbasis weiter aus. Nun gehört auch die Provinz Ninive im Norden dazu, mit der Hauptstadt Mossul, 350 Kilometer nördlich von Bagdad.

Zwar galt Mossul als letzte Hochburg von Al-Qaida. Aber die von den Amerikanern ins Leben gerufene "Sahwa", die Allianz der Stammesführer, befriedete zumindest die Provinz bis zum Abzug der US-Truppen Ende 2011. Doch jetzt herrsche dort das blanke Chaos, heißt es in Bagdad. ISIS habe praktisch den gesamten Norden im Visier. Die Aufforderung Malikis im Staatsfernsehen, das neu gewählte Parlament solle zusammentreten und den Ausnahmezustand über die Provinzen verhängen, klingt schon fast wie eine Bankrotterklärung.

"Man stelle sich mal vor", sagt Vizepremier Mutlaq müde, "die Armee hat 1,5 Millionen Soldaten. Und die können nicht für Ruhe und Ordnung sorgen?" Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist Ministerpräsident Nouri al-Maliki, der es in seiner vorigen Amtszeit nicht geschafft hat, die Posten des Verteidigungs- und des Innenministers zu besetzen.

Der Armee laufen die Soldaten weg

Nachdem US-Administrator Paul Bremer nach dem Einmarsch der Vereinigten Staaten vor elf Jahren die irakische Armee über Nacht aufgelöst hatte, machten sich die Amerikaner daran, die Sicherheitskräfte neu aufzubauen. Alle Volksgruppen Iraks sollten vertreten sein - was auch gelang. Das führte dazu, dass die irakische Armee noch vor drei Jahren im Land einen ausgezeichneten Ruf als eine unparteiische und national orientierte Kraft genoss.

Der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki; Foto: dpa/picture-alliance
Premier in Erklärungsnot: Angesichts des Vorrückens der Aufständischen kündigte Ministerpräsident Nuri al-Maliki an, Freiwillige für den Kampf gegen die Extremisten zu bewaffnen und die Ausrufung des Notstands zu beantragen.

Das hat sich inzwischen geändert. Reihenweise laufen die Soldaten davon. Ganze Bataillone haben den Dienst an der Waffe bereits quittiert. Vor allem Kurden haben sich aus der irakischen Armee fast vollständig zurückgezogen, nachdem Premier Maliki sich mit der Regionalregierung in der kurdischen Hochburg Erbil anlegt hatte und der Streit um die Stadt Kirkuk und ums Öl eskalierte. Auch in Mossul sollen Dutzende, zumeist Sunniten, demonstrativ ihre Uniformen ausgezogen und ihre Posten aufgegeben haben, als ISIS einrückte. Auf der Seite eines schiitischen Premiers zu kämpfen, der die Belange der sunnitischen Minderheit mit Füßen tritt, wollten viele offenbar nicht hinnehmen.

Der Vizepremier als Vermittler

Auch Maliki und sein sunnitischer Stellvertreter Saleh al-Mutlaq sind zerstritten. Mutlaq hatte Maliki vor zweieinhalb Jahren als "gescheiterten Diktator" bezeichnet und wurde daraufhin von seinem Posten als Vizeregierungschef suspendiert. Maliki ließ Mutlaq und dessen Stab alle Lizenzen und Genehmigungen entziehen. Auch deren Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt.

Doch Maliki brauchte Mutlaq als Vermittler in dessen alten Heimat Falludscha. Die Demonstrationen der Sunniten, die im Dezember 2012 dort begannen, rissen nicht ab. Sie forderten mehr Mitsprache, eine größere Teilhabe am politischen Prozess, mehr Stellen in Armee und Polizei. Seine Gespräche in Anbar hätten damals einen Bürgerkrieg verhindert, behauptet der stellvertretende Premier. Als Mutlaq Mitte April 2014 nach Abu Ghraib fuhr, um mit Vertretern von ISIL zu verhandeln, entging er nur knapp einem Attentat. Doch nicht die Terroristen hätten auf ihn geschossen, sondern Mitglieder der irakischen Armee, sagt Mutlaq. Jetzt ist er sich nicht mehr sicher, ob ein Bürgerkrieg noch verhindert werden könne.

Birgit Svensson

© Deutsche Welle 2014

Redaktion: Arnd Riekmann/DW & Arian Fariborz/Qantara.de