Wie antisemitisch ist der Islam?

Der Philologe und Islam-Wissenschaftler Stefan Wild über eine religiöse Botschaft, die nicht mit antijüdischen Ressentiments gleichgesetzt werden sollte

Renovierungsarbeiten nach dem Anschlag auf die Ghriba-Synagoge in Djerba vom April 2002, Foto: AP

​​Gibt es aus Ihrer Sicht einen islamischen Antisemitismus?

Stefan Wild: Ich rede lieber von arabischem Antisemitismus, weil der Antisemitismus nichts ist, was die islamische Kultur von Anfang an begleitet hätte. Antisemitische Klischees wie sie zum Beispiel in den Protokollen der Weisen von Zion zum Ausdruck kommen, sind erst Ende des 19. Jahrhunderts aus Europa übernommen worden und zwar in der Auseinandersetzung mit der zionistischen Bewegung. Ich halte es für außerordentlich wichtig, das nicht zu verkennen. Die Bewegung gegen den Zionismus hatte primär nichts Antisemitisches an sich. Es waren Leute, die versuchten, weiter auf dem Platz zu wohnen, auf dem sie gewohnt hatten, und die sich gegen eine Siedlungsbewegung wehrten, die zumindest in ihren Augen kolonial begründet war.
Im Übrigen wird der Begriff Antisemitismus in der heutigen Situation oft derart ausgeweitet, dass es schwer ist, noch irgendeine kritische Position gegenüber der Politik des Staates Israel zu formulieren, geschweige denn eine Kritik an der zionistischen Idee überhaupt, ohne dass man Gefahr läuft, als Antisemit betrachtet zu werden - das halte ich für falsch.

Aber hat es im Islam nicht immer schon ein antijüdisches Ressentiment gegeben?

Wild: Es gibt Stellen im Koran und auch Episoden aus dem Leben des Propheten, in denen Juden schlecht wegkommen. Das stimmt. Aber das würde ich auf einer Linie mit dem sehen, was es auch in den christlichen Kirchen gab: ein Vorurteil gegenüber Juden. Dieses Vorurteil wurde aber im Allgemeinen dadurch aufgehoben, dass die Juden unter islamischen Regimes immer einen geschützten Status hatten, ähnlich wie die Christen. In der christlichen Welt waren Minderheiten dagegen weniger geschützt. Das heißt natürlich nicht, dass es eine Gleichstellung im Sinne eines säkularen bürgerlichen Staates gab.

Als Saddam Hussein Tausende umbringen ließ, war die Empörung in der arabischen Welt eher gering. Wenn Israel etwas tut, bei dem wesentlich weniger Menschen getötet werden, wird darüber mit großer Empörung in den arabischen Medien berichtet. Woher kommt dieses Ungleichgewicht?

Wild: Sie haben Recht, die unterschiedlichen Reaktionen sind wirklich auffallend. Ein Teil der Antwort ist vielleicht: Kein intellektueller Araber würde sagen, dass es in arabischen Ländern Demokratie gibt. Aber das "Modell Israel", das ihnen der "Westen" immer vorhält, ist für viele gleichermaßen anfechtbar, da es eben nur für die Juden eine wirkliche Demokratie ist. Für die Palästinenser dagegen ist es ein Staat, der diskriminiert und zwar nicht nur hier und da, sondern prinzipiell.

In arabischen Medien und Schulbüchern finden sich immer wieder Karikaturen und Stereotype, die aus dem Naziblatt "Der Stürmer" stammen könnten. Warum gibt es eine Konjunktur dieser Bilder in der arabischen Welt?

Wild: Vermutlich ein Versuch, modern zu sein. Eine Art vertrackter und letztlich sinnloser Versuch, eine europäische Moderne aufzunehmen, die in Europa selbst längst marginalisiert ist, und mit allen Waffen zu kämpfen, die man hat. Aber es ist ein zweischneidiges Schwert - die Araber täten besser daran, sich dieser Waffe nicht zu bedienen.
Andererseits bringen wir als Deutsche jede Karikatur eines Juden mit dem "Stürmer" in Verbindung - mit der Vernichtung von sechs Millionen Juden. Wir können gar nicht anders, als das so zu lesen, wahrscheinlich gilt das für die meisten Juden genauso. Aber wir ziehen die Araber damit sozusagen in etwas hinein, womit sie nichts zu tun haben. Man könnte das eigentliche Problem so definieren: Was Europäer, besonders Deutsche, den Juden angetan haben, wurde nicht auf europäischem Boden gelöst, sondern auf dem Rücken der Palästinenser.

Es gibt einige Palästinenser, die einen gemeinsamen demokratischen Staat zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan fordern, weil sie wissen, dass sie dort früher oder später in der Mehrheit wären. Ist das noch legitim oder müssen die Palästinenser die Existenz eines jüdischen Staates einfach akzeptieren?

Wild: Ein bi-nationaler Staat ist zurzeit undenkbar. Es ist auch schwer vorstellbar, dass die Forderung erfüllt wird, die auf eine Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat hinausläuft. Sie haben zwar ein Recht dazu, aber realpolitisch ist das undenkbar. Denkbar wäre jedoch, dass eine israelische Regierung sagt: "Wir standen vor einem Genozid unseres Volkes und sind dann in dieses Land gekommen und haben die Palästinenser vertrieben, und zwar zu einem erheblichen Teil. Das war falsch und nun lasst uns darüber reden, wie wir das gut machen können." - Das würde noch nicht heißen, dass alle Palästinenser zurück können, aber es würde etwas wegräumen, was für die Palästinenser ein zentrales Problem darstellt. Ich glaube, dann wäre auch ein großer Teil dieses starken antijüdischen Ressentiments weg.

Verharmlosen Sie damit nicht den arabischen Antisemitismus? Gibt es in der arabischen Welt etwa keinen Ausrottungswillen gegenüber den Juden?

Wild: Im arabischen Nationalismus habe ich so etwas nie gesehen. Es gab genug Fanatiker, aber solange man über Territorien irgendwie in nationalstaatlichen Theorien reden konnte, hab ich keinen Vernichtungswillen empfunden, auch wenn es Äußerungen gab, die man so interpretieren konnte. Ich muss allerdings sagen, dass ich mir beim islamistischen Diskurs nicht so sicher bin, ob es da nicht tatsächlich eine Art nihilistischen Vernichtungswillen gibt. Auf alle Fälle gibt es Äußerungen, die das nahe legen. Auf der anderen Seite ist Israel in seinem Bestand nicht gefährdet. Israel ist eine Nuklearmacht und hat das größte Heer in der Region...

... aber die Araber müssten doch trotzdem klar machen, dass es in der Auseinandersetzung ethische Grenzen gibt!

Wild: Diese lebenden Bomben, die in den Bus gehen, um möglichst viele Leute umzubringen, sind etwas Furchterregendes. Dafür kann ich auch Palästinensern gegenüber kein Verständnis aufbringen. Aber man darf auch nicht vergessen, dass viele Israelis argumentieren: wir bringen gezielt Leute um, und die palästinensischen Kinder, die dann sterben, das sind halt Kollateralschäden. Man kann nicht einfach nur sagen: "Wir sind gegen Terror!" - und unter Terror fällt nur der Palästinenser, der einen Bus in die Luft sprengt. Man muss auch kritisch hinsehen, was eine Armee tut, und kann nicht einfach sagen: "So ist das eben im Krieg: wo gehobelt wird, fallen Späne."

Das Gespräch führte Matthias Bertsch

© Wochenzeitung Freitag, 7. Mai 2004

Stefan Wild war 25 Jahre Professor am Orientalischen Seminar der Universität Bonn und für sechs Jahre am Deutschen Orient-Institut in Beirut tätig. Er beschäftigt sich mit moderner palästinensischer Literatur und Geistesgeschichte. Im September 2001 gehörte er zu einer Gruppe von 75 Islamwissenschaftlern, die sich gegen die Berichterstattung über den 11. September 2001 wandten. In deren Statement hieß es seinerzeit unter anderem: "Die von einigen Medien suggerierte Gleichung Muslim = Fundamentalist = Terrorist ist absurd und dem Zusammenleben verschiedener Nationen und Religionen abträglich. Auch der oft hohe Emotionalisierungsgrad bei der Berichterstattung ist wenig sachdienlich."