Achte auf die Details des Lebens

Der berühmte türkische Schriftsteller Orhan Pamuk wird in seiner Heimat massiv bedroht – weil er die Wahrheit sagt. Ein Gespräch über die Freiheit in der Türkei, das Trauma ihrer Bürger und die schwindende Begeisterung für die EU

Orhan Pamuk, Foto: br-online.de
Orhan Pamuk: "Ich sehe die Zukunft der Türkei in Europa, als ein prosperierendes, tolerantes, demokratisches Land unter anderen."

​​Herr Pamuk, Ihr neues Buch Schnee ist ein politischer Roman. Er ist bevölkert von revolutionären Islamisten, türkischen und kurdischen Nationalisten, enttäuschten Linken auf Gottsuche und Mädchen, die sich wegen des Kopftuchverbots umbringen. Obwohl Sie selber für keine Seite Partei ergreifen, sind Sie nun unter heftigen politischen Druck geraten. Das Leben scheint auf eine merkwürdige Weise Ihr Buch nachahmen zu wollen.

Orhan Pamuk: Schauen Sie: Ich schreibe einen politischen Roman nicht, um für irgendeine Sache Propaganda zu machen. Ich will den Seelenzustand der Leute in einer Stadt beschreiben. Die Stadt heißt Kars und liegt am äußersten nordöstlichen Rand der Türkei, aber sie ist ein Mikrokosmos, der schon in gewisser Weise für die Türkei im Ganzen steht.

Schnee wurde in der Türkei zunächst gut aufgenommen. Warum jetzt die schrillen Töne?

Pamuk: Mein Verleger hatte zunächst Bedenken, es in der Form zu veröffentlichen, die Sie kennen. Sie müssen wissen, dass wir 2002 noch viel stärkere Einschränkungen der Meinungsfreiheit hatten als nach den liberalen Reformen, die Erdogan mit Blick auf die EU durchgeführt hat. Also zeigten wir das Manuskript einem Anwalt, auf dessen Vorschläge ich dann aber nicht eingegangen bin. Die erste Auflage betrug 100.000 Exemplare, ein hohes ökonomisches Risiko für den Verlag. Ich war ziemlich stolz, als das Buch nicht verboten oder zensiert wurde. Es gab wohl eine Kontroverse, aber nicht diese feindseligen Stimmen, die sich jetzt erheben.

Woran entzündete sich die Kontroverse?

Pamuk: Manche meiner säkular gesinnten Leser waren erbost, dass ich mich so stark in die Situation von Mädchen hineinversetze, die aus freiem Willen das Kopftuch tragen. Solches Unbehagen verstehe ich, besonders wenn es von Frauen kommt. Frauen sind vom politischen Islam am stärksten betroffen. Dass ich im Detail beschreibe, wie grausam ein Militärcoup sein kann, hat wiederum einigen Nationalisten nicht gefallen. Manchen missfiel auch, dass ich Verständnis für die Kurden aufbringe. Das sind aber nun einmal alles Elemente unserer komplizierten Geschichte.

Warum ist der Ort der Handlung das arme und kalte Kars und nicht Ihr heimisches Istanbul?

Pamuk: In Kars können Sie jene Traurigkeit mit Händen greifen, die daher rührt, zugleich ein Teil Europas zu sein und doch ein uneuropäisch karges, umkämpftes Leben zu führen. Mein Roman handelt von den inneren Konflikten heutiger Türken, von den Widersprüchen zwischen Moderne und Islam, von der Sehnsucht, in Europa aufgenommen zu werden – und zugleich der Angst davor.

Es geht also um Zerrissenheit?

Pamuk: Nun, die Türken haben einerseits das legitime Bedürfnis, ihre nationale Würde zu verteidigen – und dazu gehört die Anerkennung als Teil des Westens und Europas. Aber es gibt eben auch die Angst, im Zuge der Verwestlichung die eigene Identität zu verlieren. Die Gegner dieses Prozesses haben die Verwestlichung immer als schlechte Imitation zu verunglimpfen versucht. Bis zu einem gewissen Grad sind solche Ängste verständlich. Aber sie können eben auch alle möglichen politischen Leidenschaften anfachen – vom Nationalismus bis zum Islamismus.

Sie glauben, diese unterschiedlichen Bewegungen haben gemeinsame Gefühlsgrundlagen?

Pamuk: Dass diese politischen Bewegungen an den Rändern der türkischen Gesellschaft blühen, hat mit der Armut zu tun und damit, dass diese Menschen sich schlecht repräsentiert fühlen. Und was der Westen oft unterschätzt: Niedergang und Verlust des Osmanischen Reiches haben eine derart niederschmetternde Traurigkeit nach sich gezogen, dass eine gesunde Bewältigung dieser Erfahrung lange nicht möglich war. Man reagierte auf den traumatischen Verlust des Reiches durch Insichgekehrtsein. Angesichts der Herausforderung des westlichen Denkens neigte man dann dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen und wie ein Sufi zu wiederholen: Wir sind anders, wir bleiben anders, und wir sind stolz darauf.

Dieses türkische Verlust-Trauma spielt in der deutschen Wahrnehmung keine Rolle. Wir nehmen die Türken bei uns nicht als traurige Erben eines Weltreiches wahr …

Pamuk: … sondern – ich vereinfache jetzt selber – als Straßenkehrer und Putzfrauen. Dabei geht aber verloren, dass zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert der kulturelle und materielle Reichtum des Nahen Ostens nach Istanbul strömte. In der Türkei gibt es eine hoch gebildete, säkulare Elite.

Auch Ihre Familie gehört zu den reichsten und bekanntesten aus dieser Schicht.

Pamuk: Ich passe trotzdem eigentlich nicht ins Schema. Ich habe mich für die Kunst entschieden, statt für das positivistisch-rationalistische Ingenieursleben, das mir zugedacht war. Erst wollte ich Maler werden, dann habe ich mich auf ein Architekturstudium eingelassen. Schließlich habe ich im Schreiben meine Bestimmung gefunden.

Hat der Erfolg die Familie umgestimmt?

Pamuk: Meine Eltern hatten zu Recht Angst um mich. Mitte der siebziger Jahre hatte die Vorstellung, ein türkischer Junge könnte sich als Autor etablieren, etwas Wahnwitziges. Heute werde ich in 35 Sprachen übersetzt, und meine Bücher verkaufen sich sehr gut. Auf Türkisch verlegt zu werden – scherze ich manchmal – war das Schwerste. Ich schrieb sieben Jahre lang für die Schublade.

Man kann sich in diesen Tagen des Eindrucks nicht erwehren, dass die Europa-Begeisterung der Türkei einen Rückschlag erlebt. Warum ausgerechnet jetzt, wo der Beitritt näher rückt?

Pamuk: Es gibt ganz offensichtlich einen Aufschwung nationalistischer Gefühle. Jeder spricht darüber, auch in der Türkei. Dieses Phänomen ist noch schwer zu beurteilen. Macht da eine marginale Gruppe viel Lärm, oder kommt ein breites Unbehagen zum Vorschein? Und hat man ähnliche Entwicklungen nicht auch anderswo beobachten können? Wo sich Länder mit großer Anstrengung an die EU angenähert haben, erblüht auch der Nationalismus. Die Gegner ergreifen ihre letzte Chance und verbreiten Angst: Ihr werdet eure Identität verlieren. Soll man dieses Phänomen nun auf das kollektive Unterbewusste zurückführen oder auf die praktische Cleverness populistischer Politiker? Wie dem auch sei, die Wut über meine Kommentierung der Ereignisse in unserer Vergangenheit zeigt, dass es eine nationalistische Aufwallung gibt.

Sie haben einmal gesagt, das Großartige an der europäischen Idee sei ihre Fähigkeit, aus Fundamentalisten Liberale zu machen.

Pamuk: Die Politik unserer regierenden Partei, Erdogans AKP, bestätigt diesen Satz. Erdogan verdankt seine enorme Popularität nicht zuletzt seinem proeuropäischen Kurs. Der normale türkische Bürger hat sowohl die Sehnsucht, der EU beizutreten, als auch seine althergebrachte türkische Identität bekräftigt zu sehen.

Es geht aber doch wohl nicht an, Bilder von kritischen Autoren öffentlich zu zerreißen oder ihre Bücher zu verbrennen und zugleich als Europäer anerkannt werden zu wollen! Ihr Roman und die Reaktionen darauf wurden von konservativen Kommentatoren in Europa als Grund angeführt, die Türken lieber nicht hineinzulassen. Nach dem Motto: Wollt ihr etwa mit Leuten, wie sie in diesem Buch vorkommen, in einem Klub sein?

Pamuk: Es ist eine üble Verdrehung, meinen Realismus gegen meine politischen Überzeugungen auszulegen. Ich sehe die Zukunft der Türkei in Europa, als ein prosperierendes, tolerantes, demokratisches Land unter anderen. Mein Buch ist ein zeitgeschichtlicher Roman. In den mehr als zehn Jahren, die seit der Zeit vergangen sind, in der er spielt, hat sich das Land stark verändert. Wenn Sie die Reaktionen auf meine Bemerkungen über unsere Vergangenheit einmal beiseite lassen, muss man sagen: Wir leben heute in einer anderen Türkei.

Ihr Buch ist mit seinem selbstkritischen Blick auf die Geschichte ein typisch europäischer Roman.

Pamuk: Mein Buch ist ein vielstimmiger Roman, in dem ich die einzelnen Stimmen nicht kommentiere. Dostojewskij war der Meister dieser Form. Manche meiner Figuren vertreten Ideen, die den meinen zuwiderlaufen. Die Herausforderung besteht darin, auch die Stimmen überzeugend zu machen, die Auffassungen vertreten, die mir persönlich zuwider sind, seien es nun politische Islamisten oder Militärs, die einen Coup rechtfertigen.

Der Held des Buchs ist ein durch und durch säkularer Schriftsteller, der seine Schreibblockade in dem Moment überwindet, wo er aus dem deutschen Exil nach Hause zurückkehrt und sich einer unterdrückten religiösen Sehnsucht öffnet.

Pamuk: Der Held dieses Buchs hat in der Tat Sehnsucht nach einer Gotteserfahrung. Aber seine Gottesvorstellung ist sehr westlich. Es geht ihm um seine individuelle Erfahrung, nicht um ein Gemeinschaftserlebnis, wie es der Islam vorsieht.

Sie zeigen aber auch, dass der Islam für viele Exlinke in der Türkei eine neue Heimat ist.

Pamuk: In den achtziger Jahren habe ich gesehen, wie sich linientreue Marxisten nach dem Zusammenbruch ihres Glaubenssystems zum politischen Islam bekehrt haben. Sie konnten dabei ihre antiwestlichen, antistaatlichen Leidenschaften weiterpflegen. Und sie gehörten wieder zu einer Gemeinschaft. Mein Held will zwar auch irgendwo dazugehören, will aber nicht auf alles verzichten, was er im Westen schätzen gelernt hat.

Ein Islamist fragt in Ihrem Buch: "Gibt es einen anderen Gott in Europa?" Das ist die Frage nach der Vereinbarkeit des Islams mit Individualismus, Säkularismus, Gewaltenteilung.

Pamuk: Nun, die Türkei hat ja schließlich damit angefangen, einen solchen Islam zu entwickeln. Die Hardliner unter den Islamisten nennen ihn verächtlich Islam light und glauben, dagegen den "wahren Islam" zu vertreten.

Es gibt sehr sympathische Islamisten in Ihrem Buch.

Pamuk: Ich will tatsächlich die Islamisten nicht als schlichtweg Böse darstellen, wie es oft im Westen geschieht. Zugleich kritisiere ich den Blick der Islamisten auf die Säkularisten, in denen sie nur unwürdige Imitatoren des verachteten Westens sehen. Ich will die Klischees, die beide Parteien pflegen, erschüttern. Das ist für mich die Aufgabe eines politischen Romans.

Wie steht es denn um den politischen Dialog zwischen den beiden Seiten in der Türkei?

Pamuk: Wir hatten traditionell ein sehr starres System der politischen Repräsentation. Die Möglichkeit des EU-Beitritts hat alles durchgeschüttelt. In jedem Lager – bei den Linken, den Rechten, den Islamisten, den Kemalisten – hat sich das Schubladendenken erledigt. Bei uns regieren jetzt proeuropäische Islamisten. Die haben irgendwann verstanden, dass man mit proeuropäischer Politik Wahlen gewinnen kann, weil die Wähler sich davon eine Verbesserung ihres Lebens versprechen.

Haben die verwestlichten Intellektuellen die Kraft der Religion unterschätzt?

Pamuk: In der Türkei haben die Säkularisten die Religion nicht unterschätzt, sie haben nur den Fehler gemacht, zu glauben, sie könnten sie allein durch die Macht der Armee kontrollieren. Aber wissen Sie, ich sehe meine Aufgabe nicht darin, allgemeine Ideen zu diesen Themen vorzubringen.

Ihre Figuren haben sehr wohl eine Leidenschaft für große Ideen.

Pamuk: Sie haben Recht, das Personal meines Romans ächzt unter der Last der allgemeinen Ideen. Sich durch starke Ideen zu überfordern, das ist geradezu eine türkische Leidenschaft. Diese Nation hat seit 200 Jahren den Übergang von einer Zivilisation in die andere geprobt, und ich kann Ihnen sagen, das ist eine quälende Erfahrung. Schnee ist ein Buch, in dem es darum geht, wie schwer es ist, mit diesen großen, abstrakten Ideen zu leben, sie zu überleben und das Glück zu finden.

Wissen Sie, ich habe die großen Ideen gründlich satt. Ich bin ihnen in meinem überpolitisierten Land viel zu sehr ausgesetzt gewesen. Literatur ist meine Reaktion darauf, ein Versuch, das Spiel umzudrehen, einen gewissen Humor, eine gewisse Distanz in die Sache zu bringen. Ich will dem Leser sagen: Nimm diese Dinge nicht so verdammt wichtig. Ist das Leben nicht schön? Achte auf die Details des Lebens! Das Wesentliche im Leben ist Glück und ist die Möglichkeit, in dieser intoleranten Gesellschaft, die wir geschaffen haben, zu überleben. Jetzt habe ich angefangen zu predigen …

Eine Figur verteidigt den Militärcoup gegenüber dem Schriftsteller: Wir töten die Fanatiker nur, damit du weiter in Freiheit von Europa träumen kannst, damit es nicht zugeht wie in Iran.

Pamuk: Solche Argumente habe ich wirklich immer wieder zu hören bekommen. Ich nehme das politische Dilemma, das in dieser zynischen Argumentation zum Ausdruck kommt, sehr ernst. Meine Art, damit umzugehen, ist es, moralische Fragen auf der Bühne meines Romans in Szene zu setzen. In meinem nächsten Buch allerdings – es handelt von meiner Jugend in Istanbul – steht die Schönheit des Alltags im Vordergrund.

Das klingt beschaulich.

Pamuk: Ich möchte nicht zu einem Teil der verbissenen politischen Kultur werden, die ich selber so oft kritisiere. Ich möchte durch meine Literatur das Gespür dafür wecken, welch ein Privileg es ist, einfach da zu sein.

Das Gespräch führte Jörg Lau

(c) DIE ZEIT 14.04.2005 Nr.16

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