"Die Ära des Oslo-Friedensprozesses ist vorbei"

25 Jahre nach dem Abschluss des Oslo-Abkommens berichten zwei Think-Tank-Veteranen, der Israeli Yossi Alpher und der Palästinenser Ghassan Khatib, im Gespräch mit dem Nahost-Experten der Bertelsmann Stiftung, Christian Hanelt, über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse für die Zukunft des Nahostkonflikts.

Von Christoph Hanelt

Der Friedensprozess, der mit dem Oslo-Abkommen vor 25 Jahren eingeleitet wurde, hatte, soweit ich mich erinnere, die Schaffung von zwei Staaten zum Ziel, einen für die Israelis und einen für die Palästinenser, die in Sicherheit, Frieden, Demokratie und Wohlstand Seite an Seite leben. Dieses Ziel wurde auch in Erklärungen und Resolutionen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union dargelegt. Aus welchen drei Gründen wurde die angestrebte Zwei-Staaten-Lösung bisher noch nicht erreicht?

Yossi Alpher: Erstens war im ursprünglichen Text des Oslo-Abkommens nicht ausdrücklich von einer Zwei-Staaten-Lösung die Rede und der israelische Premierminister Yitzhak Rabin hat nie eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützt. Daher war dies nicht notwendigerweise das ursprüngliche israelische Ziel. Zweitens hatte die Prinzipienerklärung bei der Diskussion um den abschließenden Status (des israelisch-palästinensischen Konfliktes) unglücklicherweise eher lösbare Probleme im Anschluss an den Sechs-Tage-Krieg von 1967 wie "Grenzen" und "Sicherheit" mit narrativen Fragen wie "heilige Stätten" und dem "Recht der Flüchtlinge von 1948 auf Rückkehr", die sich als unlösbar erwiesen, in einen Topf geworfen. Drittens erwiesen sich der schrittweise Ansatz der Prinzipienerklärung und der Beschluss der beiden Seiten, nachdem "nichts vereinbart ist, bis alles vereinbart ist", als zu leicht verletzlich, sowohl durch gewalttätige Übergriffe – einige durch die israelische Rechte und viele unterstützt oder geduldet durch den Führer der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO Jassir Arafat selbst – als auch durch die Expansion der dynamischen israelischen Siedlungsbewegung. Heute leben nicht weniger als 10 Prozent der israelischen Juden jenseits der Grünen Linie von 1967.

Ghassan Khatib: Die dem Friedensprozess zugrundeliegende Annahme ist die Zwei-Staaten-Lösung. Von nahezu allen Ländern der Welt wird diese Lösung unterstützt, auch von allen EU-Regierungen und den USA. Die Lösung wurde insbesondere bedingt durch die rechtswidrige jüdische Siedlungsausweitung in den besetzten palästinensischen Gebieten nicht erreicht – es handelt sich um eine Ansiedlung von einer Dreiviertelmillion Israelis im besetzten Westjordanland und Ostjerusalem. Ein zweiter Grund waren die Veränderungen der innenpolitischen Landschaft in Israel, mit der Folge des Niedergangs des Friedenslagers und der Wahl von Parteien in das israelische Parlament, die Knesset, die nie eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützt haben und gegen das Oslo-Abkommen waren. Schließlich waren es auch die Schwäche der palästinensischen Seite und ihre unzureichende Verhandlungsleistung, die letztlich zu mangelhaften israelisch-palästinensischen Vereinbarungen führten.

Ghassan Khatib; Foto: Bertelsmann Stiftung
Ghassan Khatib ist Dozent für Kulturwissenschaften und Zeitgenössische Arabistik an der Birzeit University. Zuvor war er Direktor des Medienzentrums der Palästinensischen Autonomiebehörde (2009-2012), Arbeitsminister (2002) und Planungsminister (2005-2006). Khatib war Vizepräsident für Öffentlichkeitsarbeit an der Birzeit University (2006-2009) und gründete und leitete das Jerusalem Media and Communication Center, das auf Forschung, Meinungsforschung und Medienaktivitäten spezialisiert ist. Er war Mitglied der palästinensischen Delegation für die Friedenskonferenz im Nahen Osten in Madrid 1991 und die anschließenden bilateralen Verhandlungen in Washington 1991-93. Elf Jahre lang war Khatib auch Mitbegründer und Co-Direktor der bitterlemons-Publikationen.

In den ganzen Jahren haben Regierungen und Gesandte der USA, der EU, Russlands und der Vereinten Nationen versucht, in den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern zu vermitteln, diese zu unterstützen und zu finanzieren. Was sind die Gründe dafür, dass diese Unterstützung und Vermittlung von außen nicht zum Erfolg führte?

Khatib: Zunächst haben die USA und Israel nie zugelassen, dass andere Länder, insbesondere die europäischen Staaten, eine echte Rolle bei der Vermittlung im israelisch-palästinensischen Konflikt übernehmen; sie haben immer auf einer amerikanischen Monopolstellung bestanden. Zweitens standen die Vermittlungsbemühungen nie im Einklang mit dem Völkerrecht, auch nicht mit den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen wie den Resolutionen 242 und 338, die die palästinensischen Gebiete, die 1967 unter die Kontrolle Israels fielen, als unter kriegerischer militärischer Besetzung stehend betrachten; die Besatzung muss beendet werden. Schließlich ließ die palästinensische Seite zu, dass die USA die Vermittlungsbemühungen monopolisierten, und stützte sich nicht ausreichend auf die internationalen Rechtsvorschriften. Die palästinensische Führung hätte auf einer Vermittlung durch die Vereinten Nationen oder eine kollektive internationale Vermittlung bestehen sollen, die sensibilisiert für das Völkerrecht ist.

Alpher: Von Dritten kann nicht erwartet werden, dass sie die Dynamik des Konflikts besser verstehen als die zwei Parteien selbst. Zum Zeitpunkt des Friedensgipfels von Camp David im Juli 2000 zwischen dem US-Präsidenten Bill Clinton, dem Führer der PLO Jassir Arafat und dem israelischen Premierminister Ehud Barak war klar, dass selbst Israel gerade erst begonnen hatte zu verstehen, was die Palästinenser meinten, wenn sie vom "Recht auf Rückkehr" und davon, dass "es nie einen Tempel auf dem Tempelberg gegeben hat", sprachen: die Palästinenser akzeptierten und akzeptieren nicht die historischen Wurzeln Israels in der Region. Die USA und die Europäer haben das bis heute nicht verstanden. Heute unterstützen sowohl Israel als auch die USA einen "wirtschaftlichen Frieden" – eine verfehlte Herangehensweise an einen Konflikt, der historisch, ideologisch und zunehmend religiös, jedoch nicht wirtschaftlich ist. Während die Trump-Regierung von der strategischen Dynamik im Nahen Osten besonders wenig begriffen hat, haben auch Barack Obama und George W. Bush die Region nicht verstanden. Vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmungslücken hätte nur eine aufgezwungene Lösung funktionieren können, zumindest vorübergehend. Dritte waren jedoch nie bereit zu einer Konfrontation mit Israel und der arabischen Welt und zum knallharten Aufzwingen einer Lösung.

Yossi Alpher; Foto: Bertelsmann Stiftung
Yossi Alpher ist Berater und Autor zu strategischen Fragen im Zusammenhang mit Israel. Bis vor kurzem war er Mitherausgeber der Familie der Internetpublikationen bitterlemons.net. Alpher diente in den israelischen Streitkräften als Nachrichtenoffizier, gefolgt von einem Dienst im Mossad. Von 1981 bis 1995 war er mit dem Jaffee Center for Strategic Studies an der Universität Tel Aviv verbunden, zuletzt als Center Director. Von 1995 bis 2000 leitete er das Israel-Middle East Office des American Jewish Committee. Im Jahr 2000 (während der Gespräche von Camp David) war er Sonderberater des Premierministers Israels und konzentrierte sich auf den israelisch-palästinensischen Friedensprozess.

Während der letzten 25 Jahre haben Sie beide Ihr Fachwissen in die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts investiert – unter anderem über Ihr gemeinsames Projekt "bitterlemons", um nur ein Beispiel zu nennen. Aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus: Welches Thema war am frustrierendsten und welches am vielversprechendsten?

Khatib: Das frustrierendste Thema ist die mangelnde Rechenschaftspflicht, die unterschiedlichen Maßstäbe, nach denen gemessen wird, und die Behandlung von Israel durch die internationale Gemeinschaft als ein Land, das über dem Völkerrecht steht; beispielsweise verletzt Israel durch seine rechtswidrige Siedlungspolitik die Rechte der Palästinenser, ohne dass ernsthafte Reaktionen der Vereinten Nationen folgen.

Das vielversprechendste Thema ist, dass die internationale öffentliche Meinung, insbesondere in Europa, in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt allmählich ausgewogener wird – ein Beispiel dafür ist, dass sich viele Parlamente weltweit, auch in Europa, in Abstimmungen für die Anerkennung von "Palästina" als Staat aussprechen.

Alpher: Das frustrierendste Thema ist, dass die Palästinenser es ablehnen oder unfähig dazu sind, sich den negativen Folgen zu stellen, die ein Friedensschluss mit sich bringen würde - so ihrer grundlegenden Überzeugung, dass der Staat Israel 1948 "in Sünde geboren" wurde. Das vielversprechendste Thema ist die Fähigkeit so vieler Personen auf beiden Seiten, miteinander zu reden.

Wir haben aus "bitterlemons" gelernt, dass dies virtuell nahezu alle israelischen ultranationalistischen Rechten umfasst.

Wenn Sie aus palästinensischer Perspektive denken würden – was würden Sie den Palästinensern raten, um ihr Verhältnis zu Israel zu verbessern?

Alpher: Das Unmögliche in Betracht zu ziehen: Die Hamas muss Gewaltanwendung ablehnen und die PLO muss Israel als legitimen Staat des jüdischen Volkes mit echten kulturellen und historischen Wurzeln im Heiligen Land akzeptieren. Eine nachhaltige palästinensische Kampagne mit dem Ziel, diese Standpunkte zu akzeptieren und zu präsentieren, hätte tiefgreifende Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Israel. Denken Sie daran, was der damalige ägyptische Präsident Anwar al-Sadat im israelischen Parlament, der Knesset, im November 1977 öffentlich sagte: "Es ist falsch von uns, Sie abzulehnen." Damit gewann er die israelische Öffentlichkeit über Nacht für sich, und zwei Jahre später wurde der israelisch-ägyptische Friedensvertrag unterzeichnet.

Wenn Sie aus israelischer Perspektive denken würden – was würden Sie den Israelis raten, um ihr Verhältnis zu den Palästinensern zu verbessern?

Screenshot des Logos "bitterlemons"
Die internetbasierten bitterlemons-Publikationen waren in den Jahren 2001-2012 ein wesentlicher Motor des politischen Dialogs zwischen Israelis und Palästinensern sowie Arabern des Nahen Ostens. In der Spitze bestand es aus einem Portal, bitterlemons.net, und fünf Websites: bitterlemons.org, bitterlemons-international.org, bitterlemons-api.org, bitterlemons-dialogue.org und bitterlemons-books.org. Das Abonnement der wöchentlichen Internet-Publikationen war kostenlos. Bücher konnten kostenlos heruntergeladen werden. Die teilnehmenden Autoren kamen aus allen arabischen Ländern, den Palästinensischen Gebieten, Israel, dem Iran und der Türkei. bitterlemons wurde von Ghassan Khatib, einem Palästinenser, und Yossi Alpher, einem Israeli, gegründet, mitbearbeitet und teilweise geschrieben. Obwohl das Projekt 2012 abgeschlossen wurde, bleiben die Websites zugänglich und bilden ein wertvolles Archiv des politischen und strategischen Denkens im Nahen Osten.

Khatib: Ich würde den Israelis sagen, dass sie mit einer Fortsetzung ihrer rechtswidrigen Siedlungserweiterungspolitik die Tür zu einer Zwei-Staaten-Lösung zuschlagen, vor allem, weil die israelischen Behörden Infrastruktur und israelische Bevölkerung in einem Land etablieren, das Teil des palästinensischen Staates sein soll; so beseitigen sie die Chance auf Frieden und Stabilität in unserer Region in der Zukunft. Darüber hinaus gefährdet die israelische Siedlungspolitik die Demokratie: denn die Demokratie steht im Widerspruch zu einer Realität der Diskriminierung von Palästinensern, die Israel dadurch schafft, dass zwei Gemeinschaften (nämlich Israelis und Palästinenser) gezwungen werden, im selben Land zu leben - jedoch unter zweierlei Recht und unter zweierlei Systemen. 

Bitte sagen Sie uns, was in diesem und im nächsten Jahr geschehen muss, um Fortschritte hin zu einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu erzielen. Gibt es eine gangbare Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung?

Alpher: Wir benötigen neue israelische, palästinensische und US-amerikanische Führungspersönlichkeiten, die ein tieferes Verständnis für den Konflikt, mehr Bereitschaft zu Kompromissen und die Unterstützung der Öffentlichkeit haben. Aber dazu wird es nicht kommen. Die einzige denkbare Ausnahme könnte eine Übereinkunft zwischen Israel und der Hamas sein, die den Gaza-Streifen so stabilisiert, dass sich gewisse Fortschritte einstellen.

Khatib: Der erste Schritt besteht darin, eine internationale Friedenskonferenz zu organisieren, um neue Bedingungen festzulegen, die im Einklang mit dem Völkerrecht stehen - eine Konferenz, bei der ein Rahmen und Bedingungen vereinbart werden können, die im Einklang mit den Grundrechten der Palästinenser stehen, einschließlich ihrem Recht auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Der zweite Schritt besteht darin, einen internationalen Mechanismus zu schaffen, der die Vermittlerrolle in neuen israelisch-palästinensischen Verhandlungen übernimmt und die Parteien dazu zwingt, Präventivmaßnahmen wie eine Siedlungserweiterung zu vermeiden.

In diesem Jahr feierten die Israelis den 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel, dem der "Nakba"-Gedenktag der Palästinenser gegenübersteht. In dieses Jahr fällt nun auch der 25. Jahrestag des Beginns des Oslo-Friedensprozesses. Was ist das realistischste Szenario, wohin entwickelt sich der israelisch-palästinensische Konflikt in diesem Herbst und im nächsten Jahr?

Khatib: Realistisch gesehen ist das einzige zu erwartende Szenario im nächsten Jahr das Fortbestehen der aktuellen Situation ohne größere Entwicklungen. Grund dafür ist, dass dieser Status quo für Israel sehr bequem ist und Israel in der Lage ist, diesen aufrechtzuerhalten. Erstens, weil Israel militärisch gesehen zu stark ist, und zweitens, weil die USA und Europa es zulassen, dass Israel sein Handeln fortsetzt.

Alpher: Die Ära des Oslo-Friedensprozesses ist vorbei. Traurigerweise rutschen Israelis und Palästinenser immer weiter ab auf dem gefährlichen Weg hin zu einer hässlichen, konfliktreichen bi-nationalen Ein-Staaten-Realität. Der israelische Ultranationalismus, der Islamismus der Hamas und die im Westjordanland ansässige PLO haben alle dazu beigetragen, dass der Aufbau eines palästinensischen Staates gescheitert ist. Unter sonst unveränderten Bedingungen wird dieser Ablauf der Geschehnisse im kommenden Jahrzehnt zu einer Realität führen, die sich weitaus verschlimmern wird. Nur eine große regionale Katastrophe kann "die Karten neu mischen" und dies ändern. Irgendwann wird es soweit kommen. 

Was bedeutet dieses Szenario für die Rolle der EU und die Rolle Deutschlands? Was würden Sie empfehlen?

Alpher: Europa muss sich an die gefährliche Entwicklung der Realität anpassen: Das bedingt weniger Händeringen über das Ende des Oslo-Friedensprozesses und die Zwei-Staaten-Lösung, als vielmehr Mitwirkung, den gefährlichen Weg zu verstehen und zu "managen" sowie neue Möglichkeiten zu finden, eine Verschlechterung der Lage zumindest zu verlangsamen, bis sich eine Chance zum Besseren ergibt.

Khatib: Dieses Szenario bedeutet, dass die EU und Deutschland weiterhin nur eine Nebenrolle als Akteure im Nahost-Konflikt spielen. Um diese traurige politische Realität zu ändern, wären zwei Dinge vonnöten: Erstens sollte die EU aufhören, Israel als einen Staat zu behandeln, der über dem Völkerrecht steht, und die EU sollte Israel und die Palästinenser für jeden Verstoß in gleichem Maße zur Rechenschaft ziehen. Zweitens sollte die EU auf einer politischen Einbeziehung bestehen, die ihrem finanziellen Beitrag mindestens gleichwertig ist; denn die EU und die europäischen Staaten sind die größten Geldgeber, haben aber die unbedeutendste politische Rolle und den geringsten Einfluss.

Das Interview führte Christian Hanelt.

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