Wenn Empathie als Verbrechen zählt

Yehuda Shaul ist Mitbegründer von "Breaking the Silence", einer NGO israelischer Ex-Soldaten, die die israelische Öffentlichkeit mit der Realität in den besetzten Gebieten konfrontiert. Marian Brehmer sprach mit ihm über den Gaza-Krieg und die Folgen der anhaltenden Besatzungspolitik.

Von Marian Brehmer

Mit der gegenwärtigen "Operation Protective Edge" der israelischen Armee scheint die Gewalt gegen Zivilisten in Gaza einen vorläufigen Höhepunkt gefunden zu haben. Trifft dieser Eindruck zu?

Yehuda Shaul: Um diese Frage sicher beantworten zu können, werden wir noch mehr Untersuchungen benötigen. Allerdings kommen bei der gegenwärtigen Operation neue Strategien zum Einsatz, die so vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wären. Ich werde Ihnen ein Beispiel nennen: Einer der Soldaten, der 2009 an der "Operation Gegossenes Blei" teilnahm und bei "Breaking the Silence" ausgesagt hat, erzählte uns diese Geschichte, die sich in den ersten Tagen der Operation ereignete.

Bei einem Diensteinsatz hatte er zwei oder drei Palästinenser gesichtet, die etwa 200 Meter vor ihm aus einem Haus gingen. Kurze Zeit später kehrten sie wieder in das Haus zurück. Per Funk gab er Details über ihre Bewegungen an das Kommando weiter. Als Antwort darauf rief das Kommando einen Kampfjet herbei, um das Haus bombardieren zu lassen. Der Soldat war schockiert und protestierte. Er sagte, dass die Männer unbewaffnet seien und keinerlei direkte Bedrohung für die Armee darstellten. Die Leute vom "Shin Bet", dem israelischen Inlandsgeheimdienst, entgegneten, dass der Besitzer dieses Hauses ein Hamas-Aktivist sei und man es deshalb bombardieren müsse. Das Haus wurde daraufhin in Schutt und Asche gelegt, obwohl sich darin auch Frauen und Kinder aufhielten. Fakt ist, dass solche Vorfälle bei der "Operation Gegossenes Blei" sporadisch waren. Doch für die "Operation Protective Edge" sind sie inzwischen zur allgemeinen Strategie geworden. Häuser werden in die Luft gejagt, obwohl man weiß, dass sich darin Familien befinden.

Wie erklären Sie sich diese Brutalisierung in der Kriegsführung?

Shaul: Mit den israelischen Verteidigungskräften (IDF) geht es von Operation zu Operation weiter bergab. Für uns als Land ist der moralische Tiefpunkt, auf dem wir seit der vorhergehenden Militäroperation angekommen sind, der Ausgangspunkt für die nächste Operation. Und so setzt sich das weiter fort. Mit der "Operation Protective Edge" wurde dort angeknüpft, wo 2009 die "Operation Gegossenes Blei" gegen die Hamas aufgehört hatte. Doch die Methoden, die nun verwendet werden, sind schlichtweg wahnsinnig. Die Armee wirft als Warnung kleine Bomben auf Dächer oder gibt den Hausbewohnern ein kurzes Zeitfenster, in dem sie das Haus zu verlassen haben, bevor es zerstört wird. Aber selbst wenn bekannt ist, dass die Familie das Haus noch nicht verlassen hat, wird es in vielen Fällen dennoch bombardiert. Und so bringt man die gesamte Familie um.

Hat sich im aktuellen Konflikt die Sicht der Israelis auf die Palästinenser verändert?

Shaul: Um die militärische Dynamik zu verstehen, müssen wir uns die Realität der Besatzung vor Augen führen. Wer als Soldat in den besetzten Gebieten im Einsatz ist, braucht für die nächste Operation keine Gehirnwäsche. Die Welt in den besetzten Gebieten ist sehr einfach gestrickt: Es gibt uns und es gibt sie. Es gibt Schwarz und es gibt Weiß. Alles was wir tun, ist richtig, und alles was sie tun, ist falsch. Insgesamt befindet sich die israelische Gesellschaft heute in einer sehr schlechten Verfassung. Wir haben die Besatzung über 47 Jahre lang aufrechterhalten. Die Menschen in Israel sind mittlerweile vollkommen empfindungslos geworden. Sie können die Palästinenser nicht mehr als Menschen sehen. Sie stehen dem Leiden der anderen Seite völlig gleichgültig gegenüber. Heutzutage ist es fast schon ein Verbrechen in Israel, Mitgefühl zu zeigen, auch wenn es um Frauen und Kinder geht.

Welche Auswirkungen hat all dies auf die Psyche der Soldaten?

Shaul: Natürlich wägt man als Soldat in den besetzten Gebieten sein Tun und Handeln genau ab und denkt ständig über Richtig und Falsch nach. Manchmal stellt man sich eine bestimmte Handlung vor und sagt sich, dass man so etwas niemals tun würde. Dann, eine Woche später, tut man plötzlich genau das, was man vorher noch ausgeschlossen hatte. So überschreitet man langsam, aber sicher alle roten Linien, eine nach der anderen. Erst wenn man fünf dieser Linien überschritten hat, merkt man, dass man seine Prinzipien gebrochen hat. Zum Beispiel: Man bricht zu Beginn seines Militärdienstes mitten in der Nacht in ein palästinensisches Haus ein und weckt die gesamte Familie auf. Die Kinder fangen an zu weinen. Man spürt in seinem tiefsten Inneren, dass das nicht korrekt ist. Aber schon bald gewöhnt man sich daran, weil man es fortan Tag und Nacht macht. Und allmählich vergisst man, dass es sich um Familien handelt und dass man praktisch von ihrem Leben Besitz ergreift.

Haben Sie als Soldat ähnliche Erfahrungen gemacht?

Shaul: Lassen Sie mich dazu eine Anekdote von meinem Einsatz in den besetzten Gebieten erzählen: Im Jahr 2002 führte ich mit meiner Einheit eine Operation in einem Flüchtlingscamp in der Nähe von Ramallah aus. Eine Woche lang durchsuchten wir ein Haus nach dem anderen. Zur gleichen Zeit lief die Fußballweltmeisterschaft. Es gab ein wichtiges Spiel, das wir alle schauen wollten. Brasilien spielte und unser Offizier war ein großer Brasilien-Fan. Also brachen wir eine halbe Stunde vor Spielbeginn die Durchsuchungen ab und gingen auf die Straße, um nach einem Haus mit einer Satellitenschüssel zu suchen. Wir fanden ein Haus, platzten herein, schlossen die Familie im Erdgeschoss ein und schauten uns das Spiel an. Uns schien es völlig akzeptabel zu sein, so etwas zu tun. Keiner stellte unser Handeln in Frage. Man gewöhnt sich daran.

Warum gibt es in Israel nicht mehr Proteste gegen den Gaza-Krieg?

Shaul: Das öffentliche Klima in Israel ist gegenwärtig sehr schlecht, noch schlechter als während der vergangenen Militäroperationen. Es gab überhaupt keinen Raum, das militärische Vorgehen in Frage zu stellen. Und ich meine damit keinesfalls nur die Medien. In Tel Aviv und Haifa wurden viele Anti-Kriegs-Demonstranten von Gangs krankenhausreif geschlagen. Und die Polizei unternahm nichts. Gleichzeitig gab es Politiker und hohe Funktionäre, die in Zeitungen forderten, ganze Gemeinden im Gazastreifen auszulöschen. Ein Professor an der Bar Ilan Universität schlug in einem Radio-Interview vor, dass man der Terroristen Herr werden könnte, indem man ihre Frauen vergewaltigt. Leider wird den extremen Stimmen in unserem Land derzeit viel Raum gegeben. Kritische Stimmen hingegen haben momentan kaum eine Plattform.

Gleichzeitig verschlechtert sich das Bild Israels im Westen. Wie fühlt man sich in Israel, wenn man sich die kritischen Reaktionen aus aller Welt vergegenwärtigt?

Shaul: Nun, Israels Reputation verschlechtert sich zwar, doch an der Besatzung wird nach wie vor festgehalten. Auch der Siedlungsbau wird fortgesetzt, die militärische Herrschaft über die Palästinenser wird weiter ausgebaut. Israel steuert nicht auf einen Ausweg aus der Konfrontation zu, im Gegenteil, wir reiten uns immer tiefer hinein. Wir tun alles in unserer Macht, um die Besatzung aufrecht zu erhalten. Als Israeli empfinde ich aber die antisemitischen Äußerungen einiger Demonstranten in Europa als sehr beunruhigend. Diese sind nicht nur inakzeptabel, sondern helfen Israel, immer wieder an dem Ausspruch festzuhalten: Die ganze Welt ist gegen uns.

Was für Reaktionen erhalten Sie als aktiver Pazifist in Israel?

Shaul: Ich bin weder ein Anti-Kriegs-Aktivist noch ein Pazifist. Ich glaube, dass Israel das Recht auf Selbstverteidigung hat, ja, sogar die Pflicht dazu. Ich wende mich lediglich gegen solche Gewalt, wie wir sie einsetzen. Ich bin dagegen, dass Menschen getötet werden, weil sie nicht auf unsere Anrufe gehört haben. Wer auf der Welt kann so etwas akzeptieren? Natürlich betrachten viele Israelis die Aktivisten von "Breaking the Silence" als Verräter. Aber wenn Sie mir vor zehn Jahren gesagt hätten, dass es heute fast 1.000 Soldaten gibt, die ihr Schweigen inzwischen gebrochen haben, dann hätte ich Sie wohl sicher ausgelacht. Es sind heute knapp 1.000 Personen, die ihre Meinung geändert haben. Und ihre Geschichten über die Realität der Besatzung sind nun der Öffentlichkeit zugänglich.

Einige politische Beobachter glauben, dass die größte Bedrohung für Israels Sicherheit nicht die Hamas, sondern die anhaltende Besatzung der palästinensischen Gebiete ist. Wie sehen Sie das?

Shaul: Dem stimme ich zu. Der einzige Weg, wie Juden ihr Recht auf Selbstbestimmung in Israel verwirklichen können, ist, indem sie aufhören, den Palästinensern genau dieses Recht zu entziehen. Tatsächlich stellt die Behandlung der Palästinenser die größte Bedrohung für Israel dar. Sie untergräbt die Legitimation des Staates Israel. Ich glaube nicht an "entweder sie oder wir". Genau das Gegenteil trifft zu: Die Sicherheit Israels hängt von einem souveränen palästinensischen Staat an unserer Seite ab. Sie hängt davon ab, den Palästinensern Würde und Rechte zuzugestehen. In Israel erleben wir derzeit einen Kampf um das Herz und die Seele unserer Gesellschaft. Die entscheidenden Fragen lauten: Wie begreifen wir uns als Gesellschaft? In was für einem Land wollen wir künftig leben? Und: Ist es für uns wirklich akzeptabel, all diese unschuldigen Familien zu bombardieren?

Das Interview führte Marian Brehmer.

© Qantara.de 2014

Yehuda Shaul diente als Soldat und Kommandant in den "Israelischen Verteidigungskräften" (IDF) und ist Mitbegründer der israelischen NGO "Breaking the Silence", einer Initiative ehemaliger israelischer Soldatinnen und Soldaten, die auf das Unrecht in den besetzten Gebieten aufmerksam macht. Sie berichtet über Gewalt gegen Palästinenser, Einschüchterungen und schleichende Verrohung in Teilen der Armee.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de