"Algerien ist ein durch und durch korruptes Land"

Stellen die gewaltsamen Proteste in Algerien eine ernsthafte Bedrohung für die Regierung Bouteflika dar, wie einige politische Beobachter meinen? Loay Mudhoon sprach mit dem Algerien-Experten Werner Ruf über die Ursachen der Unruhen in dem nordafrikanischen Land.

Von Loay Mudhoon

Seit einigen Tagen protestierten viele Algerier gegen hohe Lebensmittel- und Benzinpreise. Wie kommt es zu diesen wütenden Protesten?

Werner Ruf: Ich denke, Auslöser dafür ist einerseits ein Stück weit das, was in Tunesien passiert ist. Andererseits ist es so, dass in Algerien diese Proteste schon seit Jahren laufen und immer wieder irgendwo ausbrechen, da oft ganz banale Anlässe dahinter stehen – wie etwa ein Fußballspiel oder ein Verkehrsunfall. Oder es wird ein junger Mensch auf einer Polizeiwache zu Tode gefoltert und umgebracht. Aber es ist auch eine Tatsache, dass in Algerien sich die soziale Situation immer mehr verschlechtert hat. Gerade in den letzten Wochen sind die Lebensmittelpreise wieder explodiert und das spüren die Menschen natürlich. Und sie spüren es umso mehr, als die Mehrheit der Algerier im Elend lebt, keine Arbeit hat und es auch einfach keine Möglichkeit gibt, ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu führen.

Man fragt sich jetzt natürlich, was machen Algeriens herrschende Eliten mit den hohen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft? Algerien hat in den letzten Jahren einen noch nie da gewesenen Wirtschaftsboom erlebt.

Straßenschlachten in Belcourt, Algiers; Foto: AP
Proteste gegen Arbeitslosigkeit und hohe Lebenshaltungskosten: Wie in der Hauptstadt Algier kam es inzwischen auch in vielen anderen Städten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Allein am vergangenen Wochenende gab es mindestens drei Tote, hunderte Verletzte und mehr als eintausend Festnahmen.

​​Ruf: Algerien hat keinen Wirtschaftsboom erlebt, sondern einen Einnahmeboom. Algerien hat im Jahr 2010 nach den derzeit vorliegenden Schätzungen etwa 56 bis 57 Milliarden US-Dollar eingenommen, nur für die Exporte von Erdgas und Erdöl. Davon kommt bei den Menschen jedoch nichts an. Man kann ja auch durchaus andersherum sagen, dass diese Rentenökonomie, also das Leben von solchen Einnahmen, die aus unproduktiven Produkten wie Öl und Erdgas stammen, dazu führt, dass die eigene Ökonomie niederliegt, weil man meint, alles importieren zu können. Und es ist wirklich faszinierend zu sehen, dass sich das Steueraufkommen im Gegensatz zu diesen steigenden, gigantischen Staatseinnahmen im freien Fall befindet. Es gibt praktisch kein Steueraufkommen, weil es keine ökonomische Aktivität im Lande selber gibt.

Warum wird nicht investiert z.B. in die Infrastruktur, in andere Wirtschaftszweige, um diese Export-Abhängigkeit zu reduzieren?

Ruf: Das ist eigentlich eine sehr einfache und logische Frage. Und die Antwort ist zwar nicht ganz so einfach, aber sie ist genauso plausibel: Algerien ist ein durch und durch korruptes Land. Die Eliten schieben sich diese gigantischen Einnahmen in die Tasche oder man kauft unproduktive Dinge wie enorme Rüstungsgüter. Algerien hat vor zwei Jahren einen Vertrag mit Russland über 23 Milliarden US-Dollar abgeschlossen.

Gewaltsame Proteste in Annaba; Foto: AP
Reiches Land, arme Bevölkerung: Vor allem junge Menschen revoltieren gegen die Regierungspolitik Bouteflikas und die soziale Misere im Land. Drei Viertel der Algerier sind jünger als 30 Jahre – Jobs gibt es keine. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 25 Prozent.

​​Bei diesen Verträgen werden Kommissionen mindestens in der Höhe dessen bezahlt, was als Geschäft ausgewiesen wird. Dahinter stand der pro-russische Clan innerhalb der algerischen Führung. Daraufhin gab es massive Proteste der USA. Dann hat man diese Flugzeuge, die hauptsächlich von den Russen gekauft wurden, wieder zurückgegeben und gesagt, dass diese nichts taugen, und das gleiche Geschäft noch einmal mit den USA gemacht und dort noch einmal die Provisionen kassiert. Es ist ungeheuerlich. Und jetzt ist endlich der algerische Erdölminister Khakib Khelil gefeuert worden. Die gesamte algerische Erdölfirma Sonatrach, die übrigens die zehntgrößte der Welt ist, ist durch und durch korrupt.

Können sich diese Proteste ausweiten und die Stabilität des Regimes ernsthaft bedrohen?

Ruf: Es gibt einige Leute, die darüber spekulieren, ob jetzt noch einmal ein Oktober 1988 stattfindet. Damals gab es einen landesweiten Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Meiner Ansicht nach kann sich das wiederholen, weil derzeit an allen Ecken Aufstände zu beobachten sind, nicht nur in den mittelgroßen Städten und in den Dörfern; inzwischen hat der Aufstand auch auf Oran, die zweitgrößte Stadt des Landes, übergegriffen.

Auch in Bab El-Oued, einem der großen Armenviertel in der Hauptstadt Algier, ist es zu Unruhen gekommen – die Proteste nehmen eine Dimension an, die dem Regime schon gefährlich werden dürfte. Natürlich wird das auch durch die Ereignisse in Tunesien befeuert: Wenn so etwas schon im "braven Polizeistaat" Tunesien passiert, dann können wir das doch erst recht, sagen sich die Algerier, die ja Gewalt über einen langen Zeitraum erfahren mussten. Hinzu kommt, dass die Verhältnisse in Algerien, was Armut und Reichtum angeht, noch viel extremer ausgeprägt sind als in Tunesien.

Kann die Europäische Union in irgendeiner Form auf die Situation Einfluss nehmen?

Ruf: Ich denke, die EU ist schon daran interessiert, dass Ruhe herrscht. Andererseits ist die EU an diesen Verhältnissen in Nordafrika nicht unschuldig. Das gilt vor allem für Tunesien: Das Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommen hat in Tunesien dazu geführt, dass die kleine und mittelständische Industrie, die dabei war, sich zu entwickeln, völlig kaputt gemacht worden ist. Die Länder können den billigen Industrieprodukten, die aus der EU in diese Länder geliefert werden, nicht standhalten. Sie können keine eigene Industrie aufbauen, weil die Produkte trotz der billigen Löhne teurer wären als die industriell massengefertigten Güter aus der EU. Das ist das Problem.

Das ist in Tunesien viel krasser als in Algerien, wo es ohnehin keine Binnenökonomie gibt und wo man auf Importe angewiesen ist. Die Preise für Weizen beispielsweise, also zur Herstellung von Brot, sind in den letzten Jahren und auch vor allem in den letzten Monaten gewaltig gestiegen, so dass selbst diese gigantischen Einnahmen – wenn man erst einmal die Summen abzieht, die sich die Herrschenden in die Tasche stecken – nicht mehr ausreichen, um die Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen.

Interview: Loay Mudhoon

© Qantara.de 2011

Werner Ruf ist Politologe und Friedensforscher und war bis 2003 Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Kassel.

Redaktion: Nimet Seker und Arian Fariborz/Qantara.de