"Eine Gemeinschaft der Achtsamkeit schaffen"

Vladimir Ivanoff, Leiter des Ensembles Sarband, erzählt von "Passio - Compassio" - einem Projekt, das beim diesjährigen Beethovenfest präsentiert wird. Thema ist Musik und Religion verschiedener Kulturkreise. Mit Vladimir Ivanoff sprach Adelheid Feilcke.

Von Adelheid Feilcke

In Ihrem jüngsten Projekt treffen europäische, arabische und türkische Musiker, Instrumente und Traditionen aufeinander. Was verrät uns der Titel "Passio - Compassio"?

Vladimir Ivanoff: "Passio" bedeutet übersetzt "Leidenschaft" und gleichzeitig "Leiden". "Compassio" im mittelalterlichen Sinn bedeutet "Wahrnehmen" und "Mitfühlen". Das Projekt versucht, mittels der Musik Leiden zu sublimieren und in Achtsamkeit zu verwandeln: Achtsamkeit gegenüber dem Fremden, dem Andersartigen.

Dazu dient uns das Repertoire mit viel Musik von Johann Sebastian Bach aus seinen beiden Passionen. Zur Seite gestellt werden noch frühchristliche orientalische Musik und muslimische Musik aus der sufischen Tradition. So haben wir Musik aus zwei der drei großen Buchreligionen - Islam und Christentum. Und die drei großen Buchreligionen weisen einen Weg aus dem Leiden: durch den Tunnel des Leidens zu gehen und danach zu einer Erlösung zu kommen.

Wie funktioniert das in der Konfrontation der verschiedenen Musikstile?

Ein Derwisch-Tänzer der Mevlevi-Brüderschaft; Foto: Beethovenfest Bonn
Einmaliges Repertoire: Das Programm des Sarband Ensembles schafft ein tieferes Verständnis für kulturelle Unterschiede. Das Ensemble schlägt eine Brücke zwischen Orient und Okzident wobei es Juden, Christen und Araber gleichermaßen vereint. Dabei spielen sowohl vergangene als auch gegenwartsbezogene Kulturaspekte eine wichtige Rolle.

Ivanoff: Wir verwenden unterschiedliche Musiken, die das Leiden und das Märtyrertum im Sinne dieser großen Religionen behandeln. Aber wir maskieren sie: Bach wird auch auf Arabisch und auf Türkisch gesungen oder in den stilistischen Bereich des Jazz gebracht. Oder frühchristliche orientalische Gesänge erklingen im Jazz- oder Barockstil. Einigen Hörern sind Teile des Repertoires mehr bekannt als andere, erscheinen aber dadurch fremd. Dafür rücken anderes Repertoire und andere Aussagen einem näher. Durch den Verfremdungseffekt sagt man dann: "Gut, es ist etwas ganz anders vielleicht, aber ich kann das akzeptieren, denn auf einmal hab ich ja gemerkt, dass das, was mir vertraut schien, völlig fremd ist".

Bei dem Projekt erklingen Instrumente verschiedener Kulturen, die ja ganz unterschiedliche Stimmungen und technische Möglichkeiten haben. Wie fügt sich das?

Ivanoff: Das ist das Schöne an der Kunst, dass man das Unmögliche möglich machen kann. Wir haben ein Jazz-Streichquartett auf der Bühne, was aber auch als klassisches Streichquartett auftritt. Wir haben einerseits das westliche Cembalo, andererseits das Kanun aus der arabischen und türkischen Welt, das früher als "orientalisches Klavier" bezeichnet wurde. Dann haben wir Jazz-Saxophone einerseits, arabische und türkische Flöten andererseits - die Längsflöte Nay. Dann natürlich - ganz wichtig - gibt es einen Sänger und eine Sängerin. Unser Sänger Mustafa Dogan Dikmen ist einer der großen Spezialisten für klassische osmanische Musik und singt auch mal Bach auf Türkisch. Die Sängerin heißt Fadia el-Hage, kommt aus dem Libanon und hat in Deutschland studiert. In diesem Programm reflektiert sie ihre eigene multikulturelle Vergangenheit.

Und zu den cross-musikalischen Begegnungen kommen in dem Projekt noch die "tanzenden Derwische"…

Ivanoff: Die führen eine Art tänzerische Bewegungen auf, sind aber keine Tänzer. Sie kommen aus der Mevlevi-Brüderschaft, einer Laienbrüderschaft. Seit ihrer Jugend treffen sie sich ein- bis zweimal die Woche, um sich in einer rituellen Kleidung gemeinsam zur Musik zu drehen und dort einen Zustand der absoluten inneren Klarheit zu erreichen.

Im Programm drehen sich diese wirbelnden Mevlevi-Derwische so zweimal 20 Minuten ohne Unterbrechung zu Jazz, Bach und muslimischer Musik. Während sie sich drehen, entsteht ein nicht beschreibbares Gefühl der Gemeinschaft - auch mit dem Publikum. Das ist ja das, was wir mit dem Projekt hauptsächlich anstreben: In den zwei Stunden eine Gemeinschaft der Achtsamkeit zu schaffen. Für mich sind die Derwische wirkungsvolle Satelliten der Nächstenliebe.

Achtsamkeit für das Andere als Botschaft - auch wenn es eigentlich nicht zusammenpasst?

Ivanoff: Orient und Okzident gehören eigentlich nicht zusammen! Wenn sie zusammen sein sollen, dann muss man etwas dafür tun. Aber bevor eine Kommunikation entstehen kann, braucht man Achtsamkeit und Akzeptanz.

Wir können uns nicht mehr isolieren. Wir können nicht mehr die Tür zumachen und sagen, "Hier ist gut, und draußen kann passieren, was will". Dafür muss man arbeiten. Der Beginn ist einfach: wahrnehmen und spüren, "Ok, es ist etwas anders". Was dann passiert, bleibt dem Publikum, dem einzelnen Menschen überlassen. Wir stellen eine Aufforderung zur inneren und äußeren Arbeit.

Es ist eigentlich eine Gegenmission zu diesen "Friede-Freude-Eierkuchen"-Projekten, die sagen: "Ihr könnt ruhig wieder nach Hause gehen, es ist alles gut". Es ist überhaupt nicht alles gut! Ich hab dieses Jahr drei Monate für jedes einzelne Visum für meine syrischen, irakischen und türkischen Musiker gekämpft. Das Verständnis ist nicht größer geworden. Wir entwickeln uns zu einer Bastion, die sich gegen alles Äußere abschließt. Die Angst steigt. Jeder Einzelne muss etwas dafür tun, dass es zumindest erträglich wird.

Adelheid Feilcke

© Deutsche Welle 2014

Der in Bulgarien geborene Vladimir Ivanoff forscht über die musikalischen Verbindungen zwischen Okzident und Orient. Der Musikwissenschaftler, Lautenist, Buchautor und Dozent ist künstlerischer Leiter des Festivals "Tonfolgen" in Bonn. Mit dem von ihm gegründeten Ensemble Sarband ist er in Asien, Europa und den USA unterwegs. Das Projekt "Passio - Compassio" wird beim diesjährigen Beethovenfest aufgeführt.