Eine Handvoll Schnee

Tschingis Aitmatow wurde mit seiner Erzählung "Dshamilja" auf einen Schlag weltberühmt. Jetzt ist sein neuer Roman "Der Schneeleopard" erschienen. Tobias Asmuth hat den kirgisischen Meistererzähler und derzeitigen Botschafter seines Landes bei der EU getroffen.

Tschingis Aitmatow wurde mit seiner Erzählung "Dshamilja" vor mehr als vier Jahrzehnten auf einen Schlag weltberühmt. Jetzt ist sein neuer Roman "Der Schneeleopard" erschienen. Tobias Asmuth hat den kirgisischen Meistererzähler und derzeitigen Botschafter seines Landes bei der EU getroffen.

Tschingis Aitmatow; © GNU Free Documentation License (Foto: Andreas Zak)
Zurzeit Botschafter Kirgisistans bei der EU in Brüssel: Tschingis Aitmatow

​​Herr Aitmatow, in all Ihren Büchern spielt die Natur eine große Rolle. Die Berge, Steppe, der Himmel ...

Tschingis Aitmatow: ... das ist kein Wunder, denn das Markanteste an meinem Land sind die majestätischen Berge, die Ausläufer des Himalaya, der Tienschan und der Pamir. Bei uns haben die Menschen immer die Berge vor Augen. Das hat etwas sehr Elementares: Man ist gezwungen, sich ins Verhältnis zu dieser grandiosen Natur zu setzen. Und der Maßstab sind nicht allein die hohen Gipfel. Im Norden meines Landes beginnen die großen Steppen Zentralasiens. Der menschliche Blick reicht nicht aus, um diese Weite zu erfassen.

In Ihrem neuesten Roman "Der Schneeleopard" wird gnadenlos Jagd auf den unbezwingbaren Leoparden Dschaa-Bars gemacht. Die Bergwelt scheint aus den Fugen geraten zu sein?

Aitmatow: Der Umgang des Menschen mit der Natur wird auch bei uns zu einem Problem, obwohl in meinem Land nur knapp fünf Millionen Menschen leben. Früher züchteten die Menschen ihr Vieh, streiften auf Pferderücken durch die Berge und jagten mit Pfeil und Bogen für sich das Nötigste. Heute kommen Touristen aus der arabischen Welt mit Helikoptern in die Berge geflogen und lassen den letzten Schneeleoparden mit High-Tech-Gewehren und Präzisionszielfernrohren keine Chance. Der Mensch greift immer brutaler in die Natur ein. Dabei müssen wir lernen, mit der Natur zu kooperieren.

Und wie soll eine solche Kooperation aussehen?

Aitmatow: Ein Beispiel: Kirgisistans Reichtum sind die Hochgebirgsflüsse. Wenn man dort oben im Gebirge Staudämme baut, geht es meinem Land besser. Dem Wasser würde das nicht schaden, wir jedoch könnten daraus saubere Energie gewinnen, die wir auch exportieren sollten. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass das Wasser flussabwärts nicht weiter mit Düngemitteln und Pestiziden verschmutzt wird.

Usbekistan und Kasachstan, Staaten, durch die Flüsse wie der in Kirgisistan entspringende mächtige Syrdaja fließen, sind nicht begeistert von den Plänen, neue Dämme zu bauen. Sie haben Angst, dass nicht mehr ausreichend Wasser auf ihren Feldern ankommt.

Aitmatow: Wir müssen solche Fragen in Verhandlungen lösen. Seit Jahren versuchen unsere Staaten ein besseres Energiekonzept zu vereinbaren. Kirgisistan braucht die Wasserenergie vor allem im Winter, Usbekistan das Wasser im Sommer auf den Feldern. Eine Lösung ist noch nicht gefunden worden. Ich denke wir müssen lernen, in wichtigen Fragen den Egoismus der Marktwirtschaft zu überwinden.

Sie sind Botschafter Ihres Landes bei der Europäischen Union in Brüssel. Ist Europa ein mögliches Modell für Zentralasien?

Aitmatow: Auf jeden Fall. Ich versuche den Menschen in Zentralasien klar zu machen, dass die Europäische Union eine unglaubliche Errungenschaft in der Geschichte der Menschheit ist. Ihre Erfahrungen sollten wir in Zentralasien nutzen. Das ist für uns natürlich nicht leicht und schnell zu übertragen, vor allem weil unsere wirtschaftliche und soziale Lage in keiner Weise mit Europa zu vergleichen ist. Das wird noch sehr lange Zeit dauern, deshalb bin ich froh, dass Europa beginnt, in Zentralasien mit Entwicklungsprogrammen und Kooperationen Einfluss zu nehmen.

Ist das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte und einer gemeinsamen Zukunft in Zentralasien überhaupt vorhanden?

​​Aitmatow: Unsere gemeinsame Vergangenheit können wir nicht verleugnen, und aus ihr ergeben sich auch gemeinsame Fragen an die Zukunft. Unsere Länder sind von Russland und der Sowjetunion im Guten wie im Schlechten geprägt worden. China ist unser nächster Nachbar, aber er ist uns bis heute fremd geblieben, vielleicht ändert sich das in den nächsten Jahren. Unsere Wahrnehmung ist stark "europäisiert" vor allem eben durch die Sowjetunion. Wir haben uns alle als Sowjetmenschen empfunden, wir haben in diesem System gelebt. Es sind Erinnerungen geblieben, und die Straßen ...

... die Straßen?

Aitmatow: Sicher, denn bei allen kolonialen Verfehlungen, muss man feststellen, dass Moskau enorm viel für die Entwicklung unserer Länder getan hat. Über die Jahrzehnte ist das Geld für die Straßen, Bahnlinien, Flughäfen, Städte, Fabriken aus Moskau gekommen.

Wie wichtig ist Russland heute?

Aitmatow: Zentralasien orientiert sich weiter Richtung Westen; und das bedeutet aus unserer Perspektive nicht nur Europa, sondern vor allem eben auch Russland. Für Kirgisistan bleibt Russland auf jeden Fall ein sehr enger Freund, der uns viele Geschenke gemacht hat, und das wertvollste ist vielleicht die russische Sprache.

Sie sind Schriftsteller, schreiben auf Russisch. Es ist also kein Wunder, dass Sie das so sehen. Aber in Usbekistan zum Beispiel wird das Russische eher zurückgedrängt. Das kyrillische hat man durch das lateinische Alphabet ersetzt.

Aitmatow: Es wird Usbekistan bitter Leid tun, sich vom Russischen zu lösen. Russisch ist die nützlichste Hinterlassenschaft unserer Geschichte. Die Sprache ist kein Hindernis, sondern eine Brücke. Wir sollten die russiche Sprache weiter verbreiten, nicht zurückdrängen, weil sie so etwas die die Lingua Franca Zentralasiens ist. Sie macht den Austausch leichter. Wenn man also schon das lateinische Alphabet einführt, sollte man das kyrillische Alphabet zumindest nicht abschaffen, und zukünftig beides nutzen - als Instrumente der Zusammenarbeit.

Kirgisistan ist in einen stärker russisch geprägten Norden und einen eher islamisch geprägten Süden geteilt. Welche Rolle wird der Islam zukünftig spielen?

Aitmatow: In sowjetischen Zeiten haben die Religionen nur in den Nischen des Alltags überlebt. Heute ist der Islam in Kirgisistan wiedererwacht. Für mich bleibt die Religion zwar fremd, denn ich bin in einem atheistischen Staat aufgewachsen, aber ich respektiere Religionen als Bewahrer menschlicher Wahrheiten. Gleichzeitig glaube ich nicht, dass eine stärkere Rolle des Islam in unserer Gesellschaft zu einer Teilung Kirgisistans führen wird, wie manche Beobachter gerne behaupten

Sie haben also keine Angst vor islamistischen Tendenzen?

Aitmatow: Der Islamismus kann in vielen Ländern ein Problem werden, wenn man es nicht schafft, die Lage der Menschen vor allem wirtschaftlich zu verbessern. Darauf müssen wir uns konzentrieren.

Sie leben seit 16 Jahren in Europa. Vermissen Sie nicht die Berge und Steppen Ihrer Heimat?

Aitmatow:Ich erinnere mich an eine Geschichte aus meiner Jugend. Ich arbeitete damals als Korrespondent in Kirgisistan für eine sowjetische Nachrichtenagentur, als ich einen Anruf aus Moskau bekam. Ein bekannter Journalist aus Indien wolle unser Land besuchen, und ich solle ihn ein wenig begleiten.

Ich fuhr zum Flughafen, um ihn abzuholen. Er stieg aus dem Flugzeug und sah sofort am Horizont die Berge. Er war begeistert und fragte mich gleich: Warum sind denn die Berge so weiß da oben? Ich sagte, dass ist Schnee. Was ist Schnee? Ich versuchte zu erklären, dass es in der großen Höhe sehr kalt ist und dass dort Regen zu Schnee wird. Ach, das ist schön, davon würde ich gerne eine Handvoll mit nach Hause nehmen, sagte mein indischer Kollege. Das wird schwierig, lachte ich.

Europa hat natürlich seine Reize, landschaftliche Schönheiten, und Dinge, die es bei uns noch nicht gibt – zum Beispiel Komfort. Aber heute in Brüssel kann ich manchmal den indischen Journalisten gut verstehen, und hätte auch gerne eine Handvoll Schnee von unseren Bergen.

Interview: Tobias Asmuth

© Qantara.de 2007

Tschingis Aitmatow wurde 1928 im Dorf Scheker im Talas-Tal in Kirgisistan geboren. Nach der Ausbildung zum Viehzuchtexperten arbeitete er zunächst in einer Kolchose, bevor er in den fünfziger Jahren das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau besuchte. Mit der Erzählung "Dshamilja" (1958) - für Louis Aragon die schönste Liebesgeschichte der Welt - erlangte er über Nacht Weltruhm. Nach dem Machtantritt Michail Gorbatschows wird der Autor auch kulturpolitisch aktiv und gründet 1986 das "Issyk Kul" Forum, eine Konferenz von Wissenschaftlern und Künstlern aus der ganzen Welt am gleichnamigen kirgisischen Bergsee. Ende 1989 wird Aitmatow Gorbatschows Berater und 1990 Botschafter der Sowjetunion in Luxemburg, später in Frankreich sowie bei der Nato und der EU.

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