"Ein Volksfeind" in Istanbul

Thomas Ostermeier ist künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne und einer der kreativsten Köpfe unter den jüngeren deutschen Theaterregisseuren. Seine Inszenierungen sind scharfsinnig und provokant, was er erneut auf dem diesjährigen Theaterfestival in Istanbul mit Henrik Ibsens Stück "Ein Volksfeind" unter Beweis stellte. Mit ihm sprach Anna Esser.

Von Anna Esser

Warum haben Sie dieses Stück ausgesucht und weshalb führen Sie es in der Türkei auf?

Thomas Ostermeier: Das stand schon seit Jahren an, ich habe aber den richtigen Zeitpunkt dafür abgewartet. "Ein Volksfeind" ist ein interessantes Stück, gar nicht so sehr über "die da", sondern über uns selbst. In Henrik Ibsens gesellschaftskritischem Drama aus dem Jahre 1882 entdeckt Kurarzt Dr. Stockmann, dass das Wasser des städtischen Kurbades vergiftet ist und will diesen Skandal aufdecken, was jedoch lokale Politiker, Medien und auch Wirtschaftsgrößen der Stadt zu verhindern versuchen. Das Stück ist eine Selbstvergewisserung über politischen Widerstand und dessen Möglichkeiten. Es geht darum, welche Chance die Wahrheit in unserer Zeit und unter der Vorherrschaft der Ökonomie hat und wie diese in Frage gestellt wird. Es geht darüber hinaus um die Frage, was mit der Wahrheit passiert, wenn die Medien manipuliert werden, und wenn diejenigen, die sie aussprechen, selbst versucht werden zu korrumpieren. Das deckt sich mit der politischen Situation in der Türkei. Daher war es auch sehr mutig von der Festivaldirektion, uns einzuladen.

Ist es die Aufgabe des Theaters, auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen?

Ostermeier: Ich habe mir noch nie Gedanken über die Aufgabe des Theaters gemacht. Ich glaube nicht, dass Theater eine Aufgabe erfüllen sollte, dass ich als Theatermacher jemandem etwas erklären und ihm meine Sicht der Welt aufzwingen sollte oder erklären könnte, wie man es besser macht. Jede Aufführung ist stattdessen für mich ein Versuch der Verständigung über mich selbst und über meine Generation, es ist eine ernsthafte und wahrhaftige Auseinandersetzung unsere eigenen Widersprüche zu begreifen. Kurioser- oder glücklicherweise wird dieses Interesse seit vielen Jahren von einem großen Publikum geteilt.

Szene aus dem Bühnenstück "Ein Volksfeind" von Hendrik Ibsen, Foto: Arno Declair/Schaubühne
Unerwartete Resonanzen und Reaktionen: "In der Türkei wurden wir gewarnt, dass sich das Publikum nicht beteiligen würde, da es keine Tradition der Publikumsbeteiligung gäbe. Tatsächlich waren die Zuschauer in Istanbul aber sehr engagiert und auch sehr mutig", berichtet Theaterregisseur Thomas Ostermeier über die "Ein Volksfeind"-Aufführung in Istanbul.

Haben Sie vor der Aufführung in Istanbul Änderungen am Bühnenstück vorgenommen?

Ostermeier: Ja, wir haben in Hinblick auf die Türkei zwei bis drei kleine Änderungen vorgenommen.  So haben wir den Begriff "Gesindel" mit dem Ausdruck "çapulcu" übersetzt – ein Ausdruck, mit dem der türkische Ministerpräsident die Demonstranten im Gezi-Park im letzten Jahr beschimpft hat. Auch die Tritte von Erdoğans Berater Yusuf Yerkel auf Demonstranten nach dem Minenunglück in Soma haben wir eingebaut.

Im letzten Teil Ihrer Inszenierung des Stücks wird das Publikum aktiv in das Geschehen eingebunden und zur Stellungnahme und Diskussion aufgefordert. Welche Reaktionen haben Sie in Istanbul erwartet?

Ostermeier: Wir sind ja schon sehr lange unterwegs mit dem Stück, daher habe ich eigentlich keine Erwartungen mehr. In Athen beispielsweise dachten wir, dass es Wahnsinn wird, aber die Zuschauer dort waren müde, hatten keine Lust und Kraft mehr, über Politik zu reden. In New York hingegen habe ich mit wenigen Beiträgen gerechnet und wurde dann doch sehr positiv überrascht: Es gab sehr engagierte, elaborierte und auch extrem radikale Redebeiträge. Dort haben auch ziemlich viele Zuschauer den Saal verlassen, die Angst vor ihren eigenen Landsleuten bekommen hatten.

In der Türkei wurden wir gewarnt, dass sich das Publikum nicht beteiligen würde, da es keine Tradition der Publikumsbeteiligung gäbe. Tatsächlich waren die Zuschauer in Istanbul aber sehr engagiert und auch sehr mutig. Die Einladung an sich war ja schon sehr kühn. Zwischendurch gab es immer wieder Applaus und standing ovations. Doch die Quittung kam prompt: In einer regierungsnahen türkischen Zeitung stand am darauffolgenden Tag, dass eine deutsche Theatertruppe ein Anti-Erdoğan-Stück aufführe, sozusagen als "Anheizer" für den Jahrestag der Gezi-Proteste.

 Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan während einer AKP-Veranstaltung in Ankara; Foto. picture-alliance/dpa
Türkische Aktivisten der Gezi-Park-Proteste als Gesindel (çapulcu) diskreditiert: der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan

Der Artikel war mit "Alman oyun" betitelt, "deutsches Spiel" (als Anspielung auf die Theorien türkischer Politiker, dass ausländische Kräfte die Proteste von Gezi unterstützt hätten). Es ist eine extreme Erfahrung, etwas zu erleben, wovon man als Theatermacher träumt – nämlich davon, dass eine Aufführung eine politische Reaktion hervorruft. Dass man mit dem, was man zu einem Thema macht und sagt, auf der Politikseite einer Zeitung landet, statt nur in den Feuilletons, das hat das deutsche Theater in Deutschland das letzte Mal vor 30 Jahren erlebt.

Bei der ersten Aufführung in Istanbul waren die Publikumsbeiträge recht persönlich, manchmal waren die Grenzen zwischen Realität und Theaterspiel fließend …

Ostermeier: In Istanbul waren die Beiträge gefühlsgetragener als anderswo. Das sind nicht zwingend Mentalitätsunterschiede, sondern das hat mit der Tradition des Sprechens im öffentlichen Raum zu tun. Das freie Sprechen ist in Deutschland leider am wenigsten entwickelt, die Zuschauer sind meist sehr aufgeregt. Im englischsprachigen Raum sind die Menschen sehr gut geschult. Hier in der Türkei haben die Menschen auch keine Hemmungen, öffentlich zu sprechen, aber es wirkt auf uns Deutsche immer ein wenig getragen.

Die Gemüter sind erhitzt, nicht nur wegen des jüngsten Jahrestages von Gezi. Was verbindet Sie mit der Türkei?

Ostermeier: Ich habe beim letzten Theaterfestival 2012 den Ehrenpreis der Istanbuler Kultur- und Kunststiftung (IKSV) bekommen, was mich sehr gefreut hat. Die türkische Theatergemeinde scheint alles sehr genau zu verfolgen, was ich mache. Das bewegt mich sehr.

Wenn ich bei der täglichen Nachrichtenlektüre über den NSU-Prozess darüber nachdenke, dass ich in einem Land arbeiten kann, das so schlecht beleumundet ist in Deutschland – Stichwort Ehrenmorde –, wir dann aber wiederrum in einem Land leben, in dem irgendwelche Nazis neun Türken und einen Griechen erschossen haben, dann ist das schon sehr finster, dann schäme ich mich richtig, als Deutscher in der Türkei zu sein. Das ist eine Form von Dehumanisierung. Stellen Sie sich mal vor, in der Türkei würden zehn Deutsche von türkischen Nazis erschossen, was dann los wäre. Das schwingt auch immer bei Aufführungen, Interviews oder den Publikumsgesprächen in der Türkei bei mir mit. Bei allen Schwierigkeiten, mit dem dieses Land gegenwärtig kämpft, ist es doch in seiner akademischen Klasse, seiner Intelligenzia ein sehr aufgeklärtes Land.

Interview: Anna Esser

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de