"Eine Pattposition ist besser als bewaffnete Zusammenstöße"

Die libanesischen Fraktionen haben sich auf den ehemaligen Armeechef Michel Suleiman als Kompromisskandidaten für das Amt des Staatspräsidenten geeinigt. Martina Waiblinger sprach mit Professor Theodor Hanf über die schwierige Gemengelage.

Armeechef Michel Suleiman; Foto: AP
Armeechef Michel Suleiman: Man weiß wenig über ihn, außer der Tatsache, dass er allseits einen sehr guten und professionellen Eindruck hinterlässt, meint Theodor Hanf

​​Nachdem die Wahl zu einem neuen Präsidenten im Libanon nun sechsmal verschoben wurde, haben sich alle Parteien auf den 59 Jahre alten Armeechef Michel Suleiman als Kompromisskandidaten geeinigt, obwohl dazu die Verfassung geändert werden muss. Wie kam es jetzt gerade zu dieser Person?

Theodor Hanf: Was Michel Suleiman zum Kompromisskandidaten macht, ist auf der einen Seite, dass er zu einer Zeit Befehlshaber der Armee geworden ist, als Syrien noch das Sagen hatte. Damals hatte Syrien zumindest nichts gegen ihn einzuwenden.

Auf der anderen Seite hat es Suleiman bei den friedlichen Demonstrationen 2005 vermieden, irgendetwas zu tun, was diese behindern könnte. Die Soldaten haben sich als Verkehrspolizisten und als Polster zwischen unterschiedlichen Gruppen betätigt, und haben damit im Grunde die Großdemonstrationen im März ermöglicht. Auch wie er die Militäraktion gegen die Fundamentalisten in dem Palästinensercamp Nahr el-Bared geführt hat, wurde ihm sehr positiv zugeschrieben.

Dies hat dazu geführt, dass auch die jetzige Regierungsseite in ihren verschiedenen Komponenten keine Einwände gegen ihn hat. Insgesamt weiß man relativ wenig über ihn, außer der Tatsache, dass er allseits einen sehr guten und professionellen Eindruck hinterlässt, sowohl bei den verschiedenen libanesischen Lagern wie auch bei den UNIFIL-Leuten.

Wie stehen die verschiedenen politischen Gruppierungen zu ihm?
Wurde die Entscheidung von außen beeinflusst?

Hanf: Vorgeschlagen wurde General Suleiman vom 14. März, von der Zukunftsbewegung Hariris und von den Anhängern Walid Dschumblatts. Die Opposition hat ein lauwarmes Ja gesagt.

General Aoun sagte, dass es ihn "sehr freuen würde, wenn er Präsident werden würde", aber es war ihm anzumerken, dass er lieber selbst Präsident geworden wäre. Es hat sich eigentlich niemand gegen ihn ausgesprochen.

Die Entscheidung hängt wohl mit einigen Verschiebungen im internationalen Feld zusammen. Es wird viel darüber spekuliert, ob die Syrer die Franzosen reingelegt haben, indem sie zuerst den Eindruck erweckt hätten, sie würden einem Kompromiss zustimmen, ihn dann aber über ihre libanesischen Alliierten sabotieren haben lassen. Daraufhin wurde die Wahl zum ersten und zum zweiten Mal verschoben.

Die Opposition hätte allerdings – wenn keine Wahl zustande käme – damit rechnen müssen, dass die Regierung Siniora im Amt bleiben würde. Aber Siniora wollen sie auf jeden Fall weg haben, und deswegen wäre eine Nichtwahl eine Niederlage für die Opposition. Sie hätte dann vor der Wahl gestanden, sich damit abzufinden, wie sie es jetzt seit einem Jahr de facto gemacht hat, oder in eine Eskalation hinein zu gehen, und davor haben alle Angst.

Syrien hingegen versucht, aus der Isolierung heraus zu kommen, hält aber an seinen politischen Grundlinien, sowohl in Sachen Palästina wie in Sachen Golan etc. fest. Jetzt war Syrien in Annapolis und hat erklärt, bereit zu sein für Frieden gegen Land. Von syrischer Seite aus könnte es eine Geste sein, sich einer Präsidentenwahl nicht zu widersetzen, eine Geste, die von Frankreich, Deutschland und den USA immer wieder angemahnt worden ist. Aber das sind Spekulationen.

Michel Suleiman wird wohl in Absprache mit den anderen Parteien eine neue Regierung bilden. Wird diese vor den gleichen Problemen stehen wie die Regierung Siniora?

Hanf: Meiner Meinung nach wird die Wahl des Präsidenten alleine noch keines der anstehenden Probleme lösen. Zuerst muss die Regierung zurücktreten, und der Präsident muss versuchen, eine neue zu bilden. Er wird dabei Wert darauf legen müssen, dass die schiitische Gemeinschaft angemessen vertreten ist, denn das fordert die Verfassung.

Und damit hätte diese zwar nicht unbedingt eine Sperrminorität, denn die Sperrminorität hätte sie nur zusammen mit der Partei von General Aoun. Die fordern natürlich weiterhin eine klare Sperrminorität. Was die anderen dann dazu sagen werden, ist völlig offen. Die jetzige Regierungskoalition könnte den Fehler korrigieren, den sie vor eineinhalb Jahren begangen hat, als sie Aoun außen vor gelassen, die Hisbollah aber eingeschlossen hat.

Was bleiben wird, ist das relative Ungleichgewicht: Der Parlamentspräsident ist eine starke Figur der schiitischen Gemeinschaft, der jetzige Ministerpräsident, der wahrscheinlich auch der zukünftige sein wird, wird eine starke Stellung in der sunnitischen Gemeinschaft haben, und die Frage ist, ob der neue Präsident eine ebenso starke Stellung in der maronitischen – der christlichen - Gemeinschaft hat.

Das Verfassungssystem von Taif ist ja etwas verzerrt worden durch diese Troika der drei Präsidenten. Die Verfassung sieht keine drei Präsidenten vor, sondern sieht eine Regierung als Exekutive vor, die als Kollegialorgan handelt.

Die andere Frage - wenn es jetzt eine ausgeglichene Regierung im Geiste der Verfassung gibt – ist, ob diese in der Lage sein wird, in wichtigen Dingen überhaupt Entscheidungen zu treffen. Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht.

Das ist auch nicht das Schlimmste, denn eine Pattposition ist immer noch besser als bewaffnete Zusammenstöße und Schlimmeres. Ein wichtiger Streitpunkt ist inzwischen weggefallen, nämlich der internationale Gerichtshof. Das ist jetzt eine internationale Angelegenheit und keine libanesische mehr.

Die große Frage, die man sich im Land stellt, ist, was man Syrien dafür gibt, dass es sich gegenüber den Amerikanern gefällig erweist. Die Bundesregierung hat das schon mit 32 Millionen Euro beantwortet. Wenn immer wieder versichert wird, man werde den Libanon nicht ausverkaufen, ist das insofern problematisch, weil man darüber nur redet, wenn man übers Ausverkaufen nachdenkt.

Unter einem erheblichen Teil derjenigen Libanesen, Christen oder Muslime, die sich nicht zu Syrien oder Iran zählen, gibt es eine große Skepsis bezüglich der Durchhaltefähigkeit der amerikanischen und europäischen Politik.

Ist das Proporzsystem noch zeitgemäß?

Hanf: Ich kann mir eine Alternative überhaupt nicht vorstellen. Die Religionsgemeinschaften sind ja nicht in erster Linie Konfessionen. Die Bezeichnung als Konfessionen und das System als Konfessionalismus ist im Grunde grober Unfug.

Das ist ein Vielvölkerstaat. Das sind Bevölkerungsgruppen, die seit 1400 Jahren kaum untereinander geheiratet haben, und die zusammen leben. Also, ein Proporzsystem ist im Libanon genauso angebracht wie zwischen den Schweizer Kantonen oder zwischen den Staaten der Europäischen Union. Da wird ja auch nach einem Proporzsystem verfahren.

So exotisch ist das libanesische System gar nicht. Es erscheint uns nur so exotisch, weil es unter Konfessionalismus läuft. Aber das haben wir in Deutschland auch lange gehabt. Es ist noch gar nicht so lange her, als genau ausgerechnet wurde, welcher Schuldirektor Katholik oder Protestant sein sollte.

Besteht die Gefahr eines neuen Bürgerkriegs?

Hanf: Im Augenblick hat hier keiner Lust, sich zu schlagen. Das ist der große Unterschied zu 1974/75. Die Generationen der über 22-Jährigen haben noch so viel Erinnerung daran, wie schrecklich der Krieg war, der ja nicht nur ein Bürgerkrieg war, dass sie so etwas auf keinen Fall mehr wollen.

Was man nicht ausschließen kann, ist, dass ganz junge Leute, die keine Ahnung mehr haben, Fehlkalkulationen machen, und man kann auch nie ausschließen, dass es irgendwelche Zwischenfälle gibt. Zwischenfälle können auch inszeniert werden von dritter Seite, aber die allgemeine Stimmung ist: Wir wollen keinen Krieg.

Interview: Martina Waiblinger

© Qantara.de 2007

Theodor Hanf lehrt Politikwissenschaft in Freiburg und an der American University of Beirut. Er ist Direktor des "International Centre for Human Sciences" (ICHS), Byblos/Libanon

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