Zirkel der Hoffnungslosigkeit

Für Tayeb Tizini, Professor für Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Damaskus, ist der radikale Islam in der arabischen Welt das Ergebnis der Perspektivlosigkeit der Jugend, für das vor allem die arabischen Eliten verantwortlich seien. Mit ihm hat sich Afra Mohamed unterhalten.

Für Tayeb Tizini, Professor für Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Damaskus, ist der radikale Islam in der arabischen Welt das Ergebnis der Perspektivlosigkeit der jüngeren Generation, für das vor allem die arabischen Eliten verantwortlich seien. Mit ihm hat sich Afra Mohamed unterhalten.

Tayeb Tizini; Foto: Said Samir
"Warum blickt das Morgenland zurück und das Abendland nach vorne?" - Tayeb Tizini, Professor für Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Damaskus

​​Man spricht häufig von der arabischen Kultur trotz der großen regionalen Unterschiede in der arabischen Welt. Wäre es nicht angemessener, von arabischen Kulturen zu sprechen?

Tayeb Tizini: Es ist durchaus möglich, von Einheit und Vielfalt in der arabischen Kultur zu sprechen. Die Verschiedenheit resultiert aus den besonderen Umständen, aus denen sie erwachsen sind. Wenn wir beispielsweise den Maghreb besuchen, werden wir Zeuge einer bestimmten arabischen Kultur, weil der Maghreb seine eigenen historischen Phasen erlebt hat.

Je mehr Kulturen eine Gesellschaft assimiliert hat, desto reicher wird sie. Das ist viel besser, als nur mit einer einzigen Stimme zu sprechen. Ein anderes Beispiel: Wenn ein Marokkaner, Mauretanier oder Syrer mit einer einzigen Stimme spräche, wäre auch die Sprache ärmer – so als ob man nur auf einem einzigen Instrument spielen würde.

Stellen wir in unserem Gespräch das Öffentliche und das Private in einen Kontext, so sprechen wir über eine private Öffentlichkeit und eine öffentliche Privatheit in einem globalen Raum. Und das besagt auch, dass wir eine einheitliche Kultur besitzen, aber die Fähigkeit, uns in ihr auszudrücken, ist so unterschiedlich wie die Differenzen zwischen den sozialen, politischen, menschlichen und psychologischen Beziehungen und unser Verständnis von künstlerischer Erziehung.

Vor welchen neuen Herausforderungen stehen die arabischen Kulturen im Zeitalter der Globalisierung?

Tizini: Seit der Geburt einer globalen Ordnung beschleunigen sich die Umbrüche weltweit. Diese neue Weltordnung ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Betrachten wir die Problematik der arabischen Kultur vor dem Beginn dieser neuen Weltordnung, so waren wir vor allem mit Fragen von Fortschritt und Freiheit konfrontiert.

Symbolbild Globalisierung; Foto: DW
Tayeb Tizini spricht sich gegen eine Reduktion der arabischen Kulturen als Folge der wirtschaftlichen Zwänge der Globalisierung aus.

​​Aber nun sprechen wir über neue Probleme, die unser ganzes Dasein und unsere ganze Geschichte in Frage stellen. Und jetzt, nach dem Entstehen einer neuen Weltordnung, die alle Weltkulturen beeinflusst, von denen eine arabisch ist, sind wir mit einer Macht konfrontiert, die wir nicht verstehen können.

Die globale Weltordnung frisst die Natur und die Menschen, um sie in Produkte zu verwandeln. Sie arbeitet am Umbau der Welt, damit sie als ein globaler Markt funktioniert. Daher identifizieren sich verschiedene Kulturen mit der globalen Welt. Auch die arabische Geschichte wird von ihr umgeschrieben, so dass sie auf eine einzige globale Sprache, das Englische, reduziert wird. Solange wir uns nur zu einer Lebensweise bekennen, sind wir nichts im Vergleich zu anderen Kulturen.

Was sollten die arabischen Intellektuellen unternehmen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?

Tizini: In der Zeit der Renaissance haben sich Intellektuelle und Reformatoren vor allem eines gefragt: Warum blickt das Morgenland zurück und das Abendland nach vorne? Ich antworte: Wir sollten mit der Geschichte fortschreiten und die Freiheit verwirklichen.

Trotzdem blicken die Araber zurück in eine Vergangenheit, in der die Unfreiheit fest verankert war. Das besagt nicht, dass die arabische Kultur auch in sich selbst gefangen ist und der arabische Mensch nicht kreativ sein kann. Die moderne arabische Renaissance konnte ihre großen Ziele nicht erreichen, weil auch der abendländische Kapitalismus dieser Entwicklung zuvor kam.

Souq Hamidiyyeh in Damaskus; Foto: AP
Tayeb Tizini fordert einen offen geführten politischen Diskurs in Syrien, um der Globalisierung und ihren Auswirkungen mit eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konzepten entgegenzusteuern.

​​Denken Sie, die Wahl von Damaskus als arabische Kulturhauptstadt kann dazu beitragen, dass Kultur als wichtiger Teil arabischer Gesellschaften wiederbelebt wird?

Tizini: Wenn Damaskus arabische Kulturhauptstadt wird, müssen die Syrer sich mit der "verwundeten" arabischen Kultur auseinandersetzen. Wir erleben jedoch eine Reduzierung dieses Ereignis als reine Fassade, Folklore etc., was jedoch die Kultur nicht fördert.

Deswegen müssen wir den politischen Diskurs, die Wirtschaft und die Gesellschaft öffnen, aus dem ureigensten Interesse Syriens, da es mit einem Globalisierungsprojekt konfrontiert wird, das sie zerstören will. Die Antwort darauf kann nur sein, den Kreis von innen nach außen zu öffnen.

Der Begriff "Islamisierung" der arabischen Gesellschaften dominiert den arabischen und den westlichen Diskurs. Wie können Sie dieses Phänomen erklären?

Tizini: Wenn in einem Land die kulturelle, politische oder gesellschaftliche Bewegung fehlt, entstehen alternative Kräfte. Das zeigt, dass die arabische laizistische Renaissance fehlgeschlagen ist. Stattdessen entstand der religiöse Fundamentalismus, der Vielfalt ablehnt und die Einheit des Seins behauptet, nach der alle Menschen Muslime werden müssen.

Darüber hinaus wollen die Anhänger dieser Ideologie, dass sich die Sozial-, Natur- und Wirtschaftwissenschaften diesem Dogma unterwerfen. Der Islam und andere Religionen haben gewiss ihre Würde und ihre Bedeutung. Aber dass sie die Gesellschaft dominieren und sie einem einzigen Dogma unterordnen will, verurteilt sie zum Niedergang. Man muss der Islamisierung der Gesellschaft nationale, demokratische und laizistische Alternativen entgegensetzen.

Wer ist verantwortlich für die zunehmende religiöse Radikalisierung der arabischen Gesellschaften?

Tizini: Die arabische Eliten sind der Hauptverantwortliche, da sie die wesentlichen Probleme der arabischen Gesellschaft nicht angehen: das Problem der Arbeitslosigkeit, der eingeschränkten Freiheit und der zensierten Kultur. Millionen von Jugendlichen sind nicht in der Lage, ihre alltäglichen Bedürfnisse zu stillen. Das hat zur Folge, dass sie nach anderen Alternativen suchen.

Islamisten in Kairo; Foto: AP
Rückfall zum politischen Islam als Antwort auf das Scheitern einer laizistischen Renaissance in der arabischen Welt - junge Islamisten in Kairo.

​​Diese Alternativen kann man in drei Kreise unterteilen: Der erste ist die Reise ins Paradies für diejenigen, die keine Lösung im Diesseits finden. Für sie sind die Extremisten Prediger eines besseren Jenseits – und der Islam ist für alles die Lösung. Die zweite Reise ist eine ins Innere, denn wer nicht mit der realen Welt zurecht kommt, flüchtet sich in die Unendlichkeit seiner inneren Welt.

Die dritte Reise fängt an vor den Toren der westlichen Botschaften, in dem Irrglauben, die Dreifaltigkeit Freiheit, Würde und finanzielle Sicherheit existierten nur im Westen. Aber die Lage im Westen ist kompliziert geworden. Und diese Leute leben in einem Zirkel der Hoffnungslosigkeit, da die Heimat sie nicht erträgt und das Ausland sie nicht will. Genau in diesem Gewässer fischt die "islamistische Bewegung" – und gründet darauf ihre "Theorie des Todes", die von der Überzeugung ausgeht, dass die Rückkehr zu den Altvorderen alle Probleme löst.

Wie beurteilen Sie die These Huntingtons vom Kampf der Kulturen? Und kann der Dialog der Kulturen und Zivilisationen diese Konfrontation entschärfen?

Tizini: Huntington klassifiziert die Welt in acht Zivilisationen. Zwei davon sind gefährlich: die islamische und die chinesische. Er hat vorausgesagt, dass das neue Jahrhundert von einem Zusammenprall der Religionen dominiert sein wird. Zunächst will er sicherlich damit sagen, dass es Religionen gibt, die in ihrem Einflussgebiet über riesige Erdölvorkommen verfügen. In diesem Konflikt geht also um eine an Bodenschätzen reiche Region – und nicht um den Islam, wie er zum Beispiel in armen Ländern wie Mauretanien existiert.

Andererseits können wir nicht von einem Zusammenprall der Religionen sprechen, da jede Religion ihre spezifische Heimat hat. Ein friedliches Zusammenlebens aller Religionen ist durchaus möglich, weil sie alle dieselbe absolute Wahrheit teilen. Also heißt die Lösung, diese Realität anzuerkennen, ohne sich in die inneren Angelegenheiten der anderen einzumischen, da jeder Gläubige davon überzeugt ist, im Besitz der Wahrheit zu sein.

Es gibt keinen Zusammenprall der Kulturen, jedoch kleiden viele Akteure bestimmte politische Konflikte in eine kulturell-religiöse Begrifflichkeit. Insofern hat Huntington recht, wenn er von einem Interessenskonflikt spricht, der zufällig in jenen Ländern ausgetragen wird, in denen der Islam die Hauptrolle spielt.

Das Interview führte Afra Mohamed

Aus dem Arabischen vom Nadir Yousfi

© Qantara.de 2008

Der syrische Autor und Philosoph Tayeb Tizini zählt zu den bedeutendsten arabischen Intellektuellen. Er studierte, promovierte und habilitierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrte viele Jahre an der Universität von Damaskus. Zu seinen Werken gehören u.a. "Eine Einführung in die arabisch-islamische Philosophie im Mittelalter" sowie zahlreiche Studien zur Geschichte des arabisch-islamischen Denkens.

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