Der "Islamische Staat" und die Strategen des Terrors

Der IS ist gegenwärtig die gefährlichste Terrormiliz der Welt und kontrolliert ein Gebiet, das vom Nordosten Syriens bis in den West-Irak reicht, darunter fast alle syrischen Öl- und Gasfelder. SPIEGEL-Korrespondent Christoph Reuter beschreibt in seinem neuen Buch "Die schwarze Macht" die Hintergründe für den Aufstieg des IS. Mit ihm sprach Igal Avidan.

Von Igal Avidan

Die Gründung des "Islamischen Staats" (IS) ging nicht auf islamische Theologen, sondern ausgerechnet auf weltliche Generäle und Geheimdienstler der irakischen Baath-Partei zurück – mit indirekter Hilfe der US-Armee. Wie kam es dazu?

Christoph Reuter: Man muss, um das zu verstehen, bis ins Jahr 2003 zurückgehen, als die US-Armee in den Irak einmarschierte und der damalige US-Verwalter Paul Bremer in zwei Dekreten und per Federstrich die gesamte irakische Armee und weite Teile des Staates auflöste. Sehr viele Offiziere wurden gefeuert und hatten das Gefühl, sie seien ungerecht behandelt worden. Diese waren nicht unbedingt treue Anhänger Saddams. Sie gingen daraufhin in den Widerstand gegen die US-Truppen, indem sie die sogenannten "Baath-Brigaden" gründeten, die Vorläufer des IS sind.

Diese Brigaden wurden nach der Baath-Partei benannt, der 1947 gegründeten "Partei der arabischen Wiedergeburt", die den nationalistischen Panarabismus und Säkularismus mit dem arabischen Sozialismus verband.

Reuter: Die IS-Gründer merkten rasch, dass der Aufruf "Wir bringen die Baath-Partei zurück" keine Anziehung auf die Massen ausübte. Als sie aber sagten: "Wir bringen den Islam zurück, wir machen Dschihad, wir gründen einen islamischen Staat", merkten sie, dass es eine enorme Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt hat. Diese Menschen waren bereit zu sterben, was für eine bewaffnete Kraft ein großer Vorteil ist. Zudem kann man mit dem Namen "Islamischer Staat" seinen Feinden sagen, wenn man eine gewisse Machtgröße erreicht hat: Wir sind der "Islamische Staat" und jeder, der gegen uns ist, ist ein Ungläubiger. Das verschafft einem eine Legitimität, die die Baath-Partei nie gehabt hat und nie haben kann. Man rekurriert auf 1.400 Jahre Geschichte anstatt auf 60 Jahre.

Buchcover "Der Islamische Staat und die Strategen des Terrors"; DVA/Spiegel Buchverlag
Ungeahnte Einblicke in Entwicklung und Strategie-Konzeption der IS-Terrormiliz: Christoph Reuters neues Sachbuch "Die schwarze Macht. Der Islamische Staat und die Strategen des Terrors"

Diese alten Geheimdienstler, Baath-Partei-Funktionäre und Kommandeure von Spezialeinheiten machten einen diskreten Aufstieg innerhalb der "Al-Qaida im Irak" und später im "Islamischen Staat im Irak" möglich. 2010 übernahmen sie die Führung, nachdem die Amerikaner fast die gesamte Führungsspitze umbrachten oder verhafteten. Sie erklärten Abu Bakr al-Baghdadi zu ihrem Kommandanten, weil er als einziger innerhalb der IS-Führung eine Ausbildung als islamischer Prediger hatte.

Die Verbitterung der irakischen Sunniten, die unter Saddam Hussein den Irak beherrschten, war groß, als sie ab April 2006 von der neuen schiitischen Regierung unter Nuri al-Maliki aus allen Machtzentren ausgeschlossen wurden. Und das veranlasste sie im Oktober 2006 dazu, den "Islamischen Staat im Irak" zu gründen. Warum aber zogen diese Irakis ausgerechnet nach Nord-Syrien, um dort den "Islamischen Staat" zu gründen?

Reuter: Dass sie 2012 nach Syrien gegangen sind, war ein genialer Schachzug. So konnten sie wachsen und allen anderen Gruppen deutlich machen, dass sie die Führungskraft darstellen. Es war für sie ausgesprochen hilfreich, die anarchische Situation in Nordsyrien zu nutzen und dort das alte, leicht modifizierte Konzept einer Unterwerfung und einer Machtergreifung auszuprobieren. Sie gründeten Predigerzellen und Missionsbüros, wo sie Spitzel angeworben und ausgebildet hatten. Diese Spione mussten alles in Erfahrung bringen, zum Beispiel Informationen über die mächtigen Familien im Ort, die religiöse Richtung des Imam, wer kriminelle Aktivitäten begangen hat, wer eine Affäre pflegt oder schwul ist, um sie damit erpressen zu können. Nebenbei verteilten sie auf Werbeveranstaltungen gratis Korane und organisierten während des Ramadans Volksspeisungen. Später wurden manche Gegner mit Geld und Posten gewonnen oder sie wurden heimlich entführt und ermordet.

Warum wurden gerade Ausländer als lokale Befehlshaber eingesetzt?

Reuter: Das war ebenfalls ein ausgefeiltes Konzept, denn die Iraker kannten ja die Mitbegründer des "Islamischen Staates". Auf die Syrer wollte man sich nicht verlassen, weil sie möglicherweise lokale Verpflichtungen wahrnehmen mussten. Auf die überwiegend jungen Ausländer hingegen konnten die IS-Gründer sich ganz verlassen, vor allem auf die militärisch ausgebildeten Dschihadisten aus Tunesien, Ägypten, der Türkei und Tschetschenien, aber auch aus Europa. Diese kamen ab Mitte 2012 nach Nordsyrien und waren bereit zu sterben. Diese hybride Armee konnte man gut beherrschen. Erst ab Mai 2013 sprach man vom "Islamischen Staat".

Inwieweit nutzten die Strategen des "Islamischen Staates" die historische Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten, die seit 1.400 Jahren um die wahre Nachfolge des Propheten Mohammed kämpfen, für ihre politischen Zwecke? Die meisten Opfer der IS waren bisher Sunniten, dennoch stellt sich die Terrormiliz als Schutzherrin der Sunniten dar.

Islamischer Staat in Mossul, Foto: picture-alliance/AP
Vormarsch ungebremst: Nach der Eroberung der irakischen Millionenstaat Mossul und der Einnahme mehrerer Militärdepots fühlt sich der IS so mächtig, dass er nun auch gegen die syrische Armee kämpft.

Reuter: Sich als die Retter der Sunniten vor den Schiiten darzustellen, ist Teil eines sehr aufwändigen Propagandakonzeptes des IS. Aber um den militärischen Aufstieg in Syrien schaffen zu können, hält der "Islamische Staat" bis heute noch an der alten taktischen Allianz zum Assad-Regime fest, das aus Alawiten besteht, einer kleinen schiitischen Splittergruppe. Die syrischen Geheimdienste halfen, die Dschihadisten aus dem Irak zu schleusen, um die Amerikaner davon abzuhalten, auch das Regime in Damaskus zu stürzen. Als die vereinten syrischen Rebellen ab 2014 versuchten, den IS aus Syrien zu vertreiben, bombardierte die syrische Luftwaffe nur die syrischen Rebellen. Der IS wurde verschont, denn er ist als Schreckenssymbol für das Assad-Regime ein Geschenk Gottes: Ohne Assad würden die Dschihadisten Damaskus längst erobert haben, wird behauptet.

Finanziert sich der "Islamische Staat" vor allem aus den Einnahmen aus dem Ölgeschäft in dem von der Terrormiliz eroberten Gebiete im Nordirak?

Reuter: Der "Islamische Staat" verkauft das Öl an alle Interessenten, vor allem an das syrische Regime, weil dieses über Raffinerien verfügt. Nach der Eroberung der irakischen Millionenstaat Mossul und der Einnahme mehrerer Militärdepots fühlt sich der IS so mächtig, dass er nun auch gegen die syrische Armee kämpft.

Sie haben als Journalist Syrien insgesamt 17 Mal besucht. Inwieweit haben Sie sich für diese Recherchen in Gefahr begeben?

Reuter: Die Lage hat sich manchmal alle paar Wochen verändert. Zwischen April und September 2013 hat der IS auch noch nicht systematisch Ausländer entführt. Da haben wir auch deren Kämpfer und lokalen Anführer getroffen. Aber man merkte, dass die Menschen Angst hatten und manche verschwanden. Wir mussten uns zu der Zeit viel vorsichtiger bewegen. Ab Herbst 2013 wurden alle Ausländer vom IS in dessen Areal entführt, auch mehrere Kollegen. Und seitdem sind wir auch nicht mehr nach Nordsyrien gereist. Erst Anfang 2014 konnten wir wieder in bestimmte Gebiete Nordsyriens zurückkehren, aus denen der IS vertrieben wurde. Wir halten in jedem Dorf langfristig Kontakte, um die Menschen dort besser kennenzulernen und einschätzen zu können und um zu wissen, ob wir uns auf sie verlassen können. Wir müssen so sicher wie möglich sein, dass sie uns nicht ans Messer liefern oder verkaufen.

In den letzten Wochen eroberte der "Islamische Staat" allen Prognosen zum Trotz Ramadi im Irak und Palmyra in Syrien. Lässt sich die Bewegung im Maschrek überhaupt noch aufhalten?

Reuter: Seinen enormen Aufstieg verdankt der IS dem Gemeinschaftsunternehmen der kühlen und nüchternen Planern, die auf die Eroberung von Gebieten setzten, anstatt Anschläge im Ausland zu verüben. Der Anteil der erfahrenen Geheimdienstoffiziere ist durch die Bombardierungen geschrumpft und diese sind auch nicht so leicht zu ersetzen. Wenn die neuen Spitzenfunktionäre irgendwann an ihre Botschaften glauben – "Wir sind von Gott auserwählt, wir müssen überall gleichzeitig kämpfen, wir müssen Anschläge im Ausland verüben" – dann spricht viel dafür, dass sie dasselbe Schicksal anderer dschihadistischer Bewegungen ereilen wird, die letztlich an sich selbst zugrunde gegangen sind. Oder dass sie sich so viele Gegner zur selben Zeit schaffen, dass sie besiegt werden. Dieser Sieg ist jedoch nur dann möglich, wenn die Sunniten des Irak, deren Gebiete die Dschihadisten oft ohne Widerstand eingenommen haben, als gleichberechtigte Bürger leben können.

Das Interview führte Igal Avidan.

© Qantara.de 2015

Christoph Reuter: "Die Schwarze Macht: Der Islamische Staat und die Strategen des Terrors", DVA-Verlag, München, ISBN: 978-3-421-04694-9, 352 Seiten