„Wir sind die Hälfte des Weges gegangen“

Nicht politische oder wirtschaftliche Probleme seien mittelfristig die größte Bedrohung für den demokratischen Wandel in Tunesien, sondern die Krise des Staates, erklärt der tunesische Rechtswissenschaftler Slim Laghmani im Gespräch mit Sarah Mersch.

Von Sarah Mersch

Wie manifestiert sich die Staatskrise, von der Sie sprechen?

Slim Laghmani: Sie manifestiert sich im Wesentlichen im Verhältnis des Tunesiers zum Staat. Er begreift den Staat nicht als das Ergebnis seines Willens, sondern als etwas, das außerhalb der Gesellschaft steht und sie transzendiert. Deshalb eignet er sich den Staat nicht an. Das war völlig verständlich zu Zeiten der Bey (der ehemaligen Herrschaftsfamilie, Anmerkung der Redaktion), denn das war eine türkische Familie, die sich der Gesellschaft aufzwang wie ein Fremdkörper. Auch zur Zeit des französischen Protektorats war das normal, denn der französische Staat war ja ein fremder. 

Aber das Phänomen hat sich durchgezogen bis zum unabhängigen Tunesien. Es war nicht der Staat der Tunesier, sondern der Staat von Habib Bourguiba, dem Vater, dem Gründer und Vormund und somit war der Staat wieder ein Fremdkörper. Bourguiba hatte zwar eine historische, aber keine demokratische Legitimität. Als er sich 1974 zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen ließ, wurde er zum neuen Bey. So war der Staat wiederum aus der Gesellschaft ausgegliedert.

Ist das mit Ben Ali so weitergegangen?

Laghmani: Das Phänomen hat sich sogar noch verstärkt. Der externe Charakter des Staates blieb bestehen, aber ohne das Charisma und ohne die historische Legitimität von Bourguiba. Der Staat ist zu einer Instanz des Gebens und Bestrafens geworden. Aber ab Mitte der 1980er Jahre konnte er kein Wohlfahrtsstaat mehr sein. Es kulminierte in der Krise von 2007/2008, in der sich der Staat völlig zurückgezogen hat und nichts mehr geben konnte. Hier liegt der Ursprung der Revolution.

2007/2008 kam es zum Aufstand von Redeyef in den Bergbaugebieten im Südwesten des Landes.

Laghmani: Genau. Wir wussten damals noch nicht, dass dies der Anfang war. Der Aufstand fiel mit einer weltweiten Krise zusammen und der Wohlfahrtsstaat konnte nichts mehr geben. Deshalb hatte der Staat keine Legitimität mehr, denn seine einzige Legitimierung war es ja, Straßen, Krankenhäuser und Schulen zu bauen. In dem Moment, in dem er das nicht mehr tun kann, existiert er nicht mehr.

Warum hat sich dieses Verhältnis der Tunesier zum Staat mit der Revolution nicht verändert? Warum haben sich die Menschen den Staat, der ihnen immer fremd war, nicht angeeignet?

Laghmani: Der Staat ist trotz Revolution fremd gebliebenو Die Vorstellung, dass ein Staat nur Legitimität besitzt, solange er sich durchsetzen kann, ist Vergangenheit. Es wurde aber nicht verinnerlicht, dass dieser Staat jetzt keine außenstehende Instanz mehr ist, die den Bürgern ihren Willen aufzwingt.

Staatsgründer Habib Bourguiba; Foto: dpa/DW-Fotomontage
"Ihr seid lauter Einzelteilchen, ich mache aus euch eine Nation." Worte aus einer berühmten Rede von Staatsgründer Habib Bourgiba. Laut Slim Laghmani ist es nicht der Bürger, der den Staat etabliert hat, sondern umgekehrt hat der Staat den Bürger geschaffen. Der Staat wird als Fremdkörper wahrgenommen.

Trotz der freien Wahlen ist der Staat ein Fremdkörper geblieben. Denn 2011 haben eine neue Einheit, eine neue Kultur und ein neuer Diskurs die Macht übernommen. Die Partei Ennahdha ist mit einer Sprache angetreten, die die Menschen am Anfang nicht gut verstanden haben, mit einem sehr vom Koran geprägten Hocharabisch. So wurde der Staat von der tunesischen Mittelschicht, von den Kleinbürgern, wieder als Fremdkörper aufgefasst. Aber der Staat konnte immer noch nichts geben: 2011 wurden die Kassen geleert, 2012 war nichts mehr da, was man noch hätte ausgeben können. Und so hat der Staat erneut seine Legitimität verloren.

Mit den Wahlen 2014 kam der Versuch, die politische Landschaft auszubalancieren, was mit der inzwischen toten Partei Nidaa Tounes zunächst auch gelungen war. Aber der Staat bleibt eine externe Instanz, weil er immer noch nicht geben kann und deshalb nicht geachtet wird. Das ist paradox, denn die Tunesier praktizieren die Demokratie, aber sie nehmen die Konsequenzen der Demokratie nicht an. 

Was hat das für praktische Konsequenzen?

Laghmani: Die wichtigste Konsequenz ist die Machtlosigkeit des Staates. Er hat fast keinen Handlungsspielraum mehr, ohne zu verhandeln. An sich ist es ein positives Konzept, auf Verhandlungen zu setzen. Aber wenn man jedes Mal mit Anwälten, Richtern oder den Phosphatwerken, mit was weiß ich welchem Stamm im Süden oder den Leuten an der Grenze zu Libyen verhandeln muss, dann wird das ein Dauerzustand, in dem jeglicher Sinn für Gemeinwohl verloren geht. So bleibt dieses pathologische Verhältnis zum Staat bestehen. Die Kultur ist ein dominierender Faktor im Verhältnis der Bürger zum Staat. Man definiert sich immer über die eigene Besonderheit: „Ich bin aus dem Süden“, „ich bin Gewerkschafter“, „ich bin von Ennahdha“, nicht über die tunesische Identität.

Bourguiba wollte den Menschen mit der Unabängigkeit eine tunesische Identität aufzwingen.

Laghmani: Mehr noch, er hat so getan, als hätte er sie erfunden. Er hat in einer berühmten Rede gesagt: "Ihr seid lauter Einzelteilchen, ich mache aus euch eine Nation." So kann der Staat ja fast nur als etwas Transzendentes verstanden werden. Weil der Staat heute schwach ist, muss er verhandeln und zwar über fast alles mit fast jedem. Und so schafft er es nicht, identitätsstiftend zu sein. Der Grund für dieses Problem ist ganz einfach: Es ist nicht der Bürger, der den Staat etabliert hat, sondern umgekehrt hat der Staat den Bürger geschaffen. 

Und deshalb übernimmt der Bürger keine Verantwortung?

Laghmani: Genau, denn der Staat bleibt der Staat der anderen, nicht mein eigener. Die ersten öffentlichen Telefone Anfang der 1990er wurden hier in den Straßen aufgestellt, wie überall auf der Welt. Doch die Leute haben sie abmontiert oder den Hörer mit nach Hause genommen. Und wie hat der Staat reagiert? Statt die Telefone in den Straßen zu lassen, hat er private Telefonläden eingerichtet. Damit hat dieses Verhalten natürlich aufgehört, aber warum? Weil es sich eben nicht mehr um ein öffentliches Gut gehandelt hat, sondern um ein privates. Da muss man aufpassen, denn es gehört ja jemandem. Das gleiche Phänomen gibt es in anderer Form heute auch noch. Es verweist auf eine Verzögerung bei der Bildung eines nationalen Bewusstseins. Ich hoffe, es ist nur eine Verspätung.

Ex-Diktator Ben Ali; Foto: picture-alliance/dpa
Davongejagt: Ex-Diktator Ben Ali. Unter seiner Herrschaft blieb der externe Charakter des Staates bestehen und wurde zu einer Instanz des Gebens und Bestrafens. Mit Verlust der Möglichkeit zum Bau von Schulen und Krankenhäusern verlor er seine Legitimität.

Wie kann man diese Verspätung aufholen?

Laghmani: Man müsste zunächst einmal eine lokale Demokratie aufbauen. Der Bürger muss sehen, dass derjenige, der die Macht hat, ihn auch repräsentiert. Mit den Kommunalwahlen (voraussichtlich Ende 2016, Anmerkung der Redaktion) wird sich wohl langsam verändern. Nationales Bewusstsein konstruiert sich von unten nach oben. Andersherum ist es nicht möglich, das hat sich gezeigt. 

Beobachtet man die Entwicklung der letzten Jahre kann man den Eindruck gewinnen, dass die Bevölkerung immer noch auf der Suche nach einem starken Mann an der Spitze des Staates, einer Art Vaterfigur, ist. Woher kommt das?

Laghmani: Das ist eine Frage der politischen Kultur. Die Idee, dass Politik nicht ein Mechanismus von Regeln und Gesetzen ist, sondern eine Qualität des Herrschers, ist sehr tief verankert. Das heißt auch, dass man Gerechtigkeit nicht von den Gesetzen sondern von einer Person erwartet. Die Gerechtigkeit als Attribut einer Person zu verstehen, ist die Negation der Justiz an sich. 2011 haben viele Tunesier Ennahda gewählt, weil sie die Vertreter dieser Partei für gottesfürchtig hielten. Politik wird also auf die moralischen Qualitäten von Individuen reduziert. Mit dieser Logik müssen wir brechen.

Heute befindet sich Tunesien in einer Art Verfahrensdemokratie: Es werden Wahlen abgehalten und Gesetze verabschiedet, aber die Logik der Bürger ist noch eine andere. Wie kann sich das ändern?

Laghmani: Es ist eine Frage der Erfahrung, ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen moralischen Qualitäten von Individuen und der Politik, zwischen dem Allgemeinwohl und der Heiligsprechung von Individuen zu schaffen. Die politische Klasse, von den Rechten bis zur Linken, muss sich dessen genauso bewusst werden wie die Bürger. 

Also bleibt sogar die Politik der alten Logik verhaftet?

Laghmani: Sie ist sogar hauptverantwortlich dafür. Wir reden über politisches Bewusstsein, das eigentlich vor allem in der Politik vorhanden sein müsste. Dort existiert es aber am wenigsten. Darin gründet ein Großteil meines Pessimismus: Die Mehrheit der politischen Klasse hat sich nicht erneuert, obwohl eine Revolution stattgefunden hat. 

Die Tunesier werden keine repressive Macht mehr akzeptieren, aber da hört die Gemeinsamkeit auch schon auf. Welche Macht wollen sie? Sie werden darauf viele Antworten bekommen, aber es handelt sich immer um Einzelinteressen, keine nationalen. Die Abwesenheit des staatsbürgerlichen Bewusstseins ist frappierend. Wir sind die Hälfte des Weges gegangen, aber es bleibt die andere Hälfte. Es gilt, ein politisches Bewusstsein aufzubauen. 

Sarah Mersch

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