Ironie als Mittel zur Traumabewältigung

Nach Ansicht des irakischen Schriftstellers Sinan Antoon lassen sich die derzeitigen Ereignisse im Irak nur vor dem Hintergrund der Auswirkungen der blutrünstigen Diktatur Saddam Husseins und des Iran-Irak-Krieges auf die Psyche der Iraker verstehen. Ibtisam Azem hat sich in Berlin mit dem Autor unterhalten.

Von Ibtisam Azem

​"I'jam", zu Deutsch "mit diakritischen Punkten versehen"*, lautet der arabische Original-Titel Ihres Buches. Dies verweist darauf, dass mit ein und demselben Wort zwei völlig unterschiedliche Dinge gemeint sein können. Die Punktierung kann also sowohl klären als auch verschleiern. Wieso haben Sie sich gerade für diesen Titel entschieden? Was war die Idee dahinter?

Sinan Antoon: Ich war auf der Suche nach einem Titel, der das zentrale Thema des Romans auf den Punkt bringt: das Schreiben, und zwar nicht etwa das Schreiben unter normalen Umständen, sondern ein heimliches Schreiben im Gefängnis, wo ein Insasse ein Manuskript mit Buchstaben verfasst, dem die im Arabischen für eine eindeutige Lesart nötigen Punkte fehlen, um die Zensur, die Machthaber und den herrschenden Diskurs zu überlisten. Als das Schriftstück dann den Behörden in die Hände fällt, versuchen diese, Klarheit in den Text zu bringen, indem sie "Punkte auf die Buchstaben setzen", was hier ganz wortwörtlich gemeint ist.

Im Arabischen bedeutet das aber auch, "Nägel mit Köpfen zu machen". Es gelingt ihnen jedoch dadurch nicht, einen eindeutigen Sinn zu fixieren. Die Bedeutung der Worte entzieht sich immer wieder. Je intensiver ich mich mit der Idee zu diesem Buch und mit dem System der Punktierung auseinandersetzte, desto mehr gefiel mir dieses Thema, denn die Punktierung kann aufklären, aber gleichzeitig auch verdunkeln und verschleiern. Ein Wort kann eine bestimmte Bedeutung annehmen, unter Umständen aber auch genau das Gegenteil davon heißen. Aber erst, als ich die Arbeit an dem Roman fast abgeschlossen hatte, entschied ich mich dann für "I'jam" als Titel, weil ich ihn sehr passend fand.

Der Roman schildert Freud und Leid eines jungen Irakers. Letzten Endes weiß der Leser jedoch nicht, ob der Text tatsächlich so niedergeschrieben wurde, wie er uns vorliegt, ob ihn der Ermittler des Geheimdiensts bewusst verfälscht hat oder ob er einfach unbeabsichtigt durch die Punktierung entstellt wurde.

Massengrab in Bagdad; Foto: AP
Massengrab in Bagdad: Seit Jahrzehnten leiden die Iraker unter Kriegen und Diktatur. Insbesondere seit dem Iran-Irak-Krieg hat sich die Lage dramatisiert und bis heute nicht entschärft.

Antoon: Das stimmt. Eine Grundproblematik, die der Roman aufwirft, liegt ja darin, dass alles Übermittelte zunächst durch die Hände von Behörden und Institutionen geht, die es filtern und kontrollieren. Das ist im Übrigen nicht nur in Diktaturen so, sondern auch in sogenannten Demokratien, wird aber in einer Diktatur wesentlich offensiver und offensichtlicher praktiziert. ​​ Darüber hinaus wollte ich aber zwei einander scheinbar widersprechende Vorstellungen vermitteln: Einerseits, dass man sich dem despotischen Diskurs widersetzen kann, indem man ihn sich aneignet und dabei spöttisch-parodierend entstellt, und andererseits, dass die Stimme der Ausgegrenzten und Unterdrückten gar nicht erst an die Öffentlichkeit dringt, oder wenn, dann kommentiert oder zerstückelt – eine tragische Realität.

Versuchen Sie durch diese Thematisierung von Sprache auch ihren quasi-heiligen Charakter in verschiedenen Zusammenhängen – religiös, politisch, sozial – in Frage zu stellen?

Antoon: Arabische Leser werden bei der Lektüre sicherlich daran denken müssen, dass auch die uns überlieferten heiligen Schriften ursprünglich unpunktiert waren, was unter anderem zur Folge hat, dass eine Institution, sei sie nun religiös, politisch oder anders geartet, den Sinn erst fixiert. Das wiederum macht es erforderlich, sich auf die Entstehungsgeschichte der Schriften zurückzubesinnen, eine Betrachtung, die vieles zu Tage fördert, was die vorherrschende Meinung ins Wanken bringt. Mir ging es jedoch im Wesentlichen darum, einen politischen Diskurs bloßzustellen, der Sprache zum Heiligtum erhebt. Dieser Prozess findet natürlich in ganz unterschiedlichen Abstufungen statt. Schließlich bemühen sich alle Gesellschaften um die Wahrung ihrer Sprache. So existieren beispielsweise auch in Frankreich oder den USA Akademien, die ihre Sprache "rein" halten und vor fremden Einflüssen schützen wollen. Doch in diktatorischen Gesellschaften nimmt dieses Bemühen durch seine mannigfaltige Ausgestaltung gefährliche Ausmaße an.

In dem Roman erzählen Sie eindimensional aus der Sicht des Gefangenen, wie die Dominanz der offiziellen Stimmen des Establishments alles verdrängt und verdreht, was nach außen dringt. Dabei bedienen Sie sich eines kafkaesken Stils. Warum gerade diese Art der Darstellung?

Bombardierte Gebäude vor dem irakischen Finanzministerium; Foto: AP
Kriegszerstörungen in Bagdad: "Je schwieriger es wurde, desto mehr brauchten die Menschen Ironie und Spott, nicht als vergnüglichen Zeitvertreib, sondern als Waffe, um überhaupt überleben zu können", sagt Sinan Antoon.

Antoon: Adorno hat einmal in etwa gesagt, alle modernen Gesellschaften seien eine Art Freiluftgefängnis. Man kann daher nur schwerlich die Leiden des Individuums in modernen Gesellschaften beschreiben, ohne dass nicht zumindest etwas vom Geiste Kafkas oder Orwells durchdringt. Dies gilt umso mehr in Gesellschaften wie den unseren. ​​ Außerdem habe ich mich aber auch ganz bewusst für die ausschließliche Dominanz der Stimme des Ich-Erzählers, des Gefangenen, bei der Darstellung seiner Pein entschieden, weil dies dem Werk deutlich mehr emotionale und ästhetische Prägnanz verleiht. Der Leser wird mit diesem Menschen, seiner Vergangenheit, seinen Träumen und Albträumen, ganz intim und vertraut, bis der Protagonist unvermittelt verschwindet. Es ist damit ein Versuch, die verlorenen Stimmen greifbar zu machen, von denen wir sonst nie etwas hören.

Der Ich-Erzähler hat für sein gesamtes Umfeld nur Hohn und Spott übrig, als seien sie der einzige ihm verbliebene Rettungsanker. Diese bittere Ironie des Romans zielt aber auch darauf ab, einige "heilige Kühe" zu schlachten, um sich selbst neu denken zu können. Inwieweit gilt aus Ihrer Sicht auch für den Irak, dass ein derartige Ironie unabdingbar ist?

Antoon: Man muss sich nur einmal daran erinnern, dass im offiziellen irakischen Amtsblatt Ende der 1980er Jahre ein Gesetz veröffentlicht wurde, dass für das Erzählen von Witzen über den Staatspräsidenten die Todesstrafe vorsah – was darauf hindeutet, dass genau das viele Leute taten. Wenn sie sich unter sich wähnten, machten sie sich anhand umgedichteteter Liedtexte über das Regime lustig. Diese Ironie ist etwas ganz Normales und hat sich damit ganz wie von selbst in den Text eingeschlichen. Ich habe mich keineswegs bemüht, sie ihm künstlich einzuimpfen. So war unser Leben einfach. Und je schwieriger es wurde, desto mehr brauchten die Menschen Ironie und Spott, nicht als vergnüglichen Zeitvertreib, sondern als Waffe, um überhaupt überleben zu können. Ich habe lediglich versucht, dies so in die Erzählung einfließen zu lassen, wie ich es im Irak tatsächlich erlebt habe.

Den Leser beschleicht hier wie bei "Warten auf Godot" das Gefühl, vergeblich und unendlich auszuharren, während gleichzeitig die ständige Erwartung nicht nachlässt, jeden Augenblick könne etwas passieren, alles umkippen und sich ins Gegenteil verkehren. Wie sehen Sie das?

Antoon: Der Roman spielt zur Zeit des Krieges gegen den Iran, der länger wütete als der Zweite Weltkrieg und Hunderttausende Opfer forderte. Dieser Krieg geriet zwar rasch in Vergessenheit, weil andere Kriege folgten, doch hatte er in der Psyche der Iraker gewaltige Spuren hinterlassen. Er begleitete uns Tag und Nacht, mehrere Generationen mussten zur Armee. Wir lebten in einem ständigen Wartezustand, von dem üblichen Warten einmal ganz abgesehen, das ja ein Merkmal des modernen Lebens in großen Städten wie Bagdad ist. Gleichzeitig rechneten wir die ganzen Kriegsjahre über damit, dass etwas passieren würde, ein Umsturz, irgendetwas. Aber die Trostlosigkeit der allgemeinen Lage ließ uns immer wieder in Resignation zurückverfallen.

Buchcover I'jam von Sinan Antoon

Bei Kriegsende am 8. August 1988 tanzten die Iraker dann drei Tage lang auf den Straßen – sie konnten einfach nicht fassen, dass dieser Krieg wirklich vorbei war! Damals dachten wir, nun würde das Leben sich in die geregelten Bahnen zurückfinden. Warten gehörte einfach zur Gesamtstimmung, in der wir lebten. Die jungen Männer verfolgte das Schreckgespenst, irgendwann doch mit ungewissem Ausgang – Tod oder Rückkehr? - zur Armee zu müssen. Ich glaube, Geduld und Durchhaltevermögen sind gleichzeitig die besten und die schlechtesten Eigenschaften des Menschen, denn wenn wir warten und klaglos ertragen, nehmen wir auch Dinge hin, die wir eigentlich nicht hinnehmen sollten.

Wie sieht es denn mit dem Irak heute aus? Ist es den Amerikanern gelungen, einen Schlussstrich unter die blutige Geschichte des Irak zu ziehen und ein neues Kapitel aufzuschlagen?

Antoon: Zumindest ist es den Amerikanern gelungen, die Zeit vor dem Sturz Saddam Husseins klar von dem abzugrenzen, was danach kam - als hätten sie rein gar nichts mit ihrer eigenen jahrelangen Unterstützung für das Regime und den Waffenlieferungen an Saddam zu tun. Die Gegner der amerikanischen Besatzung ihrerseits sprechen ebenfalls nicht gerne über die Vergangenheit. Dabei kann man den Irak heute nur verstehen, wenn man die Auswirkungen von Diktatur und Krieg auf die Struktur der irakischen Gesellschaft betrachtet. Wir dürfen diese Zeit nicht vergessen, und zwar nicht aus wehklagendem Selbstmitleid, sondern um zu begreifen, was heute im Irak vor sich geht.

Ihre Zeit hier in Berlin neigt sich nun nach gut einem Jahr dem Ende zu und Sie kehren nach New York zurück. Welche Eindrücke haben Sie hier gesammelt?

Antoon: Mein ganzes akademisches und privates Leben findet in den USA statt. Als Gastwissenschaftler in Berlin habe ich mich, da ich kein Deutsch kann, deutlich als Außenstehender gefühlt und die Stadt von außen betrachtet; eine sehr interessante Erfahrung. Wenn man die Banalitäten des täglichen Lebens intensiv beobachtet, kann man dabei eine ganze Menge Bilder und neue Ideen sammeln. Zweifellos hat mir die Entbindung von akademischen Verpflichtungen, wie ich ihnen in New York nachkommen muss, die Möglichkeit eröffnet, mehr in Ruhe zu schauen. Ich hatte mehr Freiraum.

In dieser Stadt mit ihrem ganz eigenen Charakter und ihrer komplexen, weitverzweigten Geschichte habe ich Elemente dessen wiedergefunden, worüber ich schreibe, was ich empfinde – zum Irak, zu Gewalt, Krieg, Diktatur, Barbarei in der Welt. All dies zieht sich in konzentrierter Form auch durch die Geschichte dieser Stadt. Wenn man die sogenannten "Stolpersteine" im Straßenpflaster sieht, die an die Geschichte eines Hauses und der Menschen erinnern, die einst von dort deportiert wurden, oder wenn man auf einem Schild liest: "Von hier aus fuhren Züge in die Konzentrationslager", dann ist man auf einmal mittendrin in diese komplexen Zeit. Außerdem ist die Stadt reich an Kultur und architektonischen Schätzen, was mir sehr bei meiner Selbstfindung geholfen hat. Die Stadt hat es mir ermöglicht, wieder mit mir selbst Kontakt aufzunehmen.

Interview: Ibtisam Azem

© Qantara.de 2009

Aus dem Arabischen von Nicola Abbas

*Anmerkung: Diakritische Zeichen sind kleine Zeichen wie Punkte, Striche, Häkchen oder kleine Kreise, die zu Buchstaben gehören. In der arabischen Schrift unterscheiden sich vierzehn Buchstaben nur durch die Anzahl der darüber oder darunter gesetzten Punkte, so dass ein unpunktierter Text unter Umständen vielfache Deutungsmöglichkeiten zulässt.