"Völlige Rechtsgleichheit für alle Religionen"

Olivier Roy zählt zu den renommiertesten Islamexperten in Europa. Sein neues Buch, "Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen", erscheint demnächst auf Deutsch. Mit Roy hat sich Eren Güvercin über die gegenwärtige Islamdebatte in Europa unterhalten.

Von Eren Güvercin

Die Mehrheit der Schweizer Wähler hat sich unlängst für ein Minarettverbot ausgesprochen, in Frankreich und Belgien diskutiert man das Verbot von Burkas. Auch in Deutschland ist der Islam ein Dauerthema. Was irritiert die Europäer so sehr an religiösen Symbolen oder "fremden" Religionen?

Olivier Roy: Die Debatte in Europa hat sich in den letzten 25 Jahren vom Thema Immigration auf die sichtbaren Symbole des Islam verlagert. Das bedeutet, dass sogar die Gegner der Immigration mittlerweile zugestehen, dass die zweite oder dritte Einwanderergeneration sich hier auf Dauer niedergelassen hat und dass damit auch der Islam in Europa Wurzeln schlägt. Die diesbezügliche Diskussion hat nun eine merkwürdige Wendung genommen: Während die Polemik gegen die Immigration in erster Linie von der konservativen Rechten kam, wird der Islam von rechter wie linker Seite her angegriffen, allerdings mit sehr unterschiedlicher Begründung. Die Rechte findet, dass Europa christlich ist und der Islam als eine zwar tolerierte, aber inferiore Religion behandelt werden sollte. Man gesteht – eher widerwillig – zu, dass der Islam aufgrund der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit nicht verboten werden kann, nimmt aber Möglichkeiten wahr, seine Sichtbarkeit einzuschränken.

So hat sich etwa der Europäische Menschenrechtsgerichtshof nicht gegen das Kopftuchverbot in Frankreich ausgesprochen. Die Linke dagegen plädiert für Säkularismus, Frauenrechte und gegen religiösen Fundamentalismus. Man kritisiert die Verschleierung, nicht weil sie zum Islam gehört, sondern weil man sie als Verstoß gegen die Rechte der Frau empfindet. Deshalb verbirgt sich hinter der Islamdebatte eine wesentlich komplexere Problematik – die Frage nämlich nach der Beschaffenheit einer europäischen Identität und nach der Rolle des Religiösen in Europa. Und obwohl die Rechte und die Linke in dieser Hinsicht sehr unterschiedliche Positionen vertreten, sehen wir nun neue populistische Bewegungen – etwa Geert Wilders' Freiheitspartei in den Niederlanden –, in denen sich die beiden Denkweisen vermischen; es sind Parteien, die grundsätzlich der Rechten zuneigen, aber linke Argumente verwenden.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass ein Fundamentalismus, wie ihn al-Qaida vertritt, mit der islamischen Tradition nichts zu tun habe. Aber in Europa sieht man die fundamentalistische Ideologie gerade als Essenz eines traditionsgebundenen Denkens. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Roy: Der Terrorismus, den al-Qaida praktiziert, ist in der islamischen Geschichte ebenso unbekannt wie in der christlichen. Das ist auf jeden Fall ein neues Phänomen. Und wenn wir seine Manifestationen betrachten – Selbstmordattentate, die Ermordung von Geiseln, das Töten von Zivilisten –, dann sind das Methoden, die in jüngerer Zeit andere Organisationen noch vor al-Qaida zur Anwendung brachten: Die "Tamil Tigers" etwa verübten Selbstmordattentate, italienische Rechtsextreme waren für die Bombenattentate in Bologna vom August 1980 verantwortlich.

Und in den Videoaufnahmen von der Ermordung ausländischer Geiseln durch al-Qaida im Irak gleicht die "Inszenierung" bis ins Detail der Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden: Banner und Logo der Organisation im Hintergrund, die Geisel gefesselt und mit verbundenen Augen, die Durchführung einer "Gerichtsverhandlung" durch die Militanten, dann die Verhängung des "Urteils" und die Exekution. Der Modus Operandi und die Organisationsform von al-Qaida, das zentrale Feindbild des amerikanischen Imperialismus wie auch die auf junge, im Westen ausgebildete Muslime und auf Konvertiten ausgerichtete Rekrutierungspraxis – all das verweist darauf, dass al-Qaida nicht einfach Ausdruck eines traditionellen, ja nicht einmal eines fundamentalistischen Islam ist, sondern vielmehr eine neue Auffassung des Islam im Kleid westlicher, revolutionärer Ideologien.

Wie erklären Sie den Erfolg solcher radikaler Bewegungen oder Ideologien? Ist er wirklich auf Armut und Marginalisierung zurückzuführen?

Roy: Nein. Sämtliche Untersuchungen zeigen, dass keine Korrelation zwischen Armut und Radikalisierung existiert: In den radikalen islamistischen Bewegungen sind viel mehr Saudiaraber aktiv als Bangalen – de facto gibt es kaum Militante aus Bangladesch. Ich halte den gegenwärtigen Konflikt für eine Fortsetzung der alten Konfrontation zwischen antiimperialistischen, von der Dritten Welt ausgehenden Bewegungen, die sich gegen den Westen und spezifisch gegen die USA richten. Bin Laden sagt vergleichsweise wenig über Religion, aber er spricht von Che Guevara, von Kolonialismus, Klimaveränderung . . . Zudem ist al-Qaida ganz klar eine Art Jugendbewegung – sie wird von jungen Leuten getragen, die sich von ihren Familien und ihrem gesellschaftlichen Umfeld abgesetzt haben und nicht einmal an ihrem Herkunftsland interessiert sind.

Es gibt eine erstaunlich große Zahl von Konvertiten unter den al-Qaida-Mitgliedern. Das ist mittlerweile eine anerkannte Tatsache, der aber zu wenig Beachtung geschenkt wird. Die Konvertiten sind Rebellen ohne Ziel und Orientierung, die sich vor 30 Jahren vielleicht der RAF oder den Roten Brigaden angeschlossen hätten, heute wenden sie sich einfach der erfolgreichsten Bewegung auf dem antiimperialistischen Markt zu. Sie stehen immer noch in der Tradition eines mehrheitlich westlichen revolutionären Millenarismus, der sich von der Utopie einer neuen, gerechten Gesellschaft weitgehend abgewandt hat. Die neuen Bewegungen sind zutiefst skeptisch im Blick auf die Möglichkeit, ein ideales Gesellschaftsmodell zu verwirklichen – daher ihre suizidale Dimension, die man auch bei der RAF findet.

Manche Europäer sind der Ansicht, dass im Blick auf das christliche Fundament des Abendlandes alles Islamische in Europa problematisch und artfremd sei. Was halten Sie von dieser Auffassung?

Roy: Sie wird zu einem Zeitpunkt geäußert, da anderseits Papst Benedikt XVI., wie vor ihm schon Johannes Paul II., darüber klagt, dass Europa seine christlichen Wurzeln verleugne und ignoriere. Die Debatte über sexuelle Freiheit, Abtreibung, Gleichberechtigung für Homosexuelle ist keine Konfrontation zwischen Europäern und Muslimen, sondern zwischen Säkularisten – die es auch auf muslimischer Seite gibt – und konservativen Gläubigen, seien sie nun Muslime, Katholiken oder orthodoxe Juden.

Nicht einfach Ausdruck eines traditionellen und fundamentalistischen Islams, sondern auch eine neue Auffassung des Islams im Kleid westlicher, revolutionärer Ideologien: das Terrornetzwerk Al-Qaida

​​Europa ist de facto geteilter Meinung über seine eigene Kultur: Die Säkularisten sehen die Aufklärung und damit verbundene Ideale wie Menschenrechte, Freiheit und Demokratie als eigentliche Geburtsurkunde Europas, während gewisse christlich orientierte Faktionen der Ansicht sind, dass auch Kommunismus, Atheismus und sogar der Nationalsozialismus direkte Folgen der Aufklärung seien.

Droht die Islamfeindlichkeit zu einer europäischen Realität zu werden?

Roy: Auch da stellt sich zunächst die Frage, wie wir den Begriff definieren. Ist Islamfeindlichkeit lediglich eine weitere Form des Rassismus, die sich spezifisch gegen Menschen mit muslimischen Namen richtet – ungeachtet ihres Glaubensverständnisses? Oder ist es die Ablehnung einer Religion? Es gibt militante Antirassisten, die gegen den Schleier sind – etwa unter Feministinnen. Und es gibt Rassisten, denen der Schleier egal ist, weil sie die Muslime ohnehin für grundsätzlich anders halten. Das ist insofern heikel, als zwischen den beiden Faktoren – ethnische Zugehörigkeit und Religion – in der Regel nicht klar genug differenziert wird.

Natürlich stammt die große Mehrzahl der europäischen Muslime ursprünglich aus anderen Kulturen, aber der Konnex zwischen Herkunft und Religion beginnt sich aufzulösen: Es gibt Europäer, die zum Islam, und Muslime, die zum Christentum konvertieren, es gibt atheistische "Araber" und "Türken". Immer mehr Muslime in Europa wollen zwar als Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft wahrgenommen, aber nicht mehr einer außereuropäischen Herkunftskultur zugeordnet werden. Wir müssten zwischen ethnischen und religiösen Gemeinschaften differenzieren, denn dies sind unterschiedliche Phänomene, mit denen auch auf unterschiedliche Weise umgegangen werden muss.

Und wie soll sich die Politik gegenüber diesen aus ihrem kulturellen Umfeld ausgegliederten, "globalisierten" Religionen verhalten?

Roy: Ich denke, dass gerade diese Religionen – und nicht etablierte Institutionen wie die katholische Kirche – derzeit am erfolgreichsten sind. So hat es auch wenig Sinn, dagegen anzukämpfen, insbesondere in Ländern, wo die Religionsfreiheit ein verfassungsmäßiges Recht ist. Hingegen müsste die Trennung von Staat und Religion dahingehend verstärkt werden, dass man allen Religionen völlige Rechtsgleichheit garantiert. Dies allerdings nicht im Sinn eines religiösen "Multikulturalismus", sondern im Blick auf die Konditionen, unter denen eine Glaubensgemeinschaft ihre Rechte ausüben kann – auf eine neutrale und genau definierte Form der Religionsfreiheit im Rahmen der geltenden Gesetze.

In den Medien wird häufig die Dialektik von "liberalem" contra "radikalem" Islam ins Feld geführt. Was ist von dieser Terminologie und der damit verbundenen Wertung zu halten?

Roy: Ich glaube nicht recht daran, dass ein Gläubiger eine "liberale" Auffassung seiner Religion vertreten muss, um ein guter Staatsbürger zu sein. Auch die Forderung nach einer "Reformation" des Islam überzeugt mich nicht. Die Leute, die nach einem "muslimischen Luther" rufen, haben Luther nie gelesen: Er war keineswegs liberal und obendrein ein erklärter Antisemit. Die Einpassung der Muslime in den westlichen Kontext hat nichts mit Theologie zu tun, sondern vielmehr mit der Lebenspraxis und den Anstrengungen jedes Einzelnen. Sie versuchen, ihre Praktiken mit dem westlichen Umfeld in Einklang zu bringen, und das Umfeld bietet ihnen entsprechende Möglichkeiten – sie können beispielsweise lernen, ihre Normen im Kontext moderner Wertvorstellungen neu zu denken. Das kann über kurz oder lang zu einer Art Reform des theologischen Denkens führen, aber grundsätzlich scheint es mir nicht sinnvoll, Modernität mit theologischem Liberalismus in eins zu setzen. So zu denken, hieße, entweder die Geschichte misszuverstehen oder sich reinem Wunschdenken hinzugeben.

Eren Güvercin

© Qantara.de 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de