Globalisierung und kulturelle Abschottung

Der iranische Publizist Navid Kermani hält weite Teile der arabischen Welt längst für globalisiert: Dennoch gehe Globalisierung nicht zwingend mit Demokratisierung in der Region einher. Arian Fariborz hat sich mit ihm unterhalten.

Von Arian Fariborz

 ​​In Ihrem Buch "Schöner neuer Orient" beschreiben Sie die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf Metropolen in der islamischen Welt, wie Karatschi oder Kairo – Wohlstandsghettos inmitten von Stadtvierteln, die von zunehmender Armut und Gewalt geprägt sind und aus denen sich der Staat zunehmend zurückzieht. Ist diese Entwicklung im Orient die zwangsläufige Folge einer krisenhaften Weltökonomie – so wie es Modernisierungstheoretiker, wie Robert Kurz sehen – oder ist sie auch auf das Versagen der Staatsführungen in der islamischen Welt zurückzuführen?

Navid Kermani: Das kommt natürlich beides zusammen und verschärft sich gegenseitig - wobei ich, was die zweite Entwicklung betrifft, es falsch hielte, alles nur den bösen Staatsführungen zuzuschieben. Da sind auch gesellschaftliche Strukturen, geistige Verkrustungen und lähmende Illusionen, die zu der Misere beigetragen haben. Wenn ich nur die Entwicklung auf dem Bildungssektor nehme, dann ist sie in vielen Ländern langfristig viel verheerender, als ein einzelner Diktator es sein könnte. Ich will damit nicht sagen, dass die Staatsführung keine Verantwortung für den Bildungssektor hätte, aber es hat auch mit einem gesellschaftlichen Willen oder Unwillen zu tun, schließlich gibt es auch Gegenbeispiele – positive gesellschaftliche Entwicklungen, gerade auf dem Bildungssektor oder im Bereich der Medien, trotz unfähiger oder repressiver Staatsführungen.

Inwiefern muss die westliche Staatengemeinschaft dringend handeln, um diese Negativentwicklung nachhaltig einzudämmen? (Das sollte schließlich schon in ihrem eigenen Schutzinteresse sein, da die krisenhaften Folgen der Globalisierung in den islamischen Ländern (radikaler Islamismus, Zunahme der Flüchtlingsströme etc.) wieder auf die Zentren der westlichen Welt zurückschlagen.

Buchcover Schöner neuer Orient im Verlag C.H. Beck

Kermani: Die westliche Staatengemeinschaft würde schon viel tun, wenn sie aufhören würde, repressive Regime zu unterstützen. Würde der Westen sich und seine eigenen Werte ernster nehmen, wäre schon viel gewonnen, und das würde auch langfristig dem eigenen, westlichen Interesse dienen – sogar in ökonomischer Hinsicht. Letzten Endes müssen sich die arabischen Gesellschaften allerdings ohnehin selbst befreien und entwickeln. Der Westen kann sehr viel tun, um eine umfassende Demokratisierung zu verhindern, aber umgekehrt kann er sie kaum hervorrufen. Das muss aus den Gesellschaften selbst hervorkommen.

Der iranische Schriftsteller Faraj Sarkuhi begreift die Globalisierung auch als Chance, da sie Menschen, die in einer Diktatur gefangen sind, die Tür öffnet. Die mit der Globalisierung einhergehende Liberalisierung errege nämlich die Diktatoren und religiösen Autoritäten. Der Islam als Staatsideologie wird herausgefordert, schreibt Sarkuhi. Teilen Sie diese Auffassung?

Kermani: Durchaus. Es ist eine sehr ambivalente Entwicklung, und speziell in meinem Buch versuche ich auch eher, genau diese Ambivalenz zu schildern, als klare Lösungsvorschläge zu geben – das könnte ich auch gar nicht, da ich kein Politikwissenschaftler bin. Manchmal äußere ich mich in den Feuilletons dezidiert politisch, aber in meinen Büchern will ich doch vor allem beschreiben und verstehbar machen, was ich gesehen habe.

"Der Westen produziert, wohingegen wir immer nur kopieren und konsumieren", schreibt der ägyptische Professor Hassan Hanafi in einem seiner Aufsätze. Womit erklärt sich diese technologische Rückständigkeit oder "Globalisierungsresistenz" in der arabischen Welt?

Kermani: Das ist eine sehr komplexe Frage, die kaum in wenigen Sätzen präzise zu beantworten ist. Da kommt alles Mögliche zusammen: genau wie Kulturen ihre Blüte nicht von heute auf morgen und nicht nur wegen eines einzigen Grunds haben, so geraten sie auch nicht von heute auf morgen in die Krise. Natürlich spielen äußere Faktoren eine Rolle, man sieht noch ziemlich genau die Spätfolgen des Kolonialismus und die fatalen Folgen der gegenwärtigen westlichen Präsenz und speziell das amerikanische Einwirken im Nahen Osten. Aber das allein erklärt noch nichts, denn Gesellschaften müssen intellektuell und politisch erst einmal so schwach sein, damit sie so sehr von äußeren Einflüssen abhängig werden. Ich halte auch das Wort "Globalisierungsresistenz" für falsch, denn weite Teile der arabischen Welt sind faktisch längst globalisiert – nur gehört zur Globalisierung leider nicht zwingend auch die Demokratisierung. Das ist gerade eine Grundbeobachtung in meinem Buch: dass Globalisierung und kulturelle Abschottung sehr wohl miteinander einhergehen können.

In "Schöner neuer Orient" kommen Sie in der abschließenden Iran-Reportage zu einem ernüchternden Fazit: 23 Jahre nach der Revolution habe sich vor allem die Situation der jüngeren Generation dramatisch verschlechtert. Drogen, Gewalt und Prostitution breiten sich aus, die Sitten verkommen. Ist dieses Bild nicht überzogen oder zu verallgemeinernd – angesichts einer Jugend, die heute im Bereich der Kultur oder des Journalismus an Fortschrittlichkeit und Kreativität ihresgleichen in der islamischen Welt sucht?

Kermani: Wenn das Bild, das durch mein Buch entsteht, so wäre, wie Sie es schildern, wäre das in der Tat überzogen. In dem Kapitel, auf das Sie anspielen, geht es nun einmal um die Drogenprobleme, um Prostitution – auch um Kinderprostitution - um schwere soziale Verwerfungen. Die Entwicklungen hier sind absolut alarmierend. Zugleich sind sie ein Ausschnitt der iranischen Realität. Sie geben jedoch nicht das gesamte Bild wieder – weder in "Schöner neuer Orient", noch in meinem vorher erschienenen Iranbuch, das dem ein oder anderen Kritiker gar zu optimistisch vorkam – obwohl ich das selbst gar nicht so empfunden hatte. Optimismus und Pessimismus sind auch keine Kategorien, die für mich beim Schreiben eine Bedeutung spielen. Ich versuche, eine bestimmte Realität – sei es in einem Land oder in einem Stück Literatur oder in Musik – gerade in ihrer Komplexität zu erfassen. Die Schlüsse überlasse ich dem – hoffentlich – verwirrten Leser.

Interview: Arian Fariborz

© Qantara.de 2003

Der Publizist und Islamwissenschaftler Navid Kermani erhielt 2000 erhielt den Ernst-Bloch-Förderpreis der Stadt Ludwigshafen. Zu seinen weiteren Publikationen zählen u.a.: "Dynamit des Geistes" – Martyrium, Islam und Nihilismus sowie "Iran. Die Revolution der Kinder".