Pakistans vorhersehbare Tragödie

Im Interview mit Claudia Kramatschek spricht Nadeem Aslam über sein Geburtsland Pakistan, die Militärherrschaft Zia ul-Haqs und seinen letzten Roman über Afghanistan zur Zeit der sowjetischen Invasion.

Nadeem Aslam; Foto: © Robin Farquhar Thomson
Nadeem Aslam: "Wenn eine Nation ihre Vergangenheit vergisst, oder versucht, diese zu vergessen oder gar auszuradieren, dann wird sie früher oder später unter einem Trauma leiden"

​​Die Ära Zia ul-Haq spielt in Ihrem neuen Roman eine indirekte Rolle, da er verantwortlich war für die unglückselige Verstrickung Pakistans in den Krieg um Afghanistan, der die Welt bis heute in Atem hält. Ihre Familie musste unter seiner Herrschaft Pakistan verlassen – war dies auch für Ihr Leben ein entscheidender Moment?

Nadeem Aslam: Ich könnte nicht hier sitzen und mit Ihnen sprechen, wenn das Regime Zia ul-Haqs nicht entschieden hätte, die Mudschaheddin in Afghanistan zu unterstützen. Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, wurde vom CIA und der amerikanischen Regierung beschlossen, Milliarden von Dollar und Waffen über Pakistan nach Afghanistan einzuschleusen, um den Kampf der Mudschaheddin gegen die Sowjets zu unterstützen. Und es gab Leute in Pakistan, die schon damals warnten: "Unterstützt dieses dschihadistische Denken nicht." Denn was wird mit den Waffen passieren, wenn die Sowjets einmal nicht mehr da sind?

Für Menschen wie meinen Vater und meinen Onkel wurde es schlimm. Mein Onkel wurde abgeholt. Und als man ihn uns wieder übergab, war er ein gebrochener Mann. Wir mussten Pakistan verlassen.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Herrschaft Zia ul-Haqs?

Aslam: Ich erlebte, wie sich Pakistan innerhalb von drei oder vier Jahren grundlegend veränderte. Ich weiß also wie einfach es ist, eine Gesellschaft unter beständiger Androhung von Gewalt auf den Kopf zu stellen. Gehörte es etwa zur Kultur des Landes, Menschen auf der Straße mit Peitschen zu traktieren? Aber genau so war das Regime Zia ul-Haqs. Und natürlich hatten die Menschen Angst. Man konnte einfach nichts tun. Alles wurde sofort mit den Taliban in Verbindung gebracht. Deshalb müssen Autoren und andere Künstler diese Dinge immer im Auge behalten.

Für mich stellte die Literatur immer einen öffentlichen Akt dar, ein Kommentar zum Tagesgeschehen. Im Westen ist es möglich, ein mehr oder weniger anständiges Leben zu führen, wenn man sich überhaupt nicht für Politik interessiert. In Pakistan ist man automatisch ins politische Geschehen involviert. Selbst als ich noch ein Kind war – mit 14 Jahren ist man ja eigentlich noch ein Kind – war auch ich in Gefahr, nur weil mein Vater etwas mit Politik zu tun hatte! Sie hätten mich entführen können, nur um meinen Vater zu zwingen, dass zu tun, was sie von ihm verlangten. Ob man es also wollte oder nicht, die Politik war immer präsent.

Die Ära Zia ul-Haq taucht nun in Romanen auf, die von pakistanischen Autoren auf Englisch geschrieben werden. Ihr neuester Roman kreist politisch wie historisch um den noch immer aktuellen Krieg in Afghanistan und spannt einen Bogen von der sowjetischen Invasion bis zum Einmarsch der Amerikaner in der Folge des 11. September. Was inspirierte Sie zu diesem Roman?

Aslam: Als ich Atlas für verschollene Liebende schrieb, hatte ich bereits die afghanische Story im Kopf. Der Bürgerkrieg hatte begonnen. Die Sowjets waren nicht mehr da, die Waffen bekamen die Warlords, die sich fortan gegenseitig bekämpften, und das ohne Rücksicht auf jeden, der im Weg war, also das afghanische Volk. Tausende starben, doch wir bekamen ja, was wir wollten: Die Sowjets waren besiegt, die Sowjetunion lag im Sterben und die Berliner Mauer fiel in sich zusammen, oder nicht?

Zehn Jahre lang – die Zeit, in der ich den Atlas für verschollene Liebende schrieb – machte ich mir Notizen und aktualisierte meine Geschichte immer weiter. Und als ich mir diese Notizbücher wieder vornahm, als ich Das Haus der fünf Sinne schrieb, konnte ich alles buchstäblich vor meinen Augen vorbeiziehen sehen: Den Aufstieg der Taliban, der Aufstieg der Al-Qaida, die ersten Angriffe auf das US-amerikanische Kriegsschiff USS Cole in Beirut und die Attacken auf die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi.

Mudschaheddin in Afghanistan; Foto: Wikipedia
Pioniere für die Ausbreitung des Fundamentalismus in der gesamten islamischen Welt: die Mudschaheddin wurden während der sowjetischen Okkupation Afghanistans in den 1980er Jahren in Trainingscamps der CIA ausgebildet und mit modernster Waffentechnologie versorgt.

​​Wie konnten wir nicht vorhersehen, dass dies alles passieren würde? Dabei ist doch die Geschichte der letzten 30 bis 35 Jahre in meiner Weltregion sowie die Art und Weise, wie sie durch Al-Qaida mit dem Westen verbunden ist, so vorhersehbar. Niemand hätte das erfinden können. Schauen Sie sich an, wie damals, in den 1980er Jahren, während des "CIA-Dschihads" gegen die Sowjetunion, der Koran ausgerechnet in Berlin ins Usbekische übersetzt wurde – mit Hilfe eines CIA-Experten. Dann wurde der Text, wiederum von der CIA, nach Pakistan gesandt, von wo aus er, auf dem Rücken von Mauleseln, nach Usbekistan geschmuggelt wurde.

Stellen Sie sich dieses Bild doch nur einmal vor! Die CIA ging tatsächlich zu den Usbeken und sagte: "Ihr seid doch Muslime, kämpft gegen die Ungläubigen, hier ist euer Heiliges Buch, in dem steht, dass Ihr dazu verpflichtet seid."

30 Jahre später werfen die USA nun Bomben in einer Stammesregion Pakistans namens Waziristan ab, wo die meisten Al-Qaida-Terroristen Usbeken sind. Noch einmal: Was glauben Sie, wird danach passieren? Für einen Romanschriftsteller ist es schon fast peinlich, eine solch vorhersehbare Geschichte schreiben zu müssen.

Der Roman ist ein Panorama all jener Kräfte, die am Schicksal Afghanistans beteiligt sind: die Russen, der Westen (insbesondere die USA), die iranischen Mullahs, die Warlords, die Taliban.

​​Aslam: Die Reaktionen auf mein Buch überraschen mich noch immer. Letztes Jahr hielt ich eine Lesung in New York. Jemand stand dort auf und rief "Wie können Sie es wagen! Sie sind anti-amerikanisch und sind für die Gewalt des Dschihad!" Nur eine Woche später war ich in Pakistan auf einer Lesung und jemand stand auf und beschimpfte mich "Wie können Sie es wagen! Sie sind pro-amerikanisch und gegen den Islam!" In der darauf folgenden Woche war ich in Indien. Und in Neu-Delhi gab es eine Gruppe kommunistischer Studenten, die aufstanden und sagten "Wie können Sie es wagen, solche Dinge über den Kommunismus zu sagen!" Alles, was ich im Roman schrieb – darin kommt ein Kommunist, ein Amerikaner, ein engstirniger Muslim und ein moderater Muslim vor – wiederholte sich auf anderer Ebene in der Realität.

Dabei wollte ich doch, dass die Menschen sich über all diese Kategorisierungen hinausbewegen. Mein ganzes Leben habe ich diese Dinge abgelehnt, die Idee des Nationalismus, eigentlich auch die Idee jedweder Ideologie. Ich bin fest davon überzeugt, dass uns ein großes Grauen erwartet, wenn wir diese Dinge nicht im Auge behalten und ernst nehmen.

Zwei Symbole, die das Buch strukturieren, scheinen dies widerzuspiegeln – das eine ist ein Buddhakopf, versteckt im Fundament einer zerstörten Parfümfabrik und in der Nähe vom Haus des Erzählers, Marcus, gelegen. Das andere ist das Haus selbst: Das Haus der fünf Sinne, in dem die Geschichte spielt.

Aslam: Im März 2001, just an dem Tag, als die Buddhas von Bamiyan in die Luft gesprengt wurden, kommen die Taliban ins Haus. Sie sehen den Buddha und wollen ihn zerstören, zur gleichen Zeit, wie auch die Buddhas im Bamiyan-Tal. So beginnen sie, Sprengstoff um ihn herum zu stapeln, als er plötzlich anfängt, flüssiges Gold zu bluten, die Taliban rennen schließlich davon. Dies war mein Kommentar zu den Geschehnissen im Bamiyan-Tal: Dieser Buddha hier überlebt, in der Vorstellung dieses Autors, dieser Person. Damit verurteile ich die Radikalen.

Afghanistan war vor dem Islam ein buddhistisches Land. Auf diese Weise versuche ich, an Afghanistans Vergangenheit zu erinnern. Wenn man als menschliches Wesen die Vergangenheit vergisst, stimmt psychologisch etwas nicht. Und wenn eine Nation ihre Vergangenheit vergisst, oder versucht, diese zu vergessen oder gar auszuradieren, dann wird sie früher oder später unter einem Trauma leiden.

Interview: Claudia Kramatschek

© Qantara.de 2010

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Qantara.de

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