Der Glaube an die eigene Stärke

Im Gespräch mit Katajun Amirpur berichtet der iranische Reformtheologe Mohsen Kadivar über den gegenwärtigen Zustand der "grünen Protestbewegung" im Iran und die jüngste Erklärung der iranischen Intellektuellen.

Dr. Mohsen Kadivar, iranischer Theologe, Quelle: Diplomasi Iran/DW
Der 1959 in der südiranischen Stadt Schiraz geborene Kadivar war ein Schüler von Groß-Ayatollah Hossein Ali Montazeri, dem geistigen Mentor der so genannten "grünen Bewegung"</wbr>.

​​ Anfang Januar gaben fünf iranische Intellektuelle, unter ihnen Kadivar, eine Erklärung heraus, um die Ziele der Bewegung zu formulieren. Sie erschien wenige Tage nachdem Mir Hossein Mussawi, der Herausforderer Ahmadinedschads bei den Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Jahr, eine Erklärung verfasst hatte, die jedoch von verschiedenen Kommentatoren und Oppositionellen im Ausland als "Zurückweichen" kritisiert worden war (Auszüge der Erklärung siehe Kasten).

* * *
Herr Kadivar, welche Absicht stand hinter der Erklärung der iranischen Intellektuellen?

Mohsen Kadivar: Diese Erklärung ist im Hinblick auf das, was im Iran zurzeit möglich ist, geschrieben worden. Wir haben versucht, den Fehler zu umgehen, dem die meisten Iraner, die im Ausland sind, aufsitzen. Dieser Fehler ist, dass einige Landsleute, die seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr im Iran leben, nicht beachten, ob etwas, was ihrer Meinung gut ist, erstens auch von der Mehrheit der Iraner so gewollt wird und zweitens im Iran auch derzeit realistisch umsetzbar ist.

Dann sind Sie also nicht für eine Revolution?

Kadivar: Die Mehrheit der Iraner verspürt keinen Wunsch nach einer zweiten Revolution, dreißig Jahre nach der letzten. Stattdessen wollen die meisten Iraner institutionelle und grundlegende Veränderungen des Systems. Deshalb können wir diese Bewegung als eine Reformbewegung bezeichnen, deren Ziele zwar revolutionär sind, die aber absolut gewaltfrei, behutsam und im Rahmen der bestehenden Gesetze agiert.

Auszug aus der Erklärung der iranischen Intellektuellen

  • Rücktritt Ahmadinedschads und Neuwahlen unter Aufsicht unabhängiger Organe und der Bildung einer unabhängigen Wahlkommission, die Mitglieder der Opposition einschließt.
  • Freilassung aller politischer Gefangene und Untersuchung aller Fälle von vermuteter Folter und Vergewaltigung durch ein öffentliches und faires Gerichtsverfahren.
  • Pressefreiheit und vollständige Aufhebung der Zensur
  • Akzeptanz des Rechts auf freie Aktivität für alle politischen Parteien, die Studenten- und Frauenbewegungen, die NGOs und des Rechts auf friedliche Versammlung und Protest.
  • Unabhängigkeit der Universitäten. Zudem müssen alle bewaffneten Einheiten die Universitäten verlassen und der Rat für Kulturrevolution abgeschafft werden.
  • Strafrechtliche Verfolgung jener, die in Folter und Morde verwickelt sind, vor allem während der letzten Monate.
  • Herstellung einer unabhängigen Justiz, indem deren Führung gewählt wird und ungesetzliche Sondergerichtshöfe abgeschafft werden.
  • Entfernung des Sicherheitsapparates und der bewaffneten Einheiten aus der politischen, ökonomischen und kulturellen Sphäre.
  • Wahrung der finanziellen und politischen Unabhängigkeit der Geistlichkeit und Verhinderung ihrer Verstaatlichung.
  • Wahl und Begrenzung der Amtszeit aller hochrangigen Amtsträger. Sie müssen Rechenschaft ablegen und sich der Kritik stellen.
  • Unterzeichner: Abolali Bazargan, Akbar Gandschi, Mohsen Kadivar, Abdolkarim Soroush, Ataollah Mohadscherani

    Deshalb haben wir in dieser Erklärung sehr stark auf die Verfassung der Islamischen Republik geachtet. Wir haben versucht, die Bereiche der Verfassung zu nehmen, die mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und mit den Prinzipien der Demokratie übereinstimmen und sie zu betonen. Und dort, wo vom Regime eine diktatorische Interpretation der Verfassung gegeben wird, wollen wir zeigen: Es gibt auch eine demokratische Lesart dieser Verfassung.

    Demonstration der grünen Protestbewegung; Foto: AP
    Hoffnung auf einen friedlichen Wandel: "Wer sagt, die Iraner wollten jetzt einen revolutionären Umsturz, der kennt sein Land nicht", meint Mohsen Kadivar.

    ​​Und wie soll das gehen, wenn die Verfassung ein Organ vorsieht, wie den Wächterrat, das alle Gesetzesentwürfe mit dem Verweis darauf ablehnen kann, dass sie nicht mit dem Islam vereinbar sind? Das ist unter dem reformorientierten Parlament mit neunzig Prozent aller Gesetze passiert beispielsweise mit dem Gesetz zum Beitritt von CEDAW ("Convention against all Discrimination against Women"), dessen Beitritt das Parlament beschlossen hatte, das aber sofort vom Wächterrat kassiert worden ist?

    Kadivar: Wenn es einen Wächterrat geben würde, der vom Volk gewählt wird, dann gebe es das Problem, das Sie beschreiben, nicht. Wir haben versucht, uns im Rahmen der Verfassung zu bewegen. Es sind Minimalforderungen, aber sie sind immerhin praktikabel.

    Aber wenn es möglich sein sollte, den Wächterrat, der alle Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Islam überprüft, vom Volk wählen zu lassen, dann müsste dem Volk doch auch die Frage vorgelegt werden können, ob es überhaupt einen solchen Wächterrat noch für richtig hält.

    Kadivar: Das ist theoretisch möglich. Aber in unserer Deutung ist der Wächterrat ohnedies nur eine Art Verfassungsgericht.

    Ist die von Ihnen herausgegebene Erklärung eine Reaktion auf die Erklärung von Mir Hossein Mussawi?

    Kadivar: Nein, unsere Erklärung ist nur sehr zeitnah zu der von Mussawi herausgekommen, aber das ist Zufall. Der erste Entwurf unserer Erklärung ist aber drei Tage vor der Erklärung Mussawis geschrieben worden. Aber im Grunde sagen und fordern beide Erklärungen dasselbe. Wir sind also völlig einverstanden mit dem, was auch Mussawi fordert.

    Wir alle haben diese Erklärungen abgegeben, um zu zeigen: Man kann diese Bewegung vorantreiben und voranbringen, ohne radikal zu werden, ohne den Radikalismus, den wir hier im Ausland dauernd hören und natürlich auch von einigen Jugendlichen auf Teherans Straßen. Und in unserer Erklärung findet sich deshalb kein Punkt, den das iranische Regime missbrauchen und gegen uns wenden könnte. Wir glauben, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt, in der gegenwärtigen Situation das Bedürfnis der meisten Iraner nicht ein Umsturz ist. Wer sagt, die Iraner wollten jetzt, im Moment einen revolutionären Umsturz, der kennt sein Land nicht.

    Aber gehen denn die Demonstranten in ihren Forderungen nicht längst viel weiter als Mir Hossein Mussawi?

    Kadivar: Nein, das glaube ich nicht. Natürlich gibt es angesichts der massiven staatlichen Gewalt Radikalisierungen, gerade unter den Jugendlichen. Die Mehrheit der Menschen und auch der Demonstranten steht aber immer noch hinter Mir Hossein Mussawi, unserem gewählten Präsidenten, mit dem wir auf diesem Weg vorangehen werden.

    Wenn er ihr gewählter Präsident ist, was war dann ihr Anlass, eine Erklärung abzugeben? Muss er nicht die Ziele der Bewegung formulieren?

    Kadivar: Mussawi ist im Iran und alle seine Berater sind im Gefängnis. Er ist allein. Deshalb wollten wir, um ihn zu unterstützen, im Ausland eine Art think tank eröffnen. Denn das, was früher sein think tank war, hat das Regime ins Evin-Gefängnis verlegt. Wir wollten dem Regime nur zeigen: Wenn ihr den einen think tank lahm legt, dann machen wir eben im Ausland einen neuen. Und wir können einige Dinge klarer formulieren. Mussawi unterliegt im Iran großen Beschränkungen.

    Akbar Gandschi, der diese Erklärung auch unterzeichnet hat und als ein radikaler Säkularist gilt, der sogar vor fünf Jahren zum völligen Boykott der Wahlen aufgerufen hat, sagte vor kurzem dem persischsprachigen Dienst der BBC, dass die Bewegung keinen im Ausland sitzenden Führer brauche. Ist das auch Ihre Meinung? Es könnte ja auch helfen.

    Kadivar: Das ist auch meine Meinung. Wir haben jemanden, der diese Bewegung anführt. Außerdem muss der Führer dieser Bewegung im Iran sein.

    Mir Hossein Mussawi; Foto: AP
    Hoffnungsträger der Opposition, Motor der "grünen Protestbewegung": Mir Hossein Mussawi

    ​​Könnte die Lage in Iran auch eskalieren? Könnte es zu einem neuen Blutvergießen kommen wie Said Montazeri, der Sohn von Groß-Ayatollah Montazeri, befürchtet?

    Kadivar: Das ist unsere größte Sorge und es ist eine reelle Gefahr. Deshalb müssen wir behutsam vorgehen.

    Was war der größte Fehler des Regimes?

    Kadivar: Den größten Fehler hat Ali Khamenei begangen, als er diese Wahl anerkannt hat. Den zweiten hat er begangen, als er kein unabhängiges Schiedsgericht zugelassen hat. Den dritten, als er das Blut Unschuldiger vergossen hat. Auch nach der Verfassung zählt das Demonstrieren zu den Grundrechten der Bevölkerung. Doch das Regime der Islamischen Republik hat die friedliche Demonstration der Bevölkerung in eine Schießerei verwandelt.

    Und sie lügt: Denn was an Ashura passiert ist, war der brutale Angriff der Sicherheitskräfte auf eine friedliche, religiöse Prozession. Niemand hat auf Seiten der Demonstranten die religiösen heiligen Werte beleidigt, wie das Regime behauptet. Das behaupten sie nur, weil sie sich selber für heilig halten und deshalb in dem Ruf "Nieder mit dem Diktator!", mit dem die Menschen Khamenei meinen, eine Beleidigung der heiligen Werte sehen.

    Aber an Herrn Khamenei ist nichts heilig und der, welcher uns heilig ist, nämlich Imam Hossein, hat niemand beleidigt. Hinzu kommen die Morde in den Gefängnissen und die Folter.

    Der fünfte Fehler, den Herr Khamenei begangen hat, ist, dass er nicht bedenkt, dass er das Land den Sicherheitskräfte ausliefert. Es heißt, die Geistlichen würden das Land regieren. Aber Fakt ist, dass nur ein ganz kleiner Prozentteil der Geistlichen das Land regiert (und selbst bei denen ist im Moment auch nicht klar, ob sie das auch wirklich tun oder ob das Land nicht schon längst von den Sicherheitskräften übernommen worden ist). Unsere Angst ist, dass eine nicht näher definierte Militärregierung im Moment das Land regiert.

    Wie denken Sie über die Zukunft Irans und die Perspektiven der Reformbewegung – kurzfristig und langfristig?

    Ausschreitungen am Ashura-Tag in Teheran; Foto: AP
    Gegengewalt als Antwort auf staatliche Gewalt: Allein im Verlauf der letzten schweren Unruhen am Ashura-Tag vom vergangenen Dezember kamen mindestens acht Menschen ums Leben.

    ​​ Kadivar: Ich bin sehr optimistisch. In den letzten Monaten sind Dinge im Iran geschehen, die in den letzten dreißig Jahren nicht passiert sind. Ein Ergebnis der "grünen Bewegung" war dieses: Zuvor war es eine bestimmte Schicht, die die Herrschenden kritisierte: es war die Elite, die Intellektuellen. Inzwischen tun das alle. Das Wissen um die Vergehen und Gesetzesverstöße der Islamischen Republik ist etwas, was jetzt die Masse der Bevölkerung erreicht hat. Es ist allen zu Bewusstsein gekommen.

    Das ist das eine. Das andere ist: Die Menschen haben zu einem Glauben an ihre eigene Stärke gefunden. Dass sie jetzt sagen: "Wir sind alle zusammen! Lasst uns keine Angst haben" – wie man dauernd auf Teherans Straßen und in den Universitäten hört. Zusammen zu sein - das ist etwas Neues: Früher hatten sie Angst. Jetzt sind sie mutig geworden, dieser Mut ist viel wert. Und das dritte ist, dass die Technologie dem Protest der Iraner zur Hilfe gekommen ist: Früher beging das Regime Verbrechen und keiner bekam es mit.

    Heute wird davon ein Handy-Film gemacht und innerhalb weniger Stunden erfährt durch youtube die ganze Welt davon. Wenn heute ein Polizeiwagen in die Menge rast und Menschen tötet, dann kann der Polizeichef noch so lange leugnen, dass das passiert ist. Es gibt einen Film davon und damit sind die Verbrechen der Islamischen Republik aktenkundig; die Verbrechen des tyrannischen Regimes der Islamischen Republik.

    Deshalb glaube ich, dass längerfristig die "grüne Bewegung" siegen wird. Längerfristig. Aber was den kurzfristigen Erfolg anbelangt: Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Das Regime der Islamischen Republik ist nicht abhängig vom Geld des Volkes. Deshalb ist es auf dem Ohr taub und hört nicht auf den Protest des Volkes. Das Regime gründet auf Öl.

    Dieses Öl ist deshalb im Moment eines der Feinde des iranischen Volkes, denn durch den Verkauf des Erdöls kann das Regime alles tun, was ihm passt. Andererseits hat sich das Regime in eine ausweglose Lage hineinmanövriert, insofern könnten wir auch in kürzerer Zeit siegreich sein. Aber ich rede hier nicht von Tagen oder Wochen. Ich spreche von dem Jahr, das vor uns liegt: Wenn die Bewegung und ihre Führer weiterhin besonnen und Schritt für Schritt vorgehen, könnten wir in diesem Jahr Erfolge haben. Wir machen Fortschritte, langsam, aber der Sieg ist sicher.

    Interview: Katajun Amirpur

    © Qantara.de 2010

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