Kampf um Symbole

Sowohl in Europa als auch in arabischen Ländern wird eifrig über Sinn und Unsinn des Gesichtsschleiers gestritten. Für den mauretanischen Religionshistoriker und Islamgelehrten Mohamed El-Moctar hat er mit dem Islam nichts zu tun. Stephanie Doetzer traf ihn in Doha.

Mohamed El-Moctar; Foto: Stephanie Doetzer
"Salafitisches Denken ist nicht die Art von Denken, die der islamischen Welt helfen würde, sich zu weiterzuentwickeln. Aber es ist ein Mechanismus der kulturellen Selbstverteidigung", sagt El-Moctar.

​​ Wer im Internet nach islamischen Rechtsgutachten zum Gesichtsschleier sucht, der wird zugeschüttet mit ganz unterschiedlichen Meinungen: Die einen sagen, der Niqab sei zwar keine Pflicht, aber doch gut, die nächsten halten ihn für eine unislamische Modeerscheinung, und wieder andere behaupten, ein Hijab ohne Niqab wäre nicht komplett... was meinen Sie dazu?

Mohamed El-Moctar: Wenn man sich auf die Quellen des islamischen Rechts beruft, dann gibt es keinen Zweifel: Der Niqab ist absolut keine religiöse Pflicht. Gesichtsschleier waren in vorislamischer Zeit eine Sitte mancher Gesellschaften, in denen sich der Islam ausgebreitet hat – und zwar in jenen Gegenden, wo eine Gesichtsbedeckung wegen der Wüste und der Sonne einfach praktisch war. Man denke nur an die Tuareg in Nordafrika – und da sind es die Männer, die einen Gesichtsschleier tragen.

Das heißt, der Niqab hat Ihrer Ansicht nach mit dem Islam überhaupt nichts zu tun?

El-Moctar: Der Islam hat den Niqab nicht verboten – außer für die Pilgerreise nach Mekka. Dazu gibt es Hadithe, die den Gesichtsschleier explizit verbieten. Das sagt viel aus: Gesichtsbedeckung ist nicht erlaubt, obwohl bei der Hajj drei Millionen Männer und Frauen nahe beieinander stehen. Sollte der Niqab tatsächlich eine religiöse Pflicht sein, dann würde so ein Verbot wohl kaum Sinn machen.

Grundsätzlich aber gilt: Der Islam hat die Sitten und Gebräuche der Leute, die die Religion angenommen haben, nicht einfach abgeschafft – diejenigen, die sich damals dem Islam angeschlossen haben, haben im Normalfall ihre Kultur behalten. Deshalb ist der Islam in Nordafrika ja auch ein anderer als in den Golfstaaten und dort wieder anders als in Südostasien.

Und der Gesichtsschleier bedeutet in Katar offensichtlich etwas anderes als in Syrien und dort wieder etwas anderes als in Deutschland. In Katar fällt damit niemand auf, aber wer in einer deutschen Fußgängerzone die Aufmerksamkeit auf sich ziehen will, der braucht nur einen Gesichtsschleier tragen...

El-Moctar: Eben. In den Golfstaaten respektiere ich den Niqab als eine Tradition der Gegend und als eine individuelle Entscheidung. Niemand kann den Leuten vorschreiben, wie sie ihre Religion zu leben zu haben. Aber man darf nicht vergessen, dass der Gesichtsschleier in den meisten islamischen Ländern nicht üblich ist. Ich komme selbst aus Mauretanien, einem sehr religiösen Land – aber das erste Mal, dass ich eine Frau mit Niqab gesehen habe war 1997 im Jemen! Dort ist das ganz normal, aber in Europa fällt es natürlich auf. Und grundsätzlich gilt im Islam: Niemand, egal ob Mann oder Frau, sollte Kleidung tragen, die stark vom Üblichen abweicht und besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Warum gibt es dennoch unter Muslimen so viele unterschiedliche Meinungen zum Gesichtsschleier? Es sieht ja nicht so aus, als ob irgendein Konsens in Sicht ist.

El-Moctar: Es gibt unterschiedliche Meinungen, aber für drei von vier Rechtsschulen – Maliki, Hanafi und Schafi'is – ist der Gesichtsschleier definitiv keine Pflicht. Innerhalb der vierten Rechtsschule, Hanbali, da gibt es die Auffassung, dass der Gesichtschleier Pflicht ist. Diese Lesart war ursprünglich auch unter den Hanbalis nur die einer Minderheit – aber heute ist sie in dieser Rechtsschule zur dominanten Meinung geworden. Allerdings wirklich nur in einer der vier Rechtsschulen.

Zwei Niqab-Trägerinnen in einer amerikanischen Donut-Kette in Doha; Foto: dpa
"Ich bin eindeutig gegen ein gesetzliches Verbot des Niqab. Falls die europäischen Regierungen sich aber dazu entschließen, dann sollten Muslime das einfach akzeptieren. Ohne Protest", sagt El-Moctar.

​​ Dennoch breitet sich der Niqab ganz offensichtlich aus. Bis vor einigen Jahren sah man in Kairo oder Damaskus so gut wie nie eine komplett verhüllte Frau, heute ist der Niqab Teil des Straßenbildes.

El-Moctar: Ja, das stimmt. Und es zeigt, dass bestimmte Denkschulen innerhalb der islamischen Rechtssprechung immer mehr Einfluss gewinnen – insbesondere die Salafiten. Der Niqab ist ein Ausdruck davon.

Woran liegt das?

El-Moctar: Immer wenn Muslime in eine Krisenzeit geraten, wenden sie sich verstärkt der hanbalitischen Rechtsschule zu. Es war der französische Orientalist Henry Laoust, der das als erster so formuliert hat und ich denke, er hat Recht. Die Hanbaliten stehen für eine strenge, sehr wörtliche Interpretationen des Islams. Und wenn die Zeichen der Zeit auf Krise und Verfall hindeuten, dann neigen religiöse Menschen oft dazu, in den legalistischen, rein formalen Aspekten der Religion Zuflucht zu suchen.
Regeln werden dann wichtiger als die Essenz des Glaubens, Äußerlichkeiten wichtiger als Ethik.

Und gleichzeitig wird die Religion zu einem Identitätsmarker?

El-Moctar: Ja, die Hinwendung zur hanbalitischen Rechtsschule hat auf jeden Fall auch mit der derzeitigen Fixierung auf Identitätsfragen zu tun. Muslime stecken in einer Identitätskrise – und die europäischen Gesellschaften ebenfalls. Beiden wissen gerade nicht so recht, wer oder was sie sind und verkrampfen sich. Aber Identität braucht Flexibilität. Man kann doch gleichzeitig Franzose, Muslim und Europäer sein. Oder Araber, Christ und Syrer. Das Problem beginnt da, wo versucht wird, Menschen auf eine einzige Gruppenzugehörigkeit zu reduzieren.

Ist das etwas, was die Salafiten versuchen?

El-Moctar: Genau. Und manche Europäer machen genau das gleiche, immer dann, wenn sie von Muslimen verlangen, sich zwischen ihrer islamischen und ihrer europäischen Identität zu entscheiden. Salafitisches Denken ist nicht die Art von Denken, die der islamischen Welt helfen würde, sich zu weiterzuentwickeln.

Aber es ist ein Mechanismus der kulturellen Selbstverteidigung. Das gab es schon einmal während der Kreuzzüge, dann wieder während des Einmarschs der Mongolen – und leider heute wieder. Die Muslime werden zunehmend starrer im Denken, weniger offen, weniger selbstbewusst. Ich denke, solche Mechanismen sind überall dort zu beobachten, wo sich eine Gemeinschaft von Menschen angegriffen und bedroht fühlt. Ich habe vor und nach dem 11. September in den USA gelebt und da stelle ich genau das gleiche fest: Die Amerikaner sind seit den Angriffen viel weniger tolerant und viel nervöser geworden. In Europa gibt es ähnliche Tendenzen, wenn auch auf andere Weise. Die Leute haben Angst, dass Europa nicht mehr das Europa ist, das sie kennen.

Und in der islamischen Welt wiederum fühlen sich die Menschen in jeder Hinsicht bedroht. Der Niqab ist ein Ausdruck davon. Ich hoffe, dass wir, sobald der Druck von Außen nachlässt, wieder mehr Selbstvertrauen entwickeln – und dadurch auch wieder offener werden.

Verschiedene Formen der weiblichen Verhüllung im Islam; Foto: AP/DW
Verschiedene Formen der weiblichen Verhüllung im Islam: "Der Westen und die islamische Welt führen einen Krieg über Symbole – statt jene wirklichen Probleme anzugehen, die das Leben vieler Menschen beeinträchtigen", meint El-Moctar.

​​ Wenn es sich um eine Reaktion auf Druck von Außen handelt, dann hieße das, dass muslimischer Extremismus oft von genau denen angeheizt wird, die behaupten, den Extremismus bekämpfen zu wollen...

El-Moctar: Ja, es ist ein Teufelskreis. Je mehr der Druck von Außen zunimmt, umso mehr Muslime wenden sich tatsächlich dem Extremismus zu. Es wäre viel klüger, es einfach den muslimischen Gelehrten zu überlassen, ihre Gemeinschaften davon zu überzeugen, dass der Niqab keine religiöse Notwendigkeit ist. Stattdessen bewirkt die europäische Debatte, dass die Leute noch sturer werden. Sie führt dazu, dass auch Muslime, die eigentlich gar nichts vom Niqab halten, sich mit den Frauen solidarisieren, weil sie solche Gesetzte nur als einen weiteren Beweis für den Hass des Westens auf den Islam auffassen.

Viele Prediger in allen möglichen Ländern sagen jetzt zu ihren Leuten: "Schaut, diese muslimischen Frauen werden in Europa wegen ihres Glaubens verfolgt!" Das führt zu exakt der Art von Diskurs, den wir wirklich nicht brauchen.

Aber was würden Sie muslimischen Frauen in westlichen Ländern sagen, die darauf bestehen, den Niqab zu tragen? Niqabi-Foren im Internet sind voll solcher Statements.

El-Moctar: Ich sage ihnen, dass es keine schlaue Entscheidung ist. Ich habe zehn Jahre in den USA gelebt und ich glaube, dass Muslime sich auf die Kultur, in der sie leben, einstellen müssen. Es bringt doch nichts, sich an so nebensächliche Themen zu klammern. Wenn es Differenzen mit westlichen Gesellschaften gibt, dann doch bitte zu relevanten Themen – nicht zu so etwas wie dem Niqab oder irgendwelchen Karikaturen.

Also würden Sie sagen, es ist keine große Sache, wenn westliche Regierungen sich für ein Verbot entscheiden?

El-Moctar: Objektiv gesehen hat eine Regierung das Recht, aus Sicherheitsgründen solche Entscheidungen zu treffen. Wir leben leider in einem Kontext, in dem wir die Folgen des 11. September tragen müssen. Ob das Sicherheitsargument ehrlich gemeint ist, das ist eine andere Frage.

Die wirkliche Gefahr aber liegt woanders: Der Westen und die islamische Welt führen einen Krieg über Symbole – statt jene wirklichen Probleme anzugehen, die das Leben vieler Menschen beeinträchtigen. Mit wirklichen Problemen meine ich etwa die weltweite Wirtschaftskrise oder die Tragödie des israelisch-palästinensischen Konflikts. Indem wir über Symbole streiten, lenken wir uns ab von all den Themen, auf die es ankommt.

Zwei Niqab-Trägerinnen beim Einkaufen in Doha; Foto: Stephanie Doetzer
"Wenn es Differenzen mit westlichen Gesellschaften gibt, dann doch bitte zu relevanten Themen – nicht zu so etwas wie dem Niqab oder irgendwelchen Karikaturen", meint El-Moctar.

​​ Was wäre Ihre Empfehlung für beide Seiten?

El-Moctar: Der algerische Philosoph Malik Bennabi hat einmal gesagt: Manche Europäer spielen mit den Muslimen eine Art Stierkampf, sie wedeln mit einem roten Tuch – und die Muslime drehen durch. Wenn ein einzelner Journalist die ganze muslimische Welt wütend machen kann, dann heißt das, dass wir einfach nicht reif und reflektiert genug sind. Wir reagieren, statt zu agieren. Das gilt auch für die Europäer: Es macht für ein europäisches Parlament schlicht keinen Sinn, über den Niqab zu diskutieren, nur weil ein paar Frauen in Paris einen tragen. Sie müssten doch wirklich Wichtigeres zu tun haben!

Ich bin eindeutig gegen ein gesetzliches Verbot des Niqab. Falls die europäischen Regierungen sich aber dazu entschließen, dann sollten Muslime das einfach akzeptieren. Ohne Protest. Denn es ist keine große Sache, also sollten sie es auch nicht zu einer machen. Vor allem aber müssen beide Seiten einmal ganz tief durchatmen. Es ist nicht klug, den Gesichtsschleier zu tragen – und genauso unklug, ihn zu verbieten.

Interview: Stephanie Doetzer

© Qantara.de 2010

Mohamed El-Moctar El-Shinqiti (geboren 1966 in Mauretanien) arbeitet derzeit am Al Qaradawi Research Center der Islamischen Fakultät in Doha, Katar. Er war zehn Jahre lang der Direktor eines Islamischen Kulturzentrums in Texas und unterrichtete an der Al-Eman Universität im Jemen Koran-Exegese. Er forscht und publiziert über den Dialog zwischen der islamischen Welt und dem Westen, über islamische Denktraditionen und politische Bewegungen.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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