Tétouan: Zeugnis für Austausch und Verständigung

Im Gespräch mit Nathalie Galesne berichtet der marokkanische Historiker und Kenner der Medina von Tétouan, M’Hammad Bennaboud, über die wechselvolle Geschichte des Zusammenlebens der jüdischen und muslimischen Gemeinschaft in der nordmarokkanischen Stadt.

Von Nathalie Galesne

Auf welche Zeit gehen die jüdischen Gemeinschaften in Marokko zurück?

M’Hammad Bennaboud: Das hängt von der jeweiligen Region oder der Stadt ab. In einigen Gegenden leben Juden seit Tausenden von Jahren, in anderen erst seit einigen Jahrhunderten. Die Juden in Tétouan beispielsweise kamen mit den Arabern aus Andalusien, als diese im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert die Medina wieder aufbauten. Sie halfen, die andalusische Kultur zu verbreiten und die entsprechenden Traditionen und Überlieferungen aus Tétouan über Jahrhunderte hinweg zu bewahren. Die Medina wurde auch als "Die weiße Taube" bekannt, man bezeichnete sie aber auch als "Das kleine Jerusalem". Der jüdische Friedhof von Tétouan liegt genau gegenüber vom muslimischen. Die Anzahl jüdischer Einwohner in Marokko blieb jahrhundertelang sehr konstant.

Juden siedelten in Städten wie Tétouan, Fez, Tanger, Chefchaouen, Asilah, Rabat, Marrakesch und Essaouira, aber auch in ländlichen Gebieten wie in der zum Atlasgebirge gehörenden Gebirgskette des Rif.

Gab es eine Zeit, in der Juden Marokko massenhaft verließen, wie dies etwa in Algerien nach der Unabhängigkeit des nordafrikanischen Landes geschah?

Bennaboud: In den 1960er Jahren verließen viele Juden Marokko, um anderswo zu leben. Sie gingen nach Frankreich, Spanien, Kanada oder Venezuela, aber viele ließen sich auch in Israel nieder.

Marokko gilt als eines der wenigen arabischen Länder, das die Bedeutung der jüdischen Kultur für die eigene Identität anerkennt. Was heißt das in der Praxis?

Bennaboud: Es gibt marokkanische Muslime und marokkanische Juden. Die Bürger dieser beiden Glaubensrichtungen werden alle als Marokkaner angesehen und auch selbst empfinden sie sich als Marokkaner. Die Geschichte ihres Zusammenlebens reicht weit zurück. In politisch spannungsreichen Zeiten haben die Sultane von Marokko die Juden geschützt, wie es etwa Mohammed V. zur Zeit des Vichy-Staates tat, als Marokko noch ein französisches Protektorat war. Auch Hassan II. und sein Sohn, der jetzige König, haben die Haltung gegenüber den Juden nicht verändert.

Das Recht auf freie Ausübung ihrer Religion und Weitergabe ihrer religiösen Traditionen ist Teil der marokkanischen Verfassung. Die Juden haben ihre eigenen Schulen, ihre Synagogen usw. Viele von ihnen pflegen ihre marokkanischen Gebräuche auch heute noch in Israel: von der Musik über die Küche bis hin zu anderen Alltags-Gebräuchen. Die meisten der heute in Marokko lebenden Juden stehen dem Königshaus loyal gegenüber. Einige von ihnen hatten oder haben bis heute wichtige Posten inne, wie beispielsweise André Azoulay, Wirtschaftsberater von König Hassan II. und seines Nachfolgers Mohammed VI.; andere jüdische Mitbürger bekleideten wichtige Ministerposten.

Feierlichkeiten vor dme Beginn einer jüischen Pilgerreise zum Grab von Rabbi Amram ben Diwan in Asjen in Marokko; Foto: Abdelhak Senna/AFP/GettyImages
According to M'Hammad Bennaboud, Jews of Moroccan origin who come from Israel every year to visit the tomb of a saint, which is located in the Jewish cemetery of Tétouan. Here, Jewish people gather around a bonfire during a Jewish pilgrimage to the tomb of Rabbi Amram ben Diwan in Asjen, Morocco

Haben Sie noch persönliche Erinnerungen an frühere Zeiten der muslimisch-jüdischen Koexistenz in Tétouan?

Bennaboud: Ja, meine beiden Onkel, die erfolgreiche Händler waren, hatten wichtige jüdische Geschäftspartner, wie etwa die Messieurs Serfaty, Benatar und Hayoune. Sie empfingen diese oft in ihren Büros und luden sie zu sich nach Hause zum Essen ein. Meine Cousins gingen auf eine Schule der "Alliance Israélite Universelle" in Tétouan. Mehrere große Geschäfte in der Stadt gehörten Juden, darunter Juweliergeschäfte, Modehäuser und Läden für hochwertige Schuhe. Jüdische Frauen haben auch traditionelle Kleider hergestellt und unterhielten Kontakte zu muslimischen Frauen, die sie auch zu gemeinsamen Festen einluden. Die Juden nahmen also an allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten teil und wohnten im größten jüdischen Viertel von Marokko.

Wie stellt sich heute die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Tétouan dar? Lässt sich – genau wie in der nordmarokkanischen Hafenstadt Tanger – ein Rückgang der jüdischen Einwohnerzahl feststellen?

Bennaboud: Die jüdische Gemeinde von Tétouan ist sogar noch kleiner geworden als die von Tanger. Heute lebt nur noch etwa ein Dutzend von ihnen in der Stadt. Der Repräsentant der jüdischen Gemeinde, Monsieur Momo Hayoune, ist weit entfernt von dem spirituellen und gesellschaftlichen Einfluss, den frühere Vertreter der Gemeinde besaßen. Einige Rabbiner hatten großes soziales Prestige – und dies keineswegs nur innerhalb der jüdischen Gemeinde, sondern auch bei den Spaniern und Muslimen.

In welche Länder wanderten marokkanische Juden aus und pflegen sie von dort aus noch den Kontakt zu ihrer Gemeinschaft in Marokko?

Bennaboud: Viele Juden aus Tétouan gingen nach Madrid und in andere europäische Städte, nach Kanada und Lateinamerika. Wenn sie Tétouan heute besuchen, tun sie das mit einigem Wehmut. Es gibt auch Juden marokkanischer Herkunft, die jedes Jahr aus Israel kommen, um das Grab eines Tzadik (ein angesehener, rechtschaffener Mann im chassidischen Judentum) zu besuchen, das sich auf dem jüdischen Friedhof von Tétouan befindet. Rabbi Bengualid etwa ist sehr angesehen und seine Heimatsynagoge in der Mellah, im jüdischen Viertel der Stadt, ist ein Museum, das von der marokkanisch-jüdischen Gemeinde unterhalten wird. Auch einige Juden aus der spanischen Enklave Ceuta kommen nach Tétouan – die Entfernung beträgt schließlich nur rund 40 Kilometer. Ich glaube, dass die Juden von Tétouan in vielem ihren muslimischen Mitbürgern ähneln. Auch viele Muslime haben die Stadt verlassen, was letztlich zu einer gewaltigen Veränderung der sozialen Struktur nach der Unabhängigkeit geführt hat.  

War Tétouan früher eine solch kosmopolitische Stadt wie Tanger?

Muslime und Juden vor dem Bab Elmellah Eingangsportal der marokkanischen Stadt Fez; Foto: DW/B. Elasraoui
Morocco has a long history of peaceful co-existance between Jews and Muslims. According to M'Hammad Bennaboud, At difficult times in the country's history, the sultans of Morocco protected the members of its Jewish community. Pictured here: Muslims and Jews standing in front of the "Bab Elmellah" Gate in Fez

Bennaboud: Tanger verdankte seinen kosmopolitischen Charakter dem internationalen Status, den die Stadt seit 1923 besaß. Damit hatte Tanger ein Alleinstellungsmerkmal unter allen anderen Städten Marokkos. Tétouan pflegte schon immer enge Kontakte zu Spanien, nicht nur wegen der Herkunft eines Großteils seiner Bewohner und den Verbindungen zu Andalusien, sondern auch wegen der Besetzung durch die spanische Armee 1860 und seiner Rolle als Hauptstadt des spanischen Protektorats im Norden Marokkos sowie der Sahara zwischen 1912 und 1956.

Die spanische Gemeinschaft war äußerst wichtig. Nur 40 Kilometer von Ceuta entfernt, verfügt Tétouan auch heute noch über ein spanisches Konsulat, drei spanische Schulen, eine Zweigstelle des "Instituto Cervantes", ein spanisches Krankenhaus, ein dichtes Netz an Handelskontakten nach Ceuta und einige spanischsprachige Fernsehsender und Radiostationen. In der Stadt wird viel Spanisch gesprochen und viele der Einheimischen interessieren sich für die Primera División, die erste spanische Fußballiga, und vor allem für Real Madrid und den FC Barcelona. Der Unterschied zwischen Tanger und Tétouan liegt vor allem darin, dass die Zahl der Spanier hier größer ist als die jeder anderer europäischer Zuwanderer.  

Sehnen Sie sich nach der Zeit zurück, in der Juden und Muslime gemeinsam in der kosmopolitisch geprägten Vergangenheit lebten?

Bennaboud: Wir können die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Sicher war es eine schöne Zeit, aber heute leben wir nun mal in einer anderen Epoche. Aber man muss auch sehen, dass die Veränderungen, denen die Stadt in den letzten Jahrzehnten ausgesetzt war, nicht sich nur auf das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden ausgewirkt haben. Die Stadt hat sich in vielerlei Hinsicht dramatisch gewandelt: sozial, kulturell, wirtschaftlich und auch in Bezug auf die Kunst. Heute ist es ihre strategische Lage, die der Stadt ein kosmopolitisches Gepräge verleiht. Wir müssen deshalb in die Zukunft sehen.

Interview: Nathalie Galesne

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

© Babelmed/Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de