"Bildung ist die zentrale Herausforderung für Muslime in Indien"

Maulana Kalbe Sadiq gehört zu den wichtigsten schiitischen Gelehrten in Indien. Im Interview mit Yoginder Sikand spricht er über Bildungskonzepte muslimischer Gelehrter und die unter ihnen verbreitete Abneigung, sich den Herausforderungen für Muslime zu stellen.

Sie sind Religionsgelehrter und gleichzeitig auch engagiert in der Förderung moderner Bildung in den Reihen der Muslime. Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach die Rechtsgelehrten im Bildungsbereich übernehmen?

Maulana Kalbe Sadiq: Ich denke, dass Bildung zu den größten Herausforderungen für Muslime in Indien gehört. Wir müssen diesen Bereich zu unserer höchsten Priorität machen. Imam Ali, der Schwiegersohn des Propheten, sagte einst, dass jemand, der überhaupt nichts weiß, zu seinem eigenen Feind wird. Gleichfalls gibt es einige Geistliche, die nichts über moderne Bildung wissen und sie daher ablehnen. Diese Minderheit wird jedoch immer geringer.

Andererseits trifft die Aussage Imam Alis auch auf jene zu, die über "modernes" Wissen verfügen, aber nichts über die Religion wissen. Diese Menschen beginnen dann damit, Religion abzulehnen, zu leugnen und sie als Zeichen von Rückständigkeit zu werten.

Ich persönlich sehe mich zwischen diesen beiden Extremen. Ich denke, dass unser Überleben unabdingbar mit erstklassigen Leistungen in moderner Bildung zusammenhängt. Aber ich möchte auch unterstreichen, wie wichtig religiöses Wissen ist. Mit Wissenschaft und Technologie kann man die Welt beherrschen, mit wahrer Religion jedoch beherrscht man sich selbst, seine eigene Seele.

Die "Sachar Commission", die von Premierminister Manmohan Singh einberufen wurde, erarbeitete einen Report über den Status indischer Muslime in den Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft und Bildung. Das Ergebnis war, dass Muslime, was Bildung und andere Bereiche angeht, noch schlechter gestellt sind als die Kaste der Unberührbaren, der Dalits. Daher appelliere ich an die Muslime, um Gottes Willen ihre Augen zu öffnen!

In den heutigen Zeiten kommt es nicht darauf an, prunkvolle Moscheen zu bauen. Wir müssen unsere Ressourcen dafür nutzen, Schulen, Hochschulen, Technische Fachhochschulen und Forschungsinstitute aufzubauen. Ich meine auch, dass vieles, was im Namen der Religion unterrichtet wird, nichts mit wahrer Religion oder Spiritualität zu tun hat. Wahrer Religion wohnen Werte inne, nicht nur Rituale.

Bedauerlicherweise basiert jedoch vieles von dem, was im Namen religiöser Erziehung vermittelt wird, auf Ritualen und berücksichtigt nicht die grundlegenden Werte wahrer Religion. Die Koranschulen müssen ihren grundlegenden Ansatz ändern, wir müssen dringend den Idschtihad, also die kreative Reflektion pflegen, um den Herausforderungen der Gegenwart ins Auge zu sehen.

Die schiitische Rechtsschule der Dschafariten, die Sie vertreten, lässt im Gegensatz zu vielen sunnitischen Gelehrten den Idschtihad zu.

Sadiq: Ja, in unserer Rechtslehre stand man dem Idschtihad stets offen gegenüber, so dass unsere führenden Geistlichen mittels des Idschtihad flexibel auf aktuelle Themen antworten können. Aber es gibt auch in den Reihen sunnitischer Gelehrter viele, die dafür plädieren, den Idschtihad erneut einzuführen. Das könnte bald geschehen, wenn nicht heute, dann morgen. Denn die Rechtslehre kann angesichts einer sich ständig und rasant verändernden Umwelt nicht tatenlos bleiben.

Islamische Bildung, sei es in Indien oder anderswo, ist von einem sehr starken Dualismus geprägt. Da sind zum einen die Gelehrten der Madrasas und zum anderen die "moderne", gebildete Mittelschicht. Wie kann dieser Dualismus überwunden werden?

Sadiq: Zurzeit gibt es kaum irgendwelche Beziehungen zwischen diese beiden Gruppen, da es auf beiden Seiten erhebliche Bedenken und Befürchtungen wie auch Missverständnisse gibt. Wir müssen die Vorteile beider Bildungssysteme herausheben und versuchen, diese miteinander zu verbinden.

Imam Ali sagte seinem Sohn Hazrat Muhammad Bin Hanafiya, dass jemand, der in ein anderes Land geht, sich nicht selbst isolieren sollte. Er riet dazu, seine Werte zu bewahren, dennoch aber die guten Dinge anzunehmen, die man bei den Menschen seiner neuen Umwelt findet. Dementsprechend sollten Muslime sowohl im Bildungsbereich als auch in anderen Bereichen die Vorzüge von anderen übernehmen. Daran ist nichts falsch.

Was sollte Ihrer Meinung nach der Staat für die Bildung von Muslimen tun?

Sadiq: Muslime haben gegenüber der Regierung eine sehr hohe Erwartungshaltung, die Regierun ist aber sehr korrupt. Wir haben keine echte Demokratie in Indien. Wirkliche Demokratie bedeutet, die Rechte von Minderheiten zu schützen. Sie bedeutet aber nicht die rohe Gewalt der Mehrheit.

In Indien werden den Minderheiten keinerlei Rechte gewährt. Von der Regierung jedoch zu erwarten, dass sie allein die Verantwortung dafür trägt, die Bildungsprobleme der Muslime zu lösen, fordert etwas, was sogar Gott nicht erlaubt.

Im Heiligen Koran sagt Gott, dass er nicht die Lebensumstände der Menschen ändert, sofern sie sich nicht selbst darum bemühen, diese aus eigener Kraft zu verändern. Wenn Muslime also von der Regierung erwarten, dass sie ihre Politik ändert, sie selbst aber nicht geneigt sind, etwas zu ändern oder Positives und Konstruktives für ihre Gemeinschaft zu tun, dann leben sie in einer Traumwelt.

Welche Rolle könnten oder sollten Ihrer Meinung nach die Rechtsgelehrten dabei übernehmen, Harmonie zwischen den Konfessionen und Gemeinschaften in Indien zu fördern?

Sadiq: Was das angeht, so besteht ihre erste Pflicht darin, Muslime nicht zur Gewalt aufzurufen, sondern diese auf jeden Fall zu vermeiden. Ebenso müssen sie versuchen, den Dialog und die Einigkeit zwischen den verschiedenen muslimischen Konfessionen voranzubringen. Dabei sollten sie sich auf jene Dinge konzentrieren, die diese Konfessionen gemeinsam haben.

Wenn ich diese Gemeinsamkeiten in Zahlen ausdrücken sollte, so wären das über 97 Prozent. Die Rechtsgelehrten sollten davon absehen, die restlichen drei Prozent zu missbrauchen, um die Unterschiede der Konfessionen zu betonen.

Bezüglich des interreligiösen Dialogs meine ich, dass die muslimischen Rechtsgelehrten und Geistlichen anderer Religionen diesen mit Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit vorantreiben müssen.

Sie leben in Lucknow, wo es zu Konflikten zwischen Schiiten und Sunniten kam. Inwiefern haben die schiitischen und sunnitischen Geistlichen vor Ort versucht, diese Konflikte zu entschärfen? Gibt es Beziehungen zwischen den Einrichtungen und Koranschulen der jeweils anderen Seite, gibt es einen Austausch von Meinungen?

Sadiq: Wir haben es hier mit einem erheblichen Mangel an Kommunikation zwischen den unterschiedlichen muslimischen Richtungen zu tun. Ich bin bislang der einzige Geistliche in Lucknow, der die Einrichtungen der anderen muslimischen Rechtsschulen besucht hat.

In Ihren Reden nehmen Sie stets darauf Bezug, wie notwendig soziales Engagement für die Geistlichen ist. Sie selbst sind in eine Anzahl von Gemeindeprojekten, besonders im Bildungsbereich, involviert. Welche Rolle können Sie sich diesbezüglich für die Geistlichen vorstellen?

Sadiq: Der Heilige Koran sagt uns, dass wir jene Dinge außer Acht lassen sollen, die für die Leute keinerlei Nutzen haben. Demnach müssen wir ein sozial motiviertes Verständnis des Islam entwickeln, dass uns dazu befähigt, Menschen konkret zu helfen. Andernfalls wird uns die Jugend fragen, warum wir prunkvolle Moscheen bauen, aber nichts für die Armen tun, wenn doch der Grundsatz des Islam lautet, Menschen in Not zu helfen.

Das bedeutet, dass die Rechtsgelehrten sich stärker als jetzt sozial engagieren müssen. Sie müssen ihre Moscheen, Koranschulen und Versammlungsorte verlassen und sich zwischen die Menschen begeben, um deren wirtschaftliche und soziale Probleme zu begreifen und nach praktischen Lösungen dafür zu suchen. Leider haben jedoch die meisten Gelehrten diese Verantwortung vergessen und beschränken sich darauf, dem Gebet vorzustehen und Fatwas zu erlassen.

Interview: Yoginder Sikand

Aus dem Englischen von Helene Adjouri

© Yoginder Sikand 2007

Maulana Kalbe Sadiq leitet mehrere Schulen und Hochschulen und ist Vizepräsident des "All India Muslim Personal Law Board", der führenden Organisation muslimischer Gelehrter in Indien.

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